Der wahlkämpfende NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst demonstriert eine erstaunliche Wurstigkeit gegenüber seinen eigenen Aussagen – und Unkenntnis über die bundesrepublikanische Einwanderungsgeschichte.
Zu den beliebtesten Politikerphrasen gehört die Aufforderung, „nach vorne zu schauen“. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst, derzeit im Landtagswahlkampf, verwendet diese Phrase im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung – verbunden mit der Empfehlung, die Fehler der Vergangenheit auf sich selbst beruhen zu lassen: „Wir sollten mit Angela Merkels Regierungszeit selbstbewusst umgehen. Was passiert, wenn man sich allzu lange mit sich selbst beschäftigt, kann man an der SPD sehen, die jahrelang über die Agenda 2010 gestritten hat.“ Im selben Interview blickt er dann allerdings doch mehrfach zurück – auf sich selbst und die Geschichte seines Landes.
Wüst galt einmal als eher Konservativer, oder versuchte sich zumindest 2007 so darzustellen in einer eher unbeholfenen Schrift – „Moderner bürgerlicher Konservatismus – Warum die Union wieder mehr an ihre Wurzeln denken muss“ –, sich gemeinsam mit anderen damaligen Nachwuchshoffnungen (Stefan Mappus!) als solcher zu inszenieren. Als ihn die NZZ jetzt darauf anspricht, lacht er und sagt: „Vielleicht muss ich das Papier wieder einmal lesen.“ Konservatismus als lächerliche Jugendsünde? Schon bemerkenswert, wie gering ein Ministerpräsident das eigene programmatische Denken offenbar einschätzt.
Aber nicht nur der Wüst von 2007 scheint dem Wüst von 2022 fremd geworden zu sein. Selbst der Wüst von vor ein paar Tagen wird durch den topaktuellen Wüst relativiert. Nachdem er noch vor kaum einer Woche das Modellprojekt der Stadt Köln für Muezzin-Rufe kritisierte, weil „damit möglicherweise mehr Streit in die Gesellschaft getragen als der Integration gedient wird“, sagt er jetzt: „Ein Muezzin-Ruf kann ein Beitrag zur Integration sein, man muss bei seiner Einführung umsichtig vorgehen, indem man die Angelegenheit breit diskutiert und sich in einer Kommune eng abstimmt.“ Aus einem Streitpotenzial wird also durch breit Diskutieren und eng Abstimmen ein „Beitrag zur Integration“? Wüst traut der Lokalpolitik offenbar Wundertaten zu.
Und dann kommt die bemerkenswerteste Aussage des Ministerpräsidenten: „Die Zuwanderung von Menschen unterschiedlichen Glaubens ist bereichernd und hat in Nordrhein-Westfalen eine lange Geschichte. Das deutsche Wirtschaftswunder wäre ohne die Einwanderinnen und Einwanderer gar nicht möglich gewesen.“
Wüst verbreitet dadurch eine Legende, die gerade unter türkischstämmigen Zuwanderern oft zu vernehmen ist und auch wiederholt von deutschen Politikern bestätigt wird, obwohl sie offensichtlicher Unsinn ist. Aber auch Wirtschaftslenker scheinen oft zu glauben, dass Einwanderung stets ein Wirtschaftswunder auslöst, wie etwa Dieter Zetsche 2015 prophezeite. Tatsächlich ist es eher umgekehrt: Wirtschaftliche Dynamik lockt Einwanderer an und diese verstärken dann die Dynamik – wenn bestimme Voraussetzungen auf beiden Seiten erfüllt sind.
Historische Tatsache ist, dass die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, also der damals sogenannten Gastarbeiter, erst einsetzte, als das deutsche Wirtschaftswunder längst im Gange war, nämlich ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Das Wirtschaftswachstum war der Grund für den Bedarf nach Arbeitskraft und natürlich auch der Grund für Deutschlands Attraktivität als Zuwanderungsland – nicht umgekehrt. Das Wirtschaftswunder war „Auslöser der Anwerbung“, wie der Politologe Stefan Luft in der Bundeszentrale für Politische Bildung“ schreibt. Das Trümmerdeutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit vor dem Wirtschaftswunder war kein Land, in das Nicht-Deutsche einwandern konnten oder wollten. Die Millionen Einwanderer in die Bundesrepublik, die auch schon vor dem ersten Anwerbevertrag mit Italien 1955 kamen, waren heimatvertriebene Deutsche aus den verlorenen Ostgebieten des untergegangenen Reiches und anderen früheren Siedlungsgebieten Osteuropas – und bis zum Mauerbau 1961 Flüchtlinge aus der DDR.
Die große Mehrheit der „Gastarbeiter“ kam erst in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik, als das Wunder schon Wirklichkeit und bereits ein erhebliches Wohlstandsniveau erwirtschaftet war – aber weiteres Wachstum durch fehlende Arbeitskraft ausgebremst zu werden drohte. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wurde 1961 geschlossen, das mit Marokko 1963 und das mit Tunesien 1965. Zuvor, also in der eigentlichen Wirtschaftswunder-Zeit, hatte es keine umfangreiche Zuwanderung von Muslimen in die Bundesrepublik gegeben. Selbstverständlich trugen die nach diesen Abkommen eingewanderten Türken, Tunesier und Marokkaner maßgeblich zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung bei – nach dem Wirtschaftswunder.
Das schmälert selbstverständlich in keiner Weise die Arbeits- und Lebensleistung der Zugewanderten. Aber die Unkenntnis bei Politikern und Entscheidungsträgern über die Bedingungen und Kausalitäten der Einwanderungswirklichkeit der Bundesrepublik schmälert die Voraussetzungen dafür, dass Integration tatsächlich gelingt.
Für Hendrik Wüst, der wegen einer Affäre um die Vermittlung von Gesprächsterminen für Unternehmen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers 2010 schon mal den Posten als Landesgeneralsekretär aufgeben musste, gilt dasselbe wie für alle anderen Politikern: Die Vergangenheit kann man nicht ändern, aber man muss sie kennen und verstehen, weil sie die Wirklichkeit bedingt. Wer sie umzuschreiben versucht, leistet nie einen guten Dienst für die Zukunft.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
Danke, für diese wichtige, sachliche und gleichzeitig in jeder Hinsicht um Fairness bemühte Richtigstellung, Herr Knauss!
Der letzte und ich glaube einzige CDU´ler der länger als eine Amtszeit in NRW geschafft hat, war ein gewisser Arnold von 1947 bis 1956. Wenn die CDU es schafft hier mal den Ministerpräsidenten zu stellen, gibt´s kein zweites Mal. Sogar der olle Clement von der SPD war in seiner selbstherrlichen neoliberalen Art den NRW´lern zuwieder und mußte nach der ersten Runde gehen. Der Laschet hatte für einen CDU´ler hier noch die meisten Freunde, da er ganz anders war als der Röttgen. Aber nun ist er bei der Bundestagswahl verschlissen worden. Wirklich bedauerlich, denn mit rot kommt ja inzwischen immer auch… Mehr
Ein Herr Wüst von der CDU lässt die Legende einer Frau Roth(Grüne) wieder aufleben, dass Einwanderer aus Anatolien am deutschen Wirtschaftswunder nach dem Krieg entscheidenden Anteil hatten. Klasse!
Geschichtsfälschung und Demokratieverständnis nach Gutsherrenart sind leider längst deutscher Alltag und hat mit dem, was immer im Geschichtsunterricht mit schönen Worten behauptet wurde, nichts mehr gemein. Heute stellen die Steinmeiers, Wüst und Co. Behauptungen zur Rolle der GAST-Arbeiter in den Raum und Medien und das dumme Wahlvolk plappern es nach. So wird z.B. auch zum Thema Demokratie in der jüngsten Ausgabe der Parlamentszeitschrift „Landtag intern NRW“ stolz von einer Ukraine-Ausstellung berichtet und der Kampf um Demokratie IN DER UKRAINE in allerhöchsten Tönen gelobt. Dieselbe Politikerkaste in NRW verhöhnt aber die Demokratie im eigenen Land. Denn in derselben Zeitschrift beklagt sich… Mehr
Ich spreche dem Großteil der heutigen Spitzenpolitiker in Deutschland den Bildungsgrad ab, den sie bräuchten, wollte man den Stuss, den sie erzählen, als Lüge auffassen. NRW geht seit vierzig Jahren den Bach runter. Das hängt auch damit zusammen, dass zwar die SPD jahrzehntelange die Spitzenposten dominierte, die CDU aber bestens mitverfilzt war und von der SPD kontinuierlich mit milden Gaben bedacht wurde.
Daß Stockdummheit vorherrscht, ist klar, aber selbst eine Amöbe dürfte merken, daß sie lügt. Keine Entschuldigung.
Eben haben wir ja das Gerede zu 20 Jahren Erfurt-Amok, die da beim „Qualitätsjournalismus“ bekommen gar nicht genug davon, ein rundweg abstoßender Berufsstand, TE und andere Kollegen ausgenommen, ich meine den Haltungsjournalismus.
Eben gerade im DLF der Begriff „Klimajournalismus“. Das sagt schon genug.
Im Jahre 2022 ist es BRD-Staatsdoktrin, dass „Gastarbeiter:innen dieses Land wieder aufgebaut haben“ (alles brav in Gender-Schreibweise). Es wird von der BRD-Nomenklatura (Steinmeier) und anderen Politikern behauptet, und im ÖRR sowieso.
In Wirklichkeit war die BRD natürlich bereits wiederaufgebaut, nachdem die ersten Gastarbeiter angeworben wurden. Zweck der „Übung“: Es sollen so umso leichter Forderungen der Migranten durchgesetzt bzw weitere Massenmigration in die BRD argumentativ unterfüttert werden.
Was Sie schreiben, lieber Herr Knauss, würde ich sogar zur Allgemeinbildung zählen. Offenbar gibt Wüst darin die eine oder andere Lücke zu erkennen. Die negative Auslese in der Politik erstaunt mich doch immer wieder von neuem, woher diese vielen Nullen kommen, die dort Karriere bis ganz nach oben machen. Obwohl diese negative Auslese eigentlich nicht verwunderlich ist, weil der eigene Preis für pol. Versagen in den letzten Jahren/Jahrzehnten immer geringer wurde und die Halbwertszeit von pol. (Total-)Versagern immer weiter stieg. Bei den kommenden NRW-Wahlen kann Wüst von mir aus auch abgewählt werden. Wer braucht einen solchen MP? Wer wählt sowas?… Mehr
Und was wäre die Alternative? Doch nicht etwa Kutschaty? Der hat schon unter der Putzfrauen-Koalition (Kraft/Lörmann) nachhaltig bewiesen, das er es als Justizminister nicht kann. Es ist ein Dummschwätzer vor dem Herrn! – Aber ich schätze, die grenzdebile Bevölkerungsmehrheit wird im Homeland NRW Rot-Grün zurück an die Macht wählen. CDU und FDP hatten gar keine Chance, alle Verwerfungen aus 40 Jahren Sozenpolitik zu korrigieren. Aber sie wollen es ja nicht anders….
Ohne Kenntnis der Vergangenheit – das gilt für jeden einzelnen von uns vor allem aber für verantwortliche Führungsspitzen aus Politik und Gesellschaft – kann es kaum Zukunft geben, denn wir alle brauchen sie als eine Basis, auf der man aufbauen und vor allem daraus lernen kann. Wie wenig bei unserer Politelite dieses Wissen vorhanden ist, dazu liefert Herr Wüst aktuell ein Beispiel. Sprechblasen haben nicht nur bei ihm Hochkonjunktur, aber es wird kommen wie immer: der Bürger setzt sein Kreuzchen wie gewohnt, das Ergebnis wird auch wie immer ein „weiter so“ oder schlimmer sein, besser kann es bei den zur… Mehr
Das Wirtschaftswunder wurde ausgelöst, weil sich in D, weil L. Erhard nach dem Krieg seine soziale Marktwirtschaft durchgesetzt hat gegen die Planwirtschaft. Die war nach dem Krieg durchaus parteiübergreifend im Gespräch.