Scholz: Russland muss „Vereinbarung“ treffen, die die Ukrainer akzeptieren können

Bundeskanzler Olaf Scholz verlangt als Antwort auf Putin eine EU ohne „Blockaden“ und „Vetos“, die also als „geopolitischer Akteur“ auftritt. Von der Unverletzlichkeit der ukrainischen Staatsgrenzen ist keine Rede, sondern von einer akzeptablen „Vereinbarung“ mit Russland.

IMAGO / Mike Schmidt
Bundeskanzler Olaf Scholz, 14.07.2022

Die Deutschen haben sich nach 16 Jahren Angela Merkel vermutlich abgewöhnt, umwerfende Reden oder Texte von ihren Regierungschefs zu erwarten. Was Olaf Scholz in einer zweifellos dramatischen politischen Situation nun in der FAZ unter dem Titel „Nach der Zeitenwende“ anbietet, ist geradezu aufreizend langweilig. Er beginnt schon im ersten Satz mit einer der abgedroschensten Politiker-Phrasen („Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“), um dann bis zum Ende einen einschläfernden Merkel-Sound durchzuhalten. Etwa indem er behauptet, „wir“ würden „stärker und unabhängiger aus der Krise hervorgehen, als wir hineingegangen sind“. Eine neue Beigabe von Scholz (oder womöglich seines Sprechers Steffen Hebestreit) ist nur die auch hier wiederholte pseudo-patriotische Wendung: „Wir müssen zusammenhalten und uns unterhaken“.

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Erst in der zweiten Hälfte stecken Aussagen. Allerdings solche, die maskiert daherkommen. Der einzige Abschnitt, der bei Diplomaten in Kiew, Moskau und anderswo aufmerksam gelesen werden dürfte, lautet: „Für Russland führt kein Weg vorbei an einer Vereinbarung mit der Ukraine, die von den Ukrainerinnen und Ukrainern akzeptiert werden kann.“ Entscheidend ist, was hier fehlt: nämlich die Forderung eines Rückzugs der russischen Truppen aus ukrainischem Territorium. Zuvor stellt Scholz nur unkonkret fest: „Wir unterstützen die Ukraine – und zwar solange sie diese Unterstützung braucht: wirtschaftlich, humanitär, finanziell und durch die Lieferung von Waffen.“ Aber nirgendwo steht, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität wieder herstellen soll und wird. 

Das kann man als indirektes Eingeständnis oder gar Zugeständnis an Russland begreifen, dass dieser Krieg durchaus mit territorialen Veränderungen auf der Landkarte einhergehen dürfte. Eben eine „Vereinbarung“, die von den Ukrainern akzeptiert werden kann. 

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Womöglich ist es genau das, was Scholz in den Absätzen danach meint, wenn er umständlich schreibt, es sei „zu Recht gefordert worden, die EU müsse zum geopolitischen Akteur werden“. Also die EU als ein Akteur, der auch die politische Geographie zu verändern in der Lage ist? Scholz’ Verständnis des Begriffs der „Geopolitik“, der eine höchst zwiespältige, manchmal wissenschaftlich-neutrale, oft aber auch moralisch verurteilende Bedeutung trägt, bleibt unklar. Aber vermutlich ist diese Unklarheit beabsichtigt. Sie könnte dazu beitragen, allmählich den Boden zu bereiten für die bislang tabuisierte Möglichkeit der Akzeptanz gewaltsam verschobener Grenzen.    

Diese Unklarheit der Begriffe in Scholz’ Text beginnt schon zuvor mit der Feststellung im dritten Satz: „Der Imperialismus ist zurück in Europa“. Natürlich ist Russlands Aggressionskrieg gegen die Ukraine gemeint. Dass Putin ein Verständnis von Russland als übernationales Imperium hat, ist wohl kaum zu bestreiten. Aber der Begriff „Imperialismus“ wird in der Geschichtswissenschaft nicht mit Bezug auf innereuropäische multinationale Reichsbildungen verwendet, sondern für das außereuropäische, koloniale Expansionsstreben europäischer Staaten vor allem im 19. Jahrhundert. Und es war und ist vor allem ein Begriff der linken, sozialistischen Kritik an dieser vermeintlich kapitalistisch motivierten Expansionspolitik europäischer Staaten (auch demokratischer!) in außereuropäische Regionen.

Den Begriff des „Imperialismus“ zur Bezeichnung von Putins Aggressionspolitik zu verwenden, dürfte für Scholz also vor allem den Zweck haben, das eigene Parteilager hinter sich zu bringen. „Imperialisten“ waren für Linke, einschließlich vieler Sozialdemokraten, immer die historischen Feinde an der Macht im eigenen Land und vor allem in den USA. Für Lenin galt bekanntlich „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, wie er 1916 im Schweizer Exil schrieb.

Scholz schreibt: „Putins Neoimperialismus darf keinen Erfolg haben.“ Und er stellt diesem eben die Europäische Union entgegen, die „zum geopolitischen Akteur werden“ müsse. Die EU sei „die gelebte Antithese zu Imperialismus und Autokratie“, schreibt Scholz. 

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Doch die konkreten Forderungen für die EU, die Scholz erhebt, weisen eher in eine andere Richtung: Nicht staatliche Vielheit und dezentrale Entscheidungsstrukturen, die eigentlich das Gegenteil eines Imperiums bedeuten, wünscht sich Scholz für die EU und den Westen, sondern: „Schluss mit den egoistischen Blockaden europäischer Beschlüsse durch einzelne Mitgliedstaaten. Schluss mit nationalen Alleingängen, die Europa als Ganzem schaden. Nationale Vetos, etwa in der Außenpolitik, können wir uns schlicht nicht mehr leisten, wenn wir weiter gehört werden wollen in einer Welt konkurrierender Großmächte.“  

Man könnte zugespitzt folgern, dass diese „geopolitische“ Union, die sich Scholz als Gegengewicht zum autokratischen Reich Putins wünscht, selbst Eigenschaften eines – allerdings demokratischen – Imperiums aufweist. In einem Imperium haben schließlich die einzelnen politischen Teile auch kein Recht zu „Alleingängen“ und „egoistischen Blockaden“. Es wäre eine der dialektischen Ironien der Geschichte, wenn ausgerechnet die Gegnerschaft zu einem bedrohlichen Imperium die EU dazu verleitet, selbst Züge eines Imperiums anzunehmen.

Den kompletten Beitrag des Kanzlers finden Sie hier

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Kommentare ( 74 )

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Grenz Gaenger
2 Jahre her

„Es kann nicht sein,…“ Sieht man doch, dass es sein kann – besonders dann, wenn sich eine Seite (hier Schland) von Naivität, Wunschdenken & linken Träumereien leiten läßt und nur die finanziellen Vorteile sehen will, aber nicht die damit eingegangenen Abhängigkeiten. Hätte doch jedem vernünftig denkenden Politiker einleuchten müssen, dass man auf einem Bein nicht lange stehen kann, Weiß jeder erfolgreiche Kaufmann: nie nur auf einen Lieferanten setzen. Was Ihre herbeigewünschte Diplomatie angeht: die wurde seitens des Westen über zahlreiche Besuche im Kreml heftigst bemüht, bei denen Allen bis zum Stichtag versichert wurde, Russland würde die Ukraine nicht überfallen: „nur… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Grenz Gaenger
Matt
2 Jahre her

Fox News erklärte Henry Kissinger vor wenigen Tagen, dass die Vereinigten Staaten eine Eroberung ukrainischen Territoriums durch Russland nicht zulassen könnten, da dies ein Angriff auf die Grundfeste der NATO sei. Der aktuelle Stellungskrieg mit verhärteten Fronten erinnere an den Ersten Weltkrieg und werde bald – spätestens im August – von neuen Offensiven abgelöst, so der ehemalige US-Außenminister. Und dann seien “große Entscheidungen zu treffen”. Der serbische Präsident Aleksandar Vuvic am 14. Juli in russischen Medien: “Ich weiß, was auf uns zukommt. Sobald Wladimir Putin seine Arbeit in Sewersk, Bakhmut und Soledar getan hat, nachdem er die zweite Linie Slawiansk-Kramatorsk-Awdejewka… Mehr

Ralf Poehling
2 Jahre her

Es ist Zeit erwachsen zu werden…
Die EU braucht die Freiheit ihrer Mitgliedsvölker (ich sage ganz bewusst Völker!) nach innen und brachialste Abschreckung nach außen.
Nach innen ein friedliches und freiheitliches Biotop, nach außen ein massives Bündel an geladenen Eisenrohren voller Blei.
Die Festung Europa muss ein Bollwerk der Freiheit gegen die Unfreiheit sein!

Peter Klaus
2 Jahre her

Er steht nicht auf russischer Seite. Er steht nicht auf ukrainischer Seite. Und er steht erst recht nicht auf deutscher Seite. Auf wessen Seite steht er denn eigentlich? Wessen Interessen vertritt er?

Brauer
2 Jahre her

Unglaublich….Von der Leyen will die EU-Länder zum Gas sparen zwingen

sunnyliese
2 Jahre her

Ganz ehrlich, das wird hier nicht gern gehört, aber das hätte man auch schon vor dem Krieg mit Russland klar machen können, denn dann hätte es den erst gar nicht gegeben.

Vermesser17
2 Jahre her

SCHOLZ ist eine Witzfigur, die bei den Drohungen Moskaus artig mitspielt. PUTIN droht mit Kernschlag und SCHOLZ hilft, den Deutschen dann Angst zu machen. So wie alle Hardcore-SPDler. Das ist ihre Aufgabe im Rahmen der COMINTERN – die Steigerung der Macht Moskaus.

Wäre SCHOLZ tauglich, würde er einen Kernschlag auf Moskau androhen. Er würde (analog zu PUTIN) in einem TORNADO des Luftwaffen-Geschwader 33 einen Einsatz-Übungsflug mit scharfer(aber nicht freigeschalteter) B61 mitmachen. Alles vor laufender Kamera. Muss ja kein Tiefflug mit hoher g-Belastung sein, das kann man ja vorher ohne Kamera alles abstimmen.

Last edited 2 Jahre her by Vermesser17
alter weisser Mann
2 Jahre her
Antworten an  Vermesser17

Für den Kernschlag braucht man Kernwaffen und Scholz hat nichtmal den olle B61 was zu sagen.
Und ja ja, die g-Kräfte beim Tiefflug sind schon was besonderes ….oder doch nicht?

HPK
2 Jahre her

Sehr geehrter Herr Kraus, Dieser Satz in Ihrem Kommentar: „Entscheidend ist, was hier fehlt, nämlich die Forderung eines Rückzugs der russischen Truppen aus ukrainischem Territorium“, ist total realitätsfern.
Unüberlegte Aussagen, um nicht zu sagen unverantwortliches dummes Geschwätz, wie von Frau Bearbock*in in de Welt hinaus posaunt: „Wir wollen Russland ruinieren“ (gleichzusetzen mit vernichten/zerstören), sind nicht dazu angetan um zu Friedensverhandlungen zu kommen.
Bevor das geschieht was Frau Bearbock*in will wächst in der Ukraine kein Gras mehr und Deutschland und die Rest-EU werden nicht in der Lage sein auch nur einen einzigen Euro Wiederaufbauhilfe für die Ukraine zu leisten.
HPK

Howard B.
2 Jahre her

„Für Russland führt kein Weg vorbei an einer Vereinbarung mit der Ukraine, die von den Ukrainerinnen und Ukrainern akzeptiert werden kann.“ Lachhaft. Als ob die Ukrainerin oder der Ukrainer irgendetwas zu sagen haben, wenn es sich nicht um Oligarchen und die von ihnen gesponsorten Truppen handelt. Und natürlich der Präsident im T-Shirt. Und die USA und die „Verbündeten“, die Waffen liefern und Milliarden verdienen. Versuchen Sie einmal in der Ukraine etwas ohne kleine Aufmerksamkeit zu erreichen. Nur zu. Man sollte die Ukraine als das sehen, was sie ist: Ein hochkorruptes Land. Es ist ein „failed state“, dem man die Mitgliedschaft… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Howard B.
moorwald
2 Jahre her

Scholz redet hier offenbar einem Zentralstaat Brüsseler Machart das Wort. Seine Herabsetzung der Nationalstaaten als egoistische Quertreiber läuft wohl auf Mehrheitsbeschlüsse als das Normale hinaus. Anders könnte die EU nicht zum geopolitischen Akteur werden. Nun, dazu wird es nie kommen. Vielmehr werden wir ein Erstarken zentrifugaler Kräfte erleben. Die EU scheitert ja schon im Fall Ukraine, wo Putin bestimmt nicht daran denkt, dieses merkwürdige Gebilde, das sich so gern als Staat geriert, ohne ein solcher zu sein, an den Verhandlungstisch zu bitten. Hingegen wird er nicht vergessen, wie der Westen indirekt mittels Waffenlieferungen gegen Rußland agiert hat. Abgerechnet wird zum… Mehr

Last edited 2 Jahre her by moorwald
Thorsten
2 Jahre her
Antworten an  moorwald

Die Abschaffung des Nationalstaates innerhalb der EU verfolgen nur die traumtänzerischen Deutschen.
Ähnliches habe ich noch nicht von den Franzosen oder Italienern gehört. Ausser es geht ums Geld …

Vermesser17
2 Jahre her
Antworten an  moorwald

Ohne die US Army und Air Force wäre die EU schon längst Teil des Moskauer Imperiums. Militärisch ist die EU komplett unfähig, zerstückelt und auch unwillig. Mental nicht fähig, die eigenen Interessen mit Waffen zu verteidigen. Die deutsche Luftwaffe schämt sich, Kernwaffenträger und deren Einsatzfähigkeit zu haben. Russland stellt stolz seine Kernwaffen vor. Deutsche Soldaten haben Angst vor dem Krieg und im russischen Fernsehen wird über eine Eroberung Deutschlands laut nachgedacht. Schwäche zieht den Krieg an ! Die Franzosen zeigen manchmal Anzeichen der Wehrhaftigkeit, wollen dann aber doch mit 52 in Rente. Die EU ist doch nicht mal willig, ihre… Mehr

Last edited 2 Jahre her by Vermesser17
moorwald
2 Jahre her
Antworten an  Vermesser17

Es ist sehr die Frage, was Rußland mit einer eroberten EU anfangen sollte. Wahrscheinlich ist eine militärisch schwache, aber wirtschaftlich noch immer starke EU eher in Moskaus Interesse. Nur Großbritannien ist von allen europäischen Staaten noch wirklich verteidigungsfähig. Hat ja in seiner langen Geschichte auch nur eine Invasion erlebt. Der auch heute noch große Vorteil der Insellage. Und Deutschland wird niemals Verfügungsgewalt über Kernwaffen („atomare Teilhabe“) haben. Da passen die anderen auf, bei denen das letzte, wenn auch gescheiterte Eroberungsabenteuer der Deutschen ein essential jedenfalls unumstößlich verankert hat:“Nie wieder!“ – Die jetzige, hochgradig wahnhafte Innen-und Wirtschaftspolitik Deutschlands bestätigt dem Ausland:… Mehr

Last edited 2 Jahre her by moorwald
Grenz Gaenger
2 Jahre her
Antworten an  Vermesser17

„Schwäche zieht den Krieg an“
Auf den Punkt gebracht. Möchte aber (nicht nur hier) kaum Einer wahrhaben.
Dann doch lieber mit Putin kuscheln – vielleicht gibt er uns dann einen Wohlgefälligkeitsrabatt auf das liebgewonnene, preiswerte Gas.