Der Ukraine-Krieg könnte für Putin eine ähnlich fatale Wirkung haben wie der Erste Weltkrieg für den letzten Zaren. Wenn sich einige Tendenzen in der russischen Armee fortentwickeln, könnte der Putinismus bald Geschichte sein.
Es ist nur eine grausige individuelle Nachricht aus einem Krieg, in dem täglich zahlreiche Grausamkeiten geschehen. Aber vielleicht eine, die den Zustand der russischen Armee drastisch vor Augen führt: Der Fahrer eines Panzerfahrzeugs soll seinen eigenen Regimentskommandeur, den Oberst Juri Medwedew, überrollt haben. Der Soldat habe damit gegen die zahlreichen Verluste protestieren wollen. So sei seine Einheit von 1.500 Mann bereits auf die Hälfte dezimiert worden.
Die Nachricht verbreitete der ukrainische Journalist Roman Tsimbaliuk zuerst auf Facebook. Sie wurde schließlich von der britischen Boulevardzeitung Daily Mail aufgegriffen. Ob der Fahrer dies wirklich absichtlich tat, lässt sich kurzfristig ebensowenig verifizieren, wie die meisten Nachrichten unmittelbar aus dem Kampfgeschehen. Medwedew Beinverwundung jedenfalls zeigten auch schon Bilder der Kadyrow-Tschetschenen, die auf russischer Seite kämpfen, und den Oberst versorgten.
— Victor Kovalenko (@MrKovalenko) March 23, 2022
Letztlich ist es auch egal, ob der Fahrer absichtlich den Oberst überrollte. Die Nachricht bleibt dieselbe: Russische Soldaten überfahren sich gegenseitig – ob mutwillig oder aus Unfähigkeit. Und sie passt in das Bild, das sich nach einem Monat Ukrainekrieg aus dem Nebel des Kampfgeschehens abzeichnet. Die Bild fasst es in die saloppen Worte, es laufe „für den Kreml-Diktator an allen Fronten richtig mies“.
Heute liest man von zerstörten russischen Schiffen und von zurückeroberten Dörfern. Sogar das tagelang umkämpfte Irpin, nordwestlich von Kiew, soll nun wieder ganz in ukrainischer Hand sein.
Natürlich betreiben auch der ukrainische Generalstab und ukrainische Journalisten Propaganda. Aber sie können nicht drastisch lügen, wenn sie nicht ihre Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung und der Truppe verlieren wollen. Die Geschichte der Kriegspropaganda zeigt, dass diese meist nah an der Kriegswirklichkeit ist, wenn es gut läuft, und konkrete konkrete Meldungen über eingenommene Ortschaften sind im allgemeinen nicht völlig erlogen. Die ukrainischen Soldaten wissen im Zweifelsfall selbst am besten, ob sie ein Dorf eroberten oder nicht. Dass es für eine Kriegspartei schlecht läuft, erkennt man meist daran, dass ihre Propaganda keine konkreten Aussagen macht, sondern sich in allgemeinen Behauptungen, Durchhalteparolen und Beschimpfungen des Feindes erschöpft.
Das Institute for the Study of War kam am 22. März zum Schluss, dass im Ukrainekrieg eine Pattsituation, („Stalemate“) erreicht war. Also eine Lage, in der keine Seite die Frontlinien mehr deutlich verschieben kann. „Die Russen“, so schreibt der Analyst des Instituts, „haben nicht die Fähigkeit, in kurzer Zeit viel frische effektive Kampfkraft in den Kampf zu bringen. Die Art von Mobilisierungen, an denen die Russen teilnehmen, werden frühestens in Monaten neue Kampfkraft erzeugen. Sofern nicht etwas Bemerkenswertes passiert, um die Pattsituation zu durchbrechen, die sich jetzt einstellt, wird die Pattsituation wahrscheinlich Monate andauern.“
Nur vordergründig erscheint Russland in einer solchen Lage als stärker. Wenn die Nato die Ukraine weiterhin mit Waffen versorgt, dürfte diese den längeren Atem haben. Und zwar sowohl was die Motivation und die Zahl der Kämpfer angeht, als auch vor allem, was die Versorgung mit Waffen, Munition und anderem Nachschub angeht.
Der frühere estnische Geheimdienstchef und Politiker Eerik-Niiles Kross verbreitet einen Scherz aus Moskau: „Laut Putin ist die militärische Spezialoperation in Wirklichkeit ein Konflikt zwischen Russland und der NATO um die Weltherrschaft. Wie ist die Lage jetzt?“ „Russland hat 15.000 Soldaten, 6 Generäle, 500 Panzer, 3 Schiffe, 100 Flugzeuge und 1000 Lastwagen verloren. Die NATO ist noch nicht eingetroffen.“
Existentielle Wahrheiten lassen sich auch in Russland nicht völlig von den Menschen fernhalten. Ob an der Front in der Ukraine oder in Russland selbst wird immer mehr Russen klar werden, dass dieser Angriffskrieg nicht nur ein verbrecherischer Akt historischer Dimension ist, sondern sich zu einem Desaster auch für die Angreifer, also sie ganz persönlich, entwickelt hat.
Westliche Analysten und ukrainische Kriegsberichterstatter sind sich mittlerweile weitgehend einig: Der Ukrainekrieg, der von Putin begonnen wurde, um ein anderes Land zu verschlingen, hat sich gegen ihn selbst gewendet. Er ist in der Situation des Lyderkönigs Krösus, dem geweissagt wurde, ein Reich zu zerstören, wenn er sein Nachbarreich angreife: Es sollte sein eigenes sein.
Der Krieg kann noch lange dauern, und die Siegeszuversicht Selenskyjs und der Ukrainer ist ungebrochen und sie ist begründet. Sofern der Westen weiter Waffen liefert und die Wirtschaft von Putins Reich durch Sanktionen schwächt, spielt die Zeit jetzt für die Ukrainer. Selenskyj kann sein ganzes Volk weitgehend uneingeschränkt für den Krieg mobilisieren, weil es hinter ihm steht. Im Grunde sind alle Reservisten und Wehrpflichtigen einsetzbar. Putin kann schon die Berufssoldaten, die für ihn kämpfen, immer weniger motivieren, und je mehr junge Russen er zwangsweise an die Front zu schicken wagt, desto mehr bringt er seine Herrschaft in Gefahr.
Seit Tagen häufen sich immer neue Nachrichten über Desertionen an der Front, aber auch über bisherige Spitzenkräfte seines Regimes, die ihm und Russland den Rücken kehren, zuletzt sein langjähriger Wirtschaftsberater Anatoli Tschubais. Seit Tagen wird auch gerätselt, wo Verteidigungsminister Sergei Schoigu steckt. Man muss also kein großer Kreml-Kenner sein, um wie Norbert Röttgen zu behaupten: „Für Putin geht es jetzt schon um alles.“
Ein Putsch aus den Geheimdiensten oder anderen Stützen seiner Herrschaft ist nur die eine Gefahr, die Putin droht, wenn man dort realisiert, dass man von Putin nichts als einen aussichtslosen Krieg und ewige Schande zu gewärtigen hat. Die Herrschaft könnte Putin auch an der Basis der bewaffneten Organisationen buchstäblich entgleiten: Womöglich könnte sich auch beides gegenseitig verstärken.
Putin hat seinen Krieg mit einem bizarren historischen Narrativ begonnen. Lenin und sein angeblicher Fehler, die Ukraine zu einer eigenen Sowjetrepublik zu machen, spielten darin eine Hauptrolle. Der Pseudohistoriker Putin hätte sich vielleicht lieber gründlicher mit der Vorgeschichte befassen sollen. Die Herrschaft des letzten Zaren Nikolaus II. brach nämlich 1917 zusammen, weil ihm nach militärischen Niederlagen im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn die Soldaten wegliefen. Damals taten ganze Truppenteile, was heute in der Ukraine nur einzelne tun: Sie desertierten und meuterten. In „Dr. Schiwago“ ist dieser Kipppunkt eindrücklich dargestellt, an dem die Soldaten beschließen, dass der wahre Feind die eigene Führung ist.
Sobald der erste Angriffsbefehl von russischer Soldaten in der Ukraine nicht ausgeführt wird oder sich Polizisten geschlossen weigern, ihre eigenen demonstrierenden Mitbürger zusammenzuprügeln, ist der Putinismus ebenso Geschichte wie die Zarenherrschaft.
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Die vielen Naiven in unserm Land weise Ich auf eine Aussage von Egon Bahr hin. der im Jahre 2013 bei einem Gespräch mit Schülern auf folgendes hinwies:
„In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“
Der Abgesang erscheint verfrüht. Ich habe seit Kriegsbeginn erwartet, dass die Bedrohung der nicht beherrschbaren Großstädte im Norden, die man dann auch noch versorgen müsste, sich als Ablenkungsmanöver entpuppen. Wenns trotz überschauberem Einsatz gelingt, ok, wenn nicht auch ok, weil man eh anderswo hinzielt. Die ohnehin verlangten Gebiete Luhansk und Donzek werden eingenommen und bis zum Dneprbogen ein Faustpfand für Verhandlungen besetzt (wenn es die ganze Südküste bis Transnistrien geworden wäre hätten die Russen das auch gern). Für den gewünschten Druck zu Verhandlungen sorgen Beschießungen und Bombardierungen. Das tut im Zweifel sogar weher als die kampflose Besetzung einer Stadt. Insofern… Mehr
„Man muss also kein großer Kreml-Kenner sein, um wie Norbert Röttgen zu behaupten: „Für Putin geht es jetzt schon um alles.“
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Da könnte sich die Weisheit von Charles Maurice de Tallyrand einmal mehr bewahrheiten:
„Kein Abschied auf der Welt fällt schwerer als der Abschied von der Macht.“
Und darüber hinaus könnte der „Arme“ noch nicht einmal nach dem Westen abhauen, um dort seine „Rente“ zu genießen!
„Putin wird nicht die Ukraine vernichten, sondern seine eigene Herrschaft.“ Wer sollte Putin vom Thron stürzen? Mit Sicherheit keiner der ihm nahesteht. Im Gegenteil, alle Staaten um ihn herum, sind genau so organisiert wie Russland, und deren Führer werden ihm wohl klammheimlich die Daumen drücken. Die Länder ,welche sich wirklich für die Ukraine einsetzen, sind die EU , mit der Handbremse die USA und noch ein paar kleine Staaten. Vor allem wird es den USA wehtun, wenn die Russen demnächst ihr Öl auf Rubelbasis verkaufen. Das werden sie versuchen zu verhindern Am Ende wird nicht Putin „Vernichtet” sondern wieder einmal… Mehr
Putin handelt meiner Meinung nach nicht als Putin, sondern im Namen Russlands. Keine dortige Regierung wird sich ohne weiteres auf das Format einer Mittelmacht herabstufen lassen, was das Ziel Obama/Biden- Amerikas ist. 2014 ging es im Hinblick auf die Krim (deren fast heimliche Übergabe an die Ukraine durch einen Schnellbeschluss Chruschtschows völkerrechtlich wohl kaum in Ordnung war) schief, diesmal machte man einen weiteren Zugriff auf die Innenpolitik der Ukarine. Schaut man auf die Karte, hat das russische Heer spezielle Gebiete besetzt, wahrscheinlich geht es gar nicht um Kiew. Es ist ein Krieg Bidens und seiner HIntermaänner/frauen, den die Ukrainer kämpfen.… Mehr
Ich mag nicht glauben, dass die russische Armee nicht in der Lage ist, die Ukraine zeitnah einzunehmen. Vielleicht will man das auch gar nicht. Mit der Invasion hebt man den Konflikt in der Ukraine auf eine neue Stufe und zwingt den Westen vorhersehbar so zu handeln, wie er es tut. Und dann Gas und Öl nur noch in Rubel zu liefern ist ein genialer Schachzug, der auf den Petrodollar und auf die Vorherrschaft des Westens insgesamt abzielt. Dass Saudi-Arabien nicht mehr ans Telefon geht und Öl in Yuan handeln will, geht in dieselbe Richtung. Die Welt sortiert sich neu, der… Mehr
Merkwürdigerweise sind Analysen, mittels derer man sich ein nüchternes Bild von der Lage und den Interessen der Beteiligten machen kann, sehr sehr dünn gesäht, kaum irgendwo zu finden. Stattdessen allerorten die Geschichte vom irren Iwan, dessen Herrschaft gerade den Bach heruntergeht. Seit dem offen militärischen Beginn der Ukrainekrise habe ich keine einzige Nachrichtensendung im TV geschaut.
Putin denkt in imperialen und machtpolitischen und nicht in historischen Kategorien. Für jemanden der so tickt ist an der Geschichte nur relevant was sie ihm an Machtsicherungs- und Erweiterungsstrategien zu bieten hat. „Historische“ Argumente sind lediglich Nebelgranaten im Propagandakrieg. Denn man muss den Gegner verwirren und schwächen und die eigenen Ressourcen bei der Stange halten. Schließlich wäre auch Alexander von Makedonien als ein Mann Truppe nicht weit gekommen. Komischerweise haben aber viele Menschen ein Problem zu erkennen das andere Menschen völlig anders auf die Welt blicken als sie selbst. Und so lange kein pathologischer Schaden vorliegt (was bei Machtmenschen fast… Mehr
„Sofern der Westen weiter Waffen liefert und die Wirtschaft von Putins Reich durch Sanktionen schwächt, spielt die Zeit jetzt für die Ukrainer.“ Eine sehr gewagte Prognose.
Was haben denn die jahrelangen Sanktionen gegen Putin vollbracht ? Eine Schwächung war nirgends erkennbar.
Woher nimmt der Autor die Gewißheit das dies nun anderster wäre ? Nur weil es McDonalds und Coca Cola nicht mehr gibt.
Russland sitzt auf der neuen Währung, und die nennt sich Rohstoffe. Wer sie hat, diktiert. Dies hat der Großteil des Westens (noch) nicht verstanden.
Ach Herr Knauss, sie glauben an einen Putsch, einen Militärischen sogar oder der Abwahl bei der nächsten Wahl? Vergessen sie es denn die Selbstüberschätzung der EU Staaten, selbst der Nato ist Grenzenlos. Ich verrate ihnen auch noch etwas, die Welt besteht nicht nur aus USA, Nato und EU es gibt noch andere Staaten und die wägen ihre Interessen genau ab. Die lassen sich nicht in diesen Krieg mit all den Sanktionen hineinziehen sondern werden sogar bestrebt sein ihren Vorteil daraus zu ziehen. Nicht alle Staaten sind USA hörig und erpressbar wie die EU. Letztendlich haben sie viele Worte geschrieben die… Mehr
Die meisten Länder wären froh wenn bei dieser Gelegenheit die USA etwas zurück gestutzt wird. Die Alternative heißt zukünftig China. Der Verlierer, da preiswerte Rohstoffe für die Produktion fehlen, wird Deutschland sein. In der Speisefolge sind wir das Dessert.
Sorry, Korrektur:“ Kanzler Scholz lehnt Ultimatum Putins ab“