Vor, während und nach Wahlen wird das Politikgeschehen von Institutionen bestimmt, die im Grundgesetz nicht vorkommen. "Kanzlerkandidat", "Regierungsauftrag" und "Koalitionsvertrag" sind Erfindungen der Parteiführungen und Medien, die sich eine Interpretationsmacht anmaßen, die ihnen nicht zusteht.
Alle vier Jahre wieder beschäftigt sich das Konglomerat aus Parteipolitikern und Politikjournalisten, das mal jemand ganz treffend als „Raumschiff Berlin“ bezeichnete, monatelang mit drei Einrichtungen, die es eigentlich nicht gibt, genauer gesagt: die im Grundgesetz oder anderen rechtlichen Grundlagen unseres Staates nicht erwähnt sind, also staatsrechtlich eigentlich keine Bedeutung haben. Die Parteien haben sie erfunden, die Medien nehmen sie dankbar auf (denn für sie wurden sie erfunden), und das (Wahl-)Volk akzeptiert sie als Quasi-Institutionen der deutschen Politikwirklichkeit.
Es beginnt mit der parteiinternen Kür eines so genannten Kanzlerkandidaten. Auf die Idee, den Wählern einen solchen zu präsentieren, kam in Deutschland erstmals die SPD vor der Wahl von 1961, um Willy Brandt gegen Amtsinhaber Konrad Adenauer in Szene zu setzen. In den Jahren und Jahrzehnten zuvor war unausgesprochen mehr oder weniger klar, dass eine regierende Partei ihren Vorsitzenden zum Kanzler zu machen vesuchte. Klaus Schütz hatte, wie Egon Bahr berichtete, das mobilisierende Potenzial eines ganz auf einen Kopf zugeschnittenen Wahlkampfs in den USA erkannt. Mit dem schließlich auch von dort übernommenen Fernsehduell wurde dann in den Köpfen der deutschen Wähler endgültig die Vorstellung verankert, dass sie einen Kanzler wählen könnten.
Die Grünen haben sich in diesem Jahr bekanntlich an diese Idee erinnert. Der große Unterschied: Die von der „Kanzlerkandidatin“ Annalena Baerbock begeisterten öffentlich-rechtlichen (und auch die privaten) Fernsehduell-Macher haben die Grüne ohne hörbaren Widerspruch von irgendjemandem zwischen Scholz und Laschet in ihrem „Triell“ platziert. Außer einem zwischenzeitlichen Höhenflug in den Umfragen (die bekanntlich auch in Grund- und Wahlgesetz nicht erwähnt sind) gab es dafür keine Grundlage. Die Grünen waren im Bundestag nicht einmal größte Oppositionspartei.
Dass den Grünen die entsprechende Medienpräsenz großen Wahlkampfnutzen verschaffte, ist wohl kaum zu bezweifeln. Ihre Agenda – Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz – bestimmt ohnehin die gesamte Sachpolitik vor und nach der Wahl.
Warum waren die anderen kleinen Parteien so dumm, nicht auch Kanzlerkandidaten zu behaupten? Bei der FDP mag die Westerwelle-Erfahrung eine Rolle gespielt haben, bei der AfD die innere Zerrissenheit. Sie haben jedenfalls eine große Chance verpasst. In vier Jahren dürften sie das ändern. Die Sender wären dann in großer Verlegenheit, das Triell zu einem Quintell zu machen.
Die nächste Erfindung ist dann unmittelbar nach der Wahl der „Regierungsauftrag“. Auch den haben irgendwann findige PR-Spezialisten aus dem Ausland kurzerhand importiert. Er ist in einigen Monarchien ein Relikt aus alten Zeiten: Der Monarch gab in vordemokratischer Zeit einem Mann seiner Wahl den Auftrag als Ministerpräsident ein Kabinett einzurichten. Im Laufe der Parlamentarisierung wurde das dann zu einem formalen Akt, in dem der Monarch stets den Anführer der größten Partei beauftragte. In der monarchenlosen Bundesrepublik gibt es diese Einrichtung nicht.
Eine ähnliche Qualität wie der „Regierungsauftrag“ hat auch die schnell Behauptung, eine Partei sei „abgewählt“. Die Grünen-nahe Kampagne Campact hat diese Botschaft in großen Zeitungsanzeigen verbreitet:
Da der Kanzler in Deutschland nicht direkt gewählt wird, kann er auch nicht vom Wähler abgewählt werden. Die deutschen Wähler beauftragen niemanden mit der Regierungsbildung, sondern wählen Repräsentanten, die nach Mehrheiten suchen, schließlich einen Kanzler wählen, der dann Minister beruft und mit ihnen die Bundesregierung bildet. In das Wahlergebnis einen Willen des Wahlvolkes herein zu interpretieren, der über die Zusammensetzung des Parlamentes hinausgeht, ist eine Anmaßung. Und zwar eine, die in der unseligen Tradition der „volonté generale“ des Jean-Jacques Rousseau und seiner jakobinischen und marxistischen Bewunderer steht und in letzter Konsequenz von der pluralen, freiheitlichen Demokratie zur sogenannten Volksdemokratie führt, in der Kader-Politiker bestimmen, was gut für das Volk (heute meist: „die Menschen“) ist.
Natürlich liegt es nahe, dass die größte Fraktion auch den Kanzler stellt. Aber schon in der alten Bundesrepublik war das nicht immer der Fall: Die FDP koalierte 1976 lieber mit der SPD als mit der Union, obwohl die deutlich mehr Stimmen (heute unvorstellbare 48,6 Prozent) und Abgeordnetensitze verbuchte. Auch 1980 erhielten CDU und CSU deutlich mehr Stimmen als die SPD. Doch die FDP blieb – bis 1982 – in der Koalition mit der SPD.
Wie die beiden anderen Erfindungen ist auch der „Koalitionsvertrag“ ein relativ junges Phänomen und ein Indiz für den im Grundgesetz nicht vorgesehenen Machtzuwachs der Parteispitzen gegenüber den demokratischen, repräsentativen Einrichtungen.
Vor 1961 waren Koalitionsverträge unüblich. Informelle und unveröffentlichte Abmachungen in Form von Briefwechseln genügten den Parteiführern. Was die Regierungen vorhatten, verkündete der Reichs- oder Bundeskanzler in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Reichs- bzw. Bundestag.
1957 schlossen CDU/CSU und Deutsche Partei „Koalitionsvereinbarungen“, die nicht veröffentlicht wurden. Der erste schriftliche Koalitionsvertrag, der zwar nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, aber dann doch in der Presse landete, war der von 1961 zwischen Union und FDP. Er hatte ganze acht Seiten.
Dieser Umfang blieb über 20 Jahre einigermaßen konstant. Als 1982 Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ihre erste Regierungskoalition bildeten, reichten ihnen dazu noch 12 Seiten mit der prosaischen Überschrift: „Ergebnis der Koalitionsgespräche“. Es war eine Auflistung im knappen Nominalstil. Der letzte Koalitionsvertrag von 2017 hat 177 Seiten. Man wird bald wissen, ob der nächste wesentlich kürzer sein wird.
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Parteien gehören restlos als Politische Organisation abgeschaft. Profitorientierte Gebilde die ein rationales interesse an ausbeutung des Volkes und einer korrumpierung der Gewaltenteilung haben. Kein Steuergeld für Parteien. Freies Mandat radikaler auslegen.
Unter einem Grünen Diktat wird das Leben karger, ärmlicher, unfreier, unsicherer – und vor allem teurer.
Die Parteien (und die ihr nahestehende Journaille) haben sich Deutschland unter den Nagel gerissen und haben das Konzept der Gewaltenteilung schon längst ausgehebelt. »Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely» (Lord Acton)
Historisch sind Einparteien-Diktaturen bekannt. Der Weg Deutschlands scheint eher Richtung Vielparteien-Despotismus zu gehen. Alles wird politisiert, selbst ob man noch ein lumpiges Schnitzel essen darf. Solche Entwicklungen bezeichnet man allgemein als totalitär.
Danke Herr Knauss für diesen Staatsbürgerkunde-Unterricht. Jeder, der sich mit Politik ernsthaft beschäftigt, kennt die Zusammenhänge und weiß, dass es diese Erfindungen lt. GG gar nicht gibt und nur den Parteien und den Medien nützen. Aber wer hat in Staatsbürgerkunde schon aufgepasst, und wen haben politische Zusammenhänge unseres GG überhaupt jemals interessiert? Viel wichtiger ist den Deutschen doch, wie ein BVB gespielt hat oder ob eine Helene Fischer schwanger ist. Also machen die Parteien auf Personenkult und die Medien freut es, anstatt ernsthaften Journalismus und Aufklärung wie Sie zu betreiben. Man kann den Spuk zumindest um den „Kanzlerkandidaten“ nur dadurch… Mehr
Lieber Herr Knauss, formal- und verfassungsrechtlich haben Sie sicher recht, dass es in Deutschland keinen „Kanzlerkandidaten“ gibt. Doch ich finde diesen Hinweis etwas spitzfindig und inzwischen auch als running gag langweilig. Selbstverständlich hat man mit der Stimme für die SPD Scholz als Kanzler gewählt, zum Beispiel. Meinetwegen mitgewählt. Aber im Bewusstsein der Wähler spielt der Kandidat eine herausragende Bedeutung. Das Parteiprogramm kennen die wenigsten, wissend, dass es eh nur Papierwert hat. Aber mit dem Kandidaten verbindet man eine bestimmte Politik. Kann man ihn nicht leiden, wählen viele oft nicht die entsprechende Partei, siehe Laschet. Oder Baerbock, die die Grünen nach… Mehr
Der ganze Kram mit „Sondierungsgesprächen“ und „Koalitionsvereinbarungen“ wird von den Medien hochgejubelt, um zu vernebeln, dass es noch stärker als je zuvor um Posten und Pöstchen geht. Zum Wohl des Bürger ist da rein gar nichts. Was immer für ein Mischmasch an Parteien zusammenkommen wird als „Regierung“, es wird schrecklich werden. Am wenigsten schrecklich wäre eine erneute GroKo. Nicht das, was ich mir wünsche, aber wengistens wären die Grünen außen vor. Ebenso die opportunistische FDP, die, nachdem Lindner vor vier Jahren seine Beteiligung hochmütig abgelehnt hatte, nun doch gierig nach den Futtertrögen strebt. Dass Scholz mit Grünen und Gelben anbandelt,… Mehr
Also ich habe kein Problem mit Kanzlerkandidat, Regierungsauftrag und Koalitionsvertrag. Mich stören nur die politischen Inhalte der Wahlsieger.
Und was ist das Ergebnis all dieser Geschwätzrunden? Es geht weiter wie bisher, nur dass wir unsere Geldbörsen noch weiter öffnen dürfen oder müssen. Da kommen für den benötigten Energieverbrauch, also Strom, Benzin und Heizung, locker 100 Euro zusätzliche Belastungen auf uns Bürger zu. Dazu noch Inflation von rund 5%, also nochmal locker ein 50er im Monat. Ach ja, die „Grundsteuerreform“ sorgt auch noch für zusätzliche Gerechtigkeit, also mehr Belastungen. Hurraaa, alle jubeln, denn wir retten mit all den Dingen das Klima, retten alle zu uns kommenden Schutzsuchenden, retten den Euro und Europa. Da und dort noch ein neuer Gedenktag,… Mehr
Der Kanzler kann zwar vom Volk außerhalb der Wahlen nicht abgewählt werden, aber es gibt das „Konstruktive Misstrauensvotum“.
Ja, von WEM soll das bitte kommen wenn die alle, ausser der Giftpartei, in einer grünroten Suppe schwimmen?
Wie die Geschichte gezeigt hat, bringt auch das konstruktive Misstrauensvotum einen Kanzler nicht unbedingt zu Fall. Wäre es anders, hätte nicht Helmut Schmidt die Nachfolge Brandts nach dessen Rücktritt angetreten, sondern schon Rainer Barzel durch Abwahl des Amtsinhabers.
Fühlte man sich durch als ungerecht empfundene Behandlung beschwert, pflegte man füher zu sagen, „Es gibt ja noch das Reichskammergericht!“
Dessen allermeiste Fälle warten noch heute auf ihre Abarbeitung. Ähnlich lange dürfte der nächste Kanzlersturz auf sich warten lassen.
Mein „Schluß“ den ich mit Blick auf ihren Bekannten ziehen würde ist: Kein Einzelfall! 😉