Putin wird nicht die Ukraine vernichten, sondern seine eigene Herrschaft

Der Ukraine-Krieg könnte für Putin eine ähnlich fatale Wirkung haben wie der Erste Weltkrieg für den letzten Zaren. Wenn sich einige Tendenzen in der russischen Armee fortentwickeln, könnte der Putinismus bald Geschichte sein.

IMAGO / Cover-Images
Raketenangriff auf russische Panzer, der Ort wurde von der ukrainischen Armee nicht bekannt gegeben, 24.3.2022

Es ist nur eine grausige individuelle Nachricht aus einem Krieg, in dem täglich zahlreiche Grausamkeiten geschehen. Aber vielleicht eine, die den Zustand der russischen Armee drastisch vor Augen führt: Der Fahrer eines Panzerfahrzeugs soll seinen eigenen Regimentskommandeur, den Oberst Juri Medwedew, überrollt haben. Der Soldat habe damit gegen die zahlreichen Verluste protestieren wollen. So sei seine Einheit von 1.500 Mann bereits auf die Hälfte dezimiert worden.

Die Nachricht verbreitete der ukrainische Journalist Roman Tsimbaliuk zuerst auf Facebook. Sie wurde schließlich von der britischen Boulevardzeitung Daily Mail aufgegriffen. Ob der Fahrer dies wirklich absichtlich tat, lässt sich kurzfristig ebensowenig verifizieren, wie die meisten Nachrichten unmittelbar aus dem Kampfgeschehen. Medwedew Beinverwundung jedenfalls zeigten auch schon Bilder der Kadyrow-Tschetschenen, die auf russischer Seite kämpfen, und den Oberst versorgten. 

— Victor Kovalenko (@MrKovalenko) March 23, 2022

Letztlich ist es auch egal, ob der Fahrer absichtlich den Oberst überrollte. Die Nachricht bleibt dieselbe: Russische Soldaten überfahren sich gegenseitig – ob mutwillig oder aus Unfähigkeit. Und sie passt in das Bild, das sich nach einem Monat Ukrainekrieg aus dem Nebel des Kampfgeschehens abzeichnet. Die Bild fasst es in die saloppen Worte, es laufe „für den Kreml-Diktator an allen Fronten richtig mies“.

Heute liest man von zerstörten russischen Schiffen und von zurückeroberten Dörfern. Sogar das tagelang umkämpfte Irpin, nordwestlich von Kiew, soll nun wieder ganz in ukrainischer Hand sein.

Natürlich betreiben auch der ukrainische Generalstab und ukrainische Journalisten Propaganda. Aber sie können nicht drastisch lügen, wenn sie nicht ihre Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung und der Truppe verlieren wollen. Die Geschichte der Kriegspropaganda zeigt, dass diese meist nah an der Kriegswirklichkeit ist, wenn es gut läuft, und konkrete konkrete Meldungen über eingenommene Ortschaften sind im allgemeinen nicht völlig erlogen. Die ukrainischen Soldaten wissen im Zweifelsfall selbst am besten, ob sie ein Dorf eroberten oder nicht. Dass es für eine Kriegspartei schlecht läuft, erkennt man meist daran, dass ihre Propaganda keine konkreten Aussagen macht, sondern sich in allgemeinen Behauptungen, Durchhalteparolen und Beschimpfungen des Feindes erschöpft.

Das Institute for the Study of War kam am 22. März zum Schluss, dass im Ukrainekrieg eine Pattsituation, („Stalemate“) erreicht war. Also eine Lage, in der keine Seite die Frontlinien mehr deutlich verschieben kann. „Die Russen“, so schreibt der Analyst des Instituts, „haben nicht die Fähigkeit, in kurzer Zeit viel frische effektive Kampfkraft in den Kampf zu bringen. Die Art von Mobilisierungen, an denen die Russen teilnehmen, werden frühestens in Monaten neue Kampfkraft erzeugen. Sofern nicht etwas Bemerkenswertes passiert, um die Pattsituation zu durchbrechen, die sich jetzt einstellt, wird die Pattsituation wahrscheinlich Monate andauern.“  

Nur vordergründig erscheint Russland in einer solchen Lage als stärker. Wenn die Nato die Ukraine weiterhin mit Waffen versorgt, dürfte diese den längeren Atem haben. Und zwar sowohl was die Motivation und die Zahl der Kämpfer angeht, als auch vor allem, was die Versorgung mit Waffen, Munition und anderem Nachschub angeht.

Der frühere estnische Geheimdienstchef und Politiker Eerik-Niiles Kross verbreitet einen Scherz aus Moskau: „Laut Putin ist die militärische Spezialoperation in Wirklichkeit ein Konflikt zwischen Russland und der NATO um die Weltherrschaft. Wie ist die Lage jetzt?“ „Russland hat 15.000 Soldaten, 6 Generäle, 500 Panzer, 3 Schiffe, 100 Flugzeuge und 1000 Lastwagen verloren. Die NATO ist noch nicht eingetroffen.“

Existentielle Wahrheiten lassen sich auch in Russland nicht völlig von den Menschen fernhalten. Ob an der Front in der Ukraine oder in Russland selbst wird immer mehr Russen klar werden, dass dieser Angriffskrieg nicht nur ein verbrecherischer Akt historischer Dimension ist, sondern sich zu einem Desaster auch für die Angreifer, also sie ganz persönlich, entwickelt hat.  

Westliche Analysten und ukrainische Kriegsberichterstatter sind sich mittlerweile weitgehend einig: Der Ukrainekrieg, der von Putin begonnen wurde, um ein anderes Land zu verschlingen, hat sich gegen ihn selbst gewendet. Er ist in der Situation des Lyderkönigs Krösus, dem geweissagt wurde, ein Reich zu zerstören, wenn er sein Nachbarreich angreife: Es sollte sein eigenes sein. 

Der Krieg kann noch lange dauern, und die Siegeszuversicht Selenskyjs und der Ukrainer ist ungebrochen und sie ist begründet. Sofern der Westen weiter Waffen liefert und die Wirtschaft von Putins Reich durch Sanktionen schwächt, spielt die Zeit jetzt für die Ukrainer. Selenskyj kann sein ganzes Volk weitgehend uneingeschränkt für den Krieg mobilisieren, weil es hinter ihm steht. Im Grunde sind alle Reservisten und Wehrpflichtigen einsetzbar. Putin kann schon die Berufssoldaten, die für ihn kämpfen, immer weniger motivieren, und je mehr junge Russen er zwangsweise an die Front zu schicken wagt, desto mehr bringt er seine Herrschaft in Gefahr. 

Seit Tagen häufen sich immer neue Nachrichten über Desertionen an der Front, aber auch über bisherige Spitzenkräfte seines Regimes, die ihm und Russland den Rücken kehren, zuletzt sein langjähriger Wirtschaftsberater Anatoli Tschubais. Seit Tagen wird auch gerätselt, wo Verteidigungsminister Sergei Schoigu steckt.  Man muss also kein großer Kreml-Kenner sein, um wie Norbert Röttgen zu behaupten: „Für Putin geht es jetzt schon um alles.“

Ein Putsch aus den Geheimdiensten oder anderen Stützen seiner Herrschaft ist nur die eine Gefahr, die Putin droht, wenn man dort realisiert, dass man von Putin nichts als einen aussichtslosen Krieg und ewige Schande zu gewärtigen hat. Die Herrschaft könnte Putin auch an der Basis der bewaffneten Organisationen buchstäblich entgleiten: Womöglich könnte sich auch beides gegenseitig verstärken.

Putin hat seinen Krieg mit einem bizarren historischen Narrativ begonnen. Lenin und sein angeblicher Fehler, die Ukraine zu einer eigenen Sowjetrepublik zu machen, spielten darin eine Hauptrolle. Der Pseudohistoriker Putin hätte sich vielleicht lieber gründlicher mit der Vorgeschichte befassen sollen. Die Herrschaft des letzten Zaren Nikolaus II. brach nämlich 1917 zusammen, weil ihm nach militärischen Niederlagen im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn die Soldaten wegliefen. Damals taten ganze Truppenteile, was heute in der Ukraine nur einzelne tun: Sie desertierten und meuterten. In „Dr. Schiwago“ ist dieser Kipppunkt eindrücklich dargestellt, an dem die Soldaten beschließen, dass der wahre Feind die eigene Führung ist.

Sobald der erste Angriffsbefehl von russischer Soldaten in der Ukraine nicht ausgeführt wird oder sich Polizisten geschlossen weigern, ihre eigenen demonstrierenden Mitbürger zusammenzuprügeln, ist der Putinismus ebenso Geschichte wie die Zarenherrschaft.

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