Abitur – Es geht pompös zu: immer mehr Einser, immer teurere Feiern

In diesen Tagen gibt es wieder fast 500.000 Abiturzeugnisse. Je mehr es gibt, desto weniger sind sie wert.

Eines vorweg: Keiner Absolventin, keinem Absolventen soll der Stolz auf ein schönes Zeugnis vermiest werden. Und alle Eltern- und Großelternpaare mögen sich über ihre Nachkommen freuen. Aber: Auch in diesem Jahr setzt sich eine seit Jahren bedenkliche Entwicklung fort. Denn bei weitem nicht alle der rund 500.000 Zeugnisse der Allgemeinen, der Fachgebundenen und der Fachhochschulreife weisen das aus, was sie auszuweisen vorgeben. Viele dieser Zeugnisse sind allenfalls eine Bescheinigung der Studierberechtigung, aber nicht der Studierbefähigung. Dass Hochschulen Brückenkurse einrichten, um die neu Studierberechtigten studierfähig zu machen, spricht eine eindeutige Sprache. Immer mehr Hochschulen bieten solche Liftkurse für Studienanfänger an, weil sie ihren Frischlingen erst einmal „Basics“, zum Beispiel in Mathematik oder Naturwissenschaften oder auch im Sprachgebrauch, vermitteln müssen, die frühere Studentengenerationen aus der Schule mitbrachten. Heute sind die Ansprüche an das Abitur nämlich zum Teil so, wie es einst die Ansprüche an den Mittleren Schulabschluss waren.

Pseudoakademisierung

Abiturzeugnisse als ungedeckte Schecks? Ja, so ist es oft genug. Schöne Verpackung, wenig Inhalt. Dass man damit viele junge Menschen hinters Licht führt und sie eigentlich betrügt, steht auf einem anderen Blatt. Aber die Politik will es so, und die Schulen müssen den weichgespülten Vorgaben folgen. Die Politik, im Fahrwasser allerdings auch die eine oder andere Schule, berauscht sich an immer höheren Studierquoten und meint, dies sei ein Ausweis für eine gute aufgestellte „Bildungsrepublik“. Dass die Folge davon eine Pseudoakademisierung ist, will man nicht wahrhaben. Man sah es gerne, dass sich die Zahl der Studienanfänger binnen zwanzig Jahren von rund 250.000 pro Jahr auf nunmehr über 500.00 pro Jahr erhöht hat. Man nimmt es achselzuckend zur Kenntnis, dass die Zahl der Studienanfänger seit 2014 die Zahl der jungen Leute, die eine berufliche Bildung beginnen, übertrifft. Man hat 330 Berufsbildungsordnungen, aber 18.000 Studienordnungen für Bachelor- und Masterstudiengänge fabriziert. Welche Schieflage! Der Mensch scheint erst mit dem Abiturzeugnis zu beginnen.

„Die Arbeit tun die anderen“
Fachkräftemangel durch Pseudo-Akademisierung
Etwas anderes kommt hinzu: Die Abiturnoten werden inflationär immer besser. Bundesweit hat sich die Zahl der 1,0-Zeugnisse binnen zehn Jahren verdoppelt, in manchen Ländern mehr als verdoppelt. Manche Gymnasien rühmen sich: „Diesmal haben wir drei Absolventen mit einer Null vor dem Komma und 50 Prozent mit einer Eins vor dem Komma.“ Durchschnittsnoten in ganzen Bundesländern (zum Beispiel Thüringen und Brandenburg) tendieren gegen 2,0. Manche Gymnasien brüsten sich damit, dass sie diesmal einen Abiturschnitt von 1,9 hätten. Ganz naiv fragt man sich da, warum es überhaupt noch ein sechsstufiges Notensystem gibt; zwei Noten, die Eins und die Zwei, würden doch reichen.

Bei NC wird unter 1 gerechnet

Eine Null vor dem Komma? Theoretisch-rechnerisch geht das. Zur Erklärung: Wer – fiktiv – in allen Prüfungen über zwei Jahre hinweg immer 14 Punkte, also eine glatte Eins, erzielte, der hat eine Durchschnittsnote von 1,0. Wer durchwegs und immer 15 Punkte, also eine Eins plus, hatte, der hat rechnerisch extrapoliert eine Durchschnittsnote von 0,67. Wer fifty fifty eine Mischung aus 14 und 15 Punkten hat, bei dem steht auf dem Zeugnis zwar die Note 1,0, aber interpoliert zwischen 0,67 und 1,0 hat er 0,83. Sind das theoretische Rechenkünste des Extra- und Interpolierens? Nicht nur, denn bei der Vergabe eines NC-Studienplatzes wird tatsächlich so gerechnet. Dann hat jemand mit der rechnerisch fiktiven Note von 0,83 die Nase vorne vor dem „nur“ Eins-Komma-Nuller. Welcher Irrsinn! Zumal es diejenigen betrügt, die wirklich ein 1,0 verdient haben.

Wenn jedenfalls eines Tages alle jungen Leute Abitur haben, dann hat keiner mehr Abitur. Dann richten zumindest die anspruchsvollen Hochschulen eigene Zugangsprüfungen ein. Das Abitur wird damit durch ein Aditur ersetzt und zugleich entwertet. Allerdings – das sei auch angefügt – haben die Hochschulen nicht nur Grund zum Klagen: Es ist reichlich bekannt, dass es Studienfächer gerade im geistes- und im sozialwissenschaftlichen Bereich gibt, in denen die Note 1 oder schlechtestenfalls die Note 2 Standard sind.

Zu all dem schönen Schein passt, dass die Abiturfeiern immer pompöser werden. Nicht an allen Gymnasien und sonstigen studienvorbereitenden Schulen, aber tendenziell quer durch die Republik. Nehmen wir einfach mal Schleswig-Holstein. Von dort berichten die Kieler Nachrichten soeben von Abiturfeiern in Nobelhotels mit Gesamtkosten zwischen 20.000 und 40.000 Euro. Das neue Outfit, in dem Lehrer ihre vormaligen Schüler oft gar nicht auf den ersten Blick wiedererkennen, gar nicht mitgerechnet.

Will man seitens der „Ball-Komitees“ damit vertuschen, wie hohl eigentlich alles ist?


Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop

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Kommentare ( 61 )

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61 Comments
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Schwabenwilli
6 Jahre her

Es ist nicht nur das Gymnasium Herr Kraus, Haupt, und Realschulen sind hiervon genau so betroffen. Man sollt aber auch berücksichtigen das diese Abitur bzw. gute Notenschwemme zu, Teil der Tatsache geschuldet ist das Bsw. viele Firmen überzogene Ansprüche an die Schule/Schulnote ihrer Bewerber haben. Noch nie gab es so viele Studenten in Deutschland: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/221/umfrage/anzahl-der-studenten-an-deutschen-hochschulen/ Was früher ein Kaufmann mit Hauptschulabschluss erledigt hat dafür bedarf es heute eines Betriebswirtes, der auch nur das Comuterprogramm zu bedienen hat, inklusive ausgedehnter Powerpoint kennnissse ;-). Es ist doch kein Wunder das alle jungen Menschen das Abitur anstreben wollen um später einen halbwegs vernünftigen… Mehr

Ruud
6 Jahre her

Was für das Abitur gilt, das gilt natürlich auch für andere Bereiche des Lebens: Ehe für Alle! Wer Ehe für alle fordert, der will die Ehe abschaffen. Aber das ist die Perversität: Im Westen scheinen mindestens 2/3 der Bürger damit kein Problem zu haben, die Ehe abzuschaffen. Bei den Bürgern unter 30 sind dies vermutlich 80% oder mehr. „Jeder soll doch das Recht haben,denjenigen zu heiraten, den er liebt! Mir nimmt niemand etwas weg!“ – Doch, sie nehmen euch alles weg!

Berndi
6 Jahre her
Antworten an  Ruud

Eine Ehe ist schon immer ein formaler Akt, kein Leistungsnachweis, keine Hürde, die es zu nehmen gilt. So ein Schwachsinn.

Grumpler
6 Jahre her

Es liegt nahe, dass der Zugang zum Gymnasium beschränkt werden muss; ähnlich wie es früher gehandhabt wurde: Gute Schüler dürfen sich um eine Zulassung zu einem Eignungstest zum Besuch des Gymnasiums bewerben. Bei Zulassung und Bestehen dieses Eignungstests kann man dann das Gymnasium besuchen. Überzogene Elternwünsche bleiben außen vor, Vorwürfe der Willkür an Lehrer würden sich nicht mehr verfangen. Allein die Fähigkeiten der Kinder gegenüber den Anforderungen der Oberschulen wäre letztlich entscheidend. Wenn ich richtig informiert bin, kostete der vergleichbare frühere Eignungstest die Eltern sogar noch Geld. Zitat: „Dann richten zumindest die anspruchsvollen Hochschulen eigene Zugangsprüfungen ein.“ Das ist an… Mehr

Robert Tiel
6 Jahre her

Das kommt davon, wenn man das Bildungsministerium bevorzugt den Grünen oder Roten überlässt.
Früher hieß es, dass der gebildete Nachwuchs die einzige Ressource Deutschlands sei.
Und nun bekommen Sie das mal ineinander:
Lehrpläne von gegenderten, klimatisierten, deutschfeindlichen Multikulti-Grünen, nachlassendes Wissen und Ressourcen …
Dann ist auch klar, was sich dringend ändern muss.
Müsste.
Ist eh zu spät.

Coder
6 Jahre her
Antworten an  Robert Tiel

Wussten Sie eigentlich, dass die Obergrüne Claudia Roth 1974 ihr Abitur in Bayern gemacht hat? Ich nehme dies als Indiz, dass damals auch nicht alles besser war 🙂

Grumpler
6 Jahre her
Antworten an  Coder

Hauptschüler aus Bayern, die über den zweiten Bildungsweg an die Hochschule gelangt waren, konnten noch vor zwanzig Jahren ihren Kommilitonen mit Abitur aus anderen Bundesländern in Mathematik das Wasser reichen.

Ruud
6 Jahre her
Antworten an  Coder

Claudia Roths Daddy war Zahnarzt in der Kleinstadt Krumbach. Mit hohen Spenden an den „Freundeskreis des Gymnasiums“ konnte man schon immer viel erreichen…

Dr. Friedrich Walter
6 Jahre her

Ey Alda, was schraibst du da? Isch hab Zoignis von Raife un kann gutt Doitsch. Bin gutt intergrediert. Wirr jetzt Doitschland übernommen. Isch Türkü, Alda, wenn du waida so schraibst, mach isch disch Messer, isch mach disch Friedhof, Alda. Nix misch belaidigen lassen…..! (Satire off)

Coder
6 Jahre her

Ich halte die Idee einer extra Zugangsprüfung für einen Studiengang für eine gute Idee. Denn nicht durch die Extraprüfung wird das Abitur entwertet, sondern es wird durch die Lehrpläne und lasche Benotung entwertet. Übrigens, sowohl Kunst- als auch Musikschulen verlassen sich nicht auf die Schulnote in Musik, sondern fordern noch Liveauftritte von den Kandidaten ein. Warum sollte so etwas für bspw. Informatiker nicht gelten dürfen. Wer Informatik studieren möchte kann dann den Nachweis erbringen, dass er oder sie tatsächlich etwas von Mathematik versteht und ggf. schon Programmierkenntnisse vorweisen kann. So erspart man sich Aufbaukurse und auch Studenten die sich erst… Mehr

Mozartin
6 Jahre her

Das stimmt nicht ganz. Nur weil Alle lesen können, ist das Lesen noch nicht entwertet. Im Gegenteil. Wenn das Niveau der gesellschaftlichen Ausbildung ansteigt, sehen zwar die Vorgänger leicht alt aus, z.B. stellt sich evtl. deshalb Herr Frank A. Meyer vor Martin Schulz, aber wenn man das mitbedenkt und seine Auswahlkriterien danach ausrichtet, sehe ich kein Problem. Wichtig wäre es noch, die sogenannten „niedrigeren“, beruflichen Abschlüsse als aber für die entsprechenden Berufe relevanter zu betrachten und auch so zu gewichten. Zielführende Ausbildung muss nicht eine nur z.B. an den Interessen der Wirtschaft ausgerichtete sein, aber auch. Ebenso können andere Sparten… Mehr

Berndi
6 Jahre her
Antworten an  Mozartin

Da satteln sie das Pferd von hinten auf:
Die Leute sind nicht intelligenter als früher und werden auch nicht mit mehr Wissen geboren, geschweige denn erwerben sie automatisch mehr. Dennoch schließen mehr und mit immer besseren Noten in immer „höheren“ Bildungsniveaus ab – wie kann das sein? Vor Allem, wenn diese Leute dann mit simplen Dingen so überfordert sind, dass sie an der Uni länger als in der Berufsschule brauchen, das zu vermitteln?

Moses
6 Jahre her
Antworten an  Berndi

Wenn eine Klasse relativ viel begabten und lernfleißigen Schüller hat, wird Notenlatte hochstehen.
Sollte in der Klasse .allgemeine Niveau niedrig sein, ist es viel leichter, an den Eins zu kommen.

K. Schmid
6 Jahre her

Die Lehrer kümmern sich vorwiegend um die schlechten Schüler in den Klassen. Es wird alles unternommen damit die leistungsschwachen Schüler das Klassenziel erreichen. Sind solche Schüler am Ende des Schuljahres dann versetzungsgefährdet dürfen sie noch schnell Referate halten. Damit gleichen sie dann ihre schlechten Notenschnitte aus und schaffen es am Schluss wieder in die nächste Jahrgangsstufe. So läuft das. Man will die Kinder unter allen Umständen zum Abitur bringen.

Wibke Nolte
6 Jahre her

Ich erinnere mich noch gut an eine Facharbeit, die von dem Sohn eines befreundeten Ehepaars erstellt wurde. Die einzige Quelle, die er hierfür benutzt hatte, war Wikipedia. Auf meinen Hinweis, dass dies doch wohl kaum ausreichen würde, wenn man auch nur im Ansatz wissenschaftliches Arbeiten lernen solle, sagte er mir, das würden alle so machen.
Für diese wirkliche dürfte Arbeit gab es natürlich eine 1.

Berndi
6 Jahre her
Antworten an  Wibke Nolte

Ja, mit „Quelle: Wikipedia“ oder auch nur einem einzigen Buch als Quelle gingen bei uns jede Menge mit „gut“ und besser durch in Semesterarbeiten. Oft ist der Abschluss auch mehr vom Bauchpinseln beim Prüfer abhängig als von Leistungen und kompletter Humbug ohne Mehrwert gibt beste Abschlüsse. Diese „Absolventen“ hängen dann direkt noch einen Abschluss an, kostenloser Bildung sei Dank, weil sie ja nach vier Jahren noch immer nicht wissen, wohin mit sich selbst. Gebildet wird da ja nichts. Nur reingestopft, hochgewürgt, Stempel drunter, nächster. Das Fünfjahresziel vor Augen. Es braucht nur Lehm und Spucke um einen Menschen zu formen, nicht… Mehr

schwarzseher
6 Jahre her

Nur ein Beispiel aus meiner Tätigkeit als Professor im Fachbereich Maschinenbau: Ca. 80% der Studenten können zu Studienbeginn nicht die Seiten von schiefwinkligen Dreiecken berechnen. Mein wiederholter Hinweis, daß dies über den den Sinus- bzw. Cosinussatz einfach möglich ist und sie dies eigentlich schon auf der Schule gelernt haben müßten, führte zu der Bemerkung einer Studentin mit Abitur: “ Die Namen Sinus und Cosinus habe ich schon gehört ( !!! ), Sinussatz und Cosinussatz dagegen nicht. Diese Namen sagen mir nichts, ich höre sie zum ersten mal „.