Angela Merkel tat wieder, was sie am besten kann: Verwirren. Nach der Konferenz mit den Regierungschefs der Länder sagte sie: „Wir können uns auch ökonomisch eine zweite Welle nicht leisten“. Offensichtlich will sie damit die störrischen Länderregierungschefs und die deutsche Öffentlichkeit unter Druck setzen, strengere Corona-Maßnahmen durchzusetzen. Aber was heißt das eigentlich, was sie da sagt? Die immensen ökonomischen Einbußen der deutschen Volkswirtschaft (so wie in allen anderen Ländern auch) sind schließlich Folgen der politischen Maßnahmen?
Die Rezession und die staatlichen Stützungs- und Sozialleistungen folgten aus dem Lockdown im Frühjahr und anderen Maßnahmen wie den Einschränkungen für die Reisefreiheit und auch dem Maskentragen, das den Konsum schwächt. Es ist eben nicht in erster Linie das Virus, beziehungsweise die Krankheit selbst, die die wirtschaftlichen Einbußen bewirkt, sondern es sind die politischen Maßnahmen dagegen. Strengere Maßnahmen nun also ausgerechnet ökonomisch zu begründen – das ist schon ein außergewöhnliches kommunikatives Manöver.
Doch Merkel hat es offenbar geschafft, die Deutschen daran zu gewöhnen, noch den größten Widersinn gläubig hinzunehmen. Nach dem Motto des Kirchenvaters Tertullian: Credo quia absurdum est – ich glaube, weil es absurd ist.
Für Merkel ist das der kommunikative Ausweg aus dem fatalen Dilemma, in dem die Regierungspolitik in fast allen Ländern der ökonomisch entwickelten Welt stecken: Sie können auf die Dauer nicht beides: Die Pandemie nach den Maßstäben bekämpfen, die sie selbst vorgegeben haben, und den Wiederaufschwung der Wirtschaft nachhaltig (also ohne exorbitante Verschuldung) befördern. Die politischen Führungen fast aller Staaten Europas und der Welt haben sich mit ihren harten Anti-Corona-Maßnahmen im März nun selbst unter Zugzwang gesetzt. Der Weg zurück ist ihnen unter Risiko des Legitimationsverlustes versperrt.
Der Satz ist so unsinnig und so leicht zu widerlegen, dass man an Merkels Verstand zweifeln könnte. Aber weil sich das nicht gehört, nimmt man es eben hin im Politik-Betrieb – und installiert Corona-Maßnahmen unterhalb des Lockdowns. Also keine neuen Auflagen an die produzierende und dienstleistende Wirtschaft (von Gastronomie und Tourismus abgesehen) – zumindest nicht unmittelbar, denn mittelbar hängen natürlich auch viele andere Branchen davon ab, dass Menschen in Deutschland reisen, Essen gehen, sich außerhalb ihrer vier Wände amüsieren. Darum nun also alles, was darunter möglich ist: Maskenpflicht an öffentlichen Plätzen für alle Risikogebiete, Beherbergungsverbote und reichlich Appelle an die Bürger, vor allem die jungen, sich an die Regeln zu halten.
Dieses Phänomen der Corona-Angst ist natürlich nur in Gesellschaften möglich, die sich an das Verdrängen der ersten und wichtigsten Conditio Humana gewöhnt haben – nämlich dass Menschen nun mal sterben müssen mit einer mit zunehmendem Alter gegen 100 Prozent strebenden Wahrscheinlichkeit. Noch vor wenigen Generationen wäre eine Krankheit, an der in einer Stadt innerhalb mehrerer Monate rund ein Dutzend fast ausschließlich alte Menschen sterben, natürlich kein Grund gewesen, das gesellschaftliche und vor allem ökonomische Handeln einzuschränken, wie wir es heute tun.
Das ist kein Grund für einen leichtfertigen Umgang mit einer Infektionskrankheit, die durchaus mehr ist als ein Schnupfen und tödlich enden kann. Aber natürlich hinterfragen dennoch immer mehr Menschen, ob die ökonomischen Auswirkungen der politischen Schutzmaßnahmen und die Gefährlichkeit der Krankheit Covid-19 in angemessenem Verhältnis stehen. Und auch in der politischen Klasse selbst schimmert bisweilen durch, dass es möglicherweise nicht nur um die Gesundheit geht, sondern auch um die wichtigste Machtressource heutiger Politiker: die Glaubwürdigkeit und Legitimation vor ihrem Souverän, dem Volk. Auf die Idee könnte man etwa kommen, wenn FDP-Chef Christian Lindner im WDR von der „Gefahr für die Akzeptanz der Corona-Regeln“ sprich. Für wen ist das gefährlich? Doch wohl vor allem für diejenigen, die die Regeln machen…
Bedingung der Zustimmung ist aber auch, dass die ökonomischen Folgen der Politik für die meisten von denen, auf die es den Regierenden wohl in erster Linie ankommt, gering oder vielleicht sogar auf mittlere bis längere Sicht positiv sind. Und dass die meisten anderen die negativen Auswirkungen nicht spüren, zumindest nicht sofort.
Blickt man allein auf die wichtigsten Börsenindizies, ist die sogenannte V-Erholung eingetreten. Dem drastischen Einbruch der Aktienpreise durch die internationalen Lockdown-Maßnahmen im März, folgte eine nicht ganz so steile, aber rasche Erholung. Der Dax zum Beispiel pendelt in diesen Wochen um rund 13.000 Punkte, nicht weit unter dem Niveau der Monate vor dem Corona-Einbruch. Die Immobilienpreise implodieren auch nicht, und der Goldpreis steigt und steigt. Für die Vermögenden gibt es also keine ökonomische Krise.
Aber es wäre naiv, in dieser Finanzmarkt-Entwicklung ein Abbild der realen Wirtschaft erkennen zu wollen. Zu offensichtlich ist es doch, dass der Grund für die stabilen oder gar steigenden Vermögenspreise nicht im Vermögen selbst zu suchen ist (sonst gäbe es keine Rezession), sondern in der explosionsartig wachsenden Geldmenge, die einen Inflationsprozess auslöst, die kureben in der offiziellen Teuerungsrate nicht erfasst ist. Das neue Geld, dass die EZB und die anderen Zentralbanken durch Nullzinsen und Anleihenkäufe entstehen lassen, bleibt eben im Finanzsektor und sucht nach Anlagen, die dann die Vermögenspreise treiben.
Für alle, die als Lohnempfänger von der realen Wertschöpfung abhängig sind, sieht es nicht so rosig aus. Natürlich gingen nach dem scharfen, politikbedingten Einbruch im März alle volkswirtschaftlichen Indikatoren wieder nach oben. Es setzte, wie nach den Lockerungen der Corona-Maßnahmen nicht anders zu erwarten, eine Erholung ein. Aber Produktion und Konsum haben eben im Gegensatz zu den Vermögenspreisen längst nicht das Vor-Corona-Niveau erreicht. In ihrem Herbstgutachten revidieren die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Prognose für dieses und nächstes Jahr um jeweils gut einen Prozentpunkt nach unten. Sie erwarten nun für 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 5,4 Prozent (bislang -4,2%). Und aus den meisten Ländern, die Produkte deutscher Fabriken beziehen, kann der Exportweltmeister diesmal auch keine Hoffnung ableiten. Im Gegenteil: Vor allem die Emerging Markets stecken schon selbst tief in ökonomischen Krisen. Allein die Exporte nach Brasilien, Mexiko und Indien sanken in den ersten sieben Monaten des Jahres alle zwischen 26 und 29 Prozent.
Die Wiederaufstiegsstimmung, die die meisten Ökonomen und Politiker im Sommer verbreiteten, ist nicht mehr sehr verbreitet. Die Hoffnung des späten Frühlings und Sommers, dass der Spuk allmählich verschwindet und die Konjunktur parallel zu den Lockerungen zurückkommt, wird immer geringer. Angesichts eines polit-medialen Betriebes, der seit Wochen wie gebannt auf die wieder gestiegenen Infektionszahlen und einen Krisengipfel nach dem anderen starrt, ist das kein Wunder. Wirtschaft ist bekanntlich zu einem sehr großen Teil eine Funktion kollektiver Psychologie. Aber wie soll die schon aussehen, wenn wenn Journalisten und Politiker gleichermaßen immer wieder die Möglichkeit eines zweiten Lockdown in den Raum stellen.
Die ökonomisch ersten Leidtragenden der Corona-Politik sind also erneut vor allem Gastronomie und Tourismus. Natürlich ist die Krise dieser Branche zumindest im Touristen-Export-Land Deutschland auf den ersten Blick volkswirtschaftlich zu verkraften. „Die wirtschaftliche Erholung in Deutschland wird nicht davon abhängen, ob ich mir um 23 Uhr noch zwei Bier bestellen kann“, sagte ifo-Präsident Clemens Fuest kürzlich.
Aber so sicher kann man sich da vielleicht nicht sein. Denn die psychologischen und indirekten Auswirkungen dürften stärker sein als ein paar weniger verdiente Euros in Kneipen und Restaurants. Die Gastronomie ist auf den ersten Blick nur eine in Deutschland nicht allzu große Branche des Dienstleistungsgewerbes – und zwar eine, die strukturell von Kleinunternehmen geprägt ist, die im Gegensatz zu Großunternehmen keinen direkten Lobby-Zugang zur Politik haben und deren Pleiten keine Signalwirkung wie etwa der Konkurs eines Dax-Unternehmens haben. Aber: Erstens erzeugen viele Pleite gegangene Wirte und Hoteliers zusammen durchaus auch eine arbeitsmarktlicht Katastrophe. In Urlaubsregionen und Ländern wie Spanien oder Österreich werden die Auswirkungen fatal sein. Und zweitens hat die Gastronomie eine über das im engeren Sinne Ökonomische hinausreichende fundamentale soziale Funktion.
Nicht nur bei feierlustigen Teens und Twens kann die allgemeine Stimmung bald eine unliebsame Wendung nehmen. Das psychosoziale Desaster der Corona-Politik, dessen ganzes Ausmaß wohl im kommenden Winter offenbar werden wird, wird dann aller Voraussicht nach auch auf den Konsum und auf die wirtschaftliche Aktivität insgesamt durchschlagen. Die Politik und die Medien haben mit ihrer monatelangen Corona-Alarmstimmung selbst die Grundlagen dafür geschaffen, dass den Menschen der Optimismus abhanden kommt, der die wichtigste immaterielle Zutat für eine florierende Ökonomie ist. Wir erleben daher womöglich demnächst zwar keinen politisch angeordneten, aber einen pychosozial induzierten Lockdown.
In der Realwirtschaft droht dann aus dem erträumten V eher ein W zu werden, bei dem fragwürdig ist, wie tief der zweite Zacken absackt und wann und wie steil der letzte Strich wieder nach oben geht. Und dann könnte es auch für manch einen ungemütlich werden, der jetzt noch zu den Unbeschädigten der Corona-Krise gehört. Einen kleinen Blick in den Abgrund des Finanzsystems eröffnete kürzlich der oberste Bankenaufseher der EZB, Andrea Enria: „In einem Extremszenario mit einer zweiten Welle von Infektionen und Eindämmungsmaßnahmen könnte es laut unseren Berechnungen faule Krediten im Umfang von 1,4 Billionen Euro geben. Das ist mehr als nach der letzten Finanzkrise. Und es ist noch zu früh, um dieses Extremszenario auszuschließen. Das hätte wesentliche Folgen für die Kapitalpositionen der Banken.“
Und Enria macht auch deutlich, was wir stattdessen als gewünschtes Ergebnis der Corona-Krise zu erwarten haben – zumindest nach den Vorstellungen der EZB: „Ich glaube, diese Krise ist keine typische Rezession, in der die wirtschaftliche Aktivität erst nachlässt und dann wieder zurückkommt. Mein Eindruck ist: Diese Krise wird zu strukturellen Änderungen führen und unsere Volkswirtschaften transformieren. In bestimmten Branchen wird die Wirtschaftsleistung nicht mehr das Niveau erreichen, das sie vor dem Abschwung hatte. Andere Bereiche unserer Wirtschaft, die mit der Entwicklung der Digitalisierung und umweltfreundlicher sowie nachhaltiger Geschäftstätigkeit zu tun haben, werden an Bedeutung gewinnen. … Diesmal sollte eine Restrukturierung europäischen Prinzipien folgen und zu einer stärkeren Integration des europäischen Markts führen. … Konsolidierung (der Banken) kann Teil einer Lösung sein, etwa um Überkapazitäten zu reduzieren.“
„Transformieren“, „Restrukturierung“ und „Konsolidierung“ – vernebelnde Vokabeln für das Ende der freien Marktwirtschaft. Transformation, das heißt nach dem neuen Sprachgebrauch der Wirtschaftspolitik in aller Regel staatliche Vorgabe von Zwecken für die Wirtschaft, und „Konsolidierung“, das heißt Konzentration wirtschaftlicher Macht in wenigen Oligopolen, die dem Staat und seinen Zwecken eher zugänglich und verbunden sind als viele kleinere Akteure, die allzu zu sehr beim Regieren stören.