Genau besehen ist das Urteil ein Schlag gegen den Geist der deutschen Demokratie. Es stärkt die Funktionärskaste, dient dem Konformismus, dem Erzübel aller politischen Machtspiele und schwächt den Föderalismus.
Es sieht nach einem salomonischen Urteil aus: Der Bundestag wird kleiner und die CSU muss trotzdem nicht fürchten, an der bundesweiten Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Genauer besehen ist das Urteil jedoch ein Schlag gegen den Geist der deutschen Demokratie. Es stärkt die Funktionärskaste, dient dem Konformismus, dem Erzübel aller politischen Machtspiele und schwächt den Föderalismus.
I.
Das neue Wahlrecht hat die Ampel gegen jede demokratische Gepflogenheit nur mit sich selbst ausgemacht. Die Opposition wurde nicht beteiligt – obwohl es doch um die gemeinsamen Spielregeln geht. Die CSU (und die Partei Die Linke) atmen auf. Es wäre ein Putsch mit juristischen Mitteln gewesen – also ein typisch deutscher Putsch, wo Ordnung in jeder Lebenslage das halbe Leben ist, selbst wenn sie den Tod kostet. Denn die Partei, die fast alle Wahlkreise in Bayern gewinnt, wäre womöglich bald nicht mehr im Bundestag vertreten gewesen. Das Verfassungsgericht hält die Fünf-Prozent-Klausel ohne die sie einschränkende Grundmandatsklausel (mit drei Direktmandaten ziehen auch kleinere Parteien ins Parlament ein) für verfassungswidrig. Aber das ist allenfalls ein halber Trost.
II.
Gelockert wird nun die Bindung des Parlaments an die Wahlkreise. Es werden nicht mehr alle Wahlkreise mit direkt gewählten Abgeordneten vertreten sein. Das bedeutet, und darin besteht das eklatante Unrecht, dass in machen Wahlkreisen die Erststimme nicht mehr zählt. Nicht mehr in den Bundestag kommen einige, voraussichtlich in Bayern direkt gewählte CSU-Kandidaten, weil das Gesamtergebnis wie bisher das bundesweite Zweitstimmenergebnis spiegeln muss, künftig jedoch ein Überhang direkt gewählter Abgeordneter ausgeschlossen ist, also auch nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert wird. Damit gehen einige direkt gewählte Volksvertreter leer aus, übrigens gerade die, die sich in besonders knappen Entscheidungen durchsetzten.
III.
Das heißt: Die Wähler sind nicht mehr gleich. Zwar hat jeder zwei Stimmen, aber nicht überall zählen beide Stimmen, sondern nur noch die Zweitstimme, die de facto zur Erststimme wird. Doch kaum jemand regt sich darüber auf. Die meisten Wähler finden es einfach nur prima, dass die Zahl der Sitze im Reichstagsgebäude reduziert wird und weniger Berufspolitiker Steuergelder verbraten. Das Gespür für das ursprüngliche Wesen der Bundesrepublik aber geht in der Berliner Republik weitgehend verloren. Es spielt keine Rolle mehr, dass sich viele Wähler zuerst mit ihrer Heimat, ihrer Region identifizieren und in der Zentrale auch entsprechend vertreten sein wollen.
III.
Die Waage neigt sich zugunsten der Abgeordneten, die von den Listen kommen, die damit deutlich abhängiger von ihren Parteien sind als direkt gewählte Volksvertreter. Die sich in direkter Auseinandersetzung gegen Kandidaten der anderen Parteien durchgesetzt haben. Das zählt nicht mehr. Direkt gewählte Volksvertreter stehen im Wahlkreis im Kontakt mit ihren Wählern und wissen, wo sie der Schuh drückt. Es kommt bei der Direktwahl mehr auf die Persönlichkeit der Kandidaten an. Die Listen-MdBs bemühen sich um Wiederwahl vorwiegend durch angepasstes Verhalten gegenüber ihrer Partei, deren Angestellte sie de facto sind. Die direkt gewählten Abgeordneten sind dagegen ihren Wählern rechenschaftspflichtig. Sie sind in vielen Fällen weniger stromlinienförmig und fügsam. Eine Reform, die allein auf Kosten direkt gewählter Parlamentarier geht, stärkt die Parteien, und schwächt den Einfluss der Bürger bei der Auswahl der Abgeordneten. Es beschädigt den Geist der repräsentativen Demokratie, wenn immer mehr Abgeordnete nur noch ihre Partei repräsentieren und nicht mehr einen Wahlkreis.
IV.
Das höchste deutsche Gericht hat Recht gesprochen, aber nicht richtig geurteilt. Es hat sich, wie so oft, einen schlanken Fuß gemacht, und sich mit der Bundestagsmehrheit nicht angelegt, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Es hat der Ampel wohl, der Opposition nicht weh getan. Es nützt den Parteien, aber nicht den Wählern. Dass das Bundesverfassungsgericht dennoch für ein durch und durch opportunistisches Urteil fast einhellig gelobt wird, ist bezeichnend für den lahmen Zustand der deutschen Demokratie. Das Gefühl für das, was Demokratie bedeutet, geht vor die Hunde.
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Hat die FDP eigentlich begriffen, dass sie sich mit ihrer Zustimmung zu dieser Reform unmittelbar in die Adressaten derer eingereiht hat, die Jean-Claude Juncker wohl einst vor Augen hatte, als er in seiner ganzen Arroganz, verächtlich, spöttisch den Bürger der Einfalt bezichtigte als er sagte: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, WEIL DIE MEISTEN GAR NICHT BEGREIFEN, WAS DA BESCHLOSSEN WURDE, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ Wenn „Parteienstaat First“ gelten soll,… Mehr
Für mich ist das ein weiteres, eindeutiges Zeichen der Parteiendiktatur in Deutschland.
Die Bürger haben keinerlei Einfluss auf die Listen der Parteien. Menschen, die von Bürgern niemals gewählt würden, kapern sich über die Parteiliste relevante Posten.
Mit diesem Urteil hat das BVG bewiesen, dass der Rechtsstaat obsolet geworden ist.
Es ist ja auch lange keine „Demokratie“. Schon seit Merkel nicht mehr. Und wie von Armin beschreibt – schon vordem. Sie scheinen ja auch nicht „unsere“ Politiker – denn Politik zum Wohle des Volkes in dem, was sie „unsere“ Demokratie nennen, ist nicht zu erkennen – oder? Der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim hat lange beschrieben, dass es mit der FDGO nicht weit her ist und bereits 2001 in seinem Werk: „Das System – Die Machenschaften der Macht“ den Zustand der deutschen Demokratie wie folgt erläutert: „Das Grundübel unserer Demokratie liegt darin, dass sie keine ist. Das Volk, der… Mehr
Alle Wahlkreisbewerber stehen auf den Landeslisten! Es gibt keine Mehrheitswahl mehr. Nur noch eine Verhältniswahl. Mit der Erststimme kann man erreichen, dass nicht der „nächste“ Listenkandidat, sondern ein ganz bestimmter Listenkandidat, nämlich der auf der Landesliste stehende Wahlkreisbewerber, in den Bundestag kommt.
Wenn ein siegreicher Wahlkreisbewerber nicht in den Bundestag kommt, schafft es auch kein reiner Listenkandidat der Partei und auch kein Wahlkreisverlierer in den Bundestag. Wie soll das bitte die Macht der Parteien stärken?
Nur das Ihre schöne Theorie bei der CSU nicht funktioniert. Denn für 5,2% bekommt die Partei 32 Parlamentssitze, da wird’s für die 45 Direktmandatsgewinner etwas knapp.
Mal was anderes: Ein Kommentator gab zu bedenken, auch Urteile des BVerfG könnten verfassungswidrig sein. Eine interessante Frage. Die Fachwelt könnte zu einer solchen Auffassung kommen. Und was würde daraus folgen? Über dem BVerfG gibt es bekanntlich nur noch den Himmel…
Bundestagsabgeordnete vertraten/vertreten n i c h t ‚ihren‘ Wahlkreis sondern alle Bürger und somit auch jene, die sie nicht gewählt haben.
Art 38 GG(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Gemäss Verhältniswahlrecht (Listen) fallen keine Stimmen der Bürger weg, wie es bei einem reinen Direktwahlrecht (K.O. System) wäre.
Man konnte sich in Deutschland für die Bundestagswahlen nie auf eines der beiden Wahlsysteme einigen und bekam so eine Mischung aus Direkt- und Verhältniswahlrecht.
Ist es demokratisch, wenn ein Wahlkreissieger mit 51% der Stimmen gewählt ist, und die anderen 49% Stimmen wertlos verfallen?
Wenn das mit der Realität übereinstimmte: kein Thema – oder?
Art 38 GG(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
„Die Abgeordneten … sind Vertreter des ganzen Volkes“.
Das heißt, in ihrer Gesamtheit, nicht jeder einzelne. Logischerweise.
Ich sags auch hier: Strauß und Wehner können heute in ihren Parteien nichts mehr werden, nicht mal Ortsvereinsvorsitzender.
Schon. Aber mit Menschen wie Strauß wie Wehner wären die Parteien vielleicht auch nicht zu dem geworden, was sie heute so darstellen?
Es wird immer wieder der selbe Fehler gemacht :
Man / frau glaubt innerhalb demokratischer Spielregeln
könne man / frau das bestehende ademokratische System ändern .
Never ever !
Vielen Dank für Ihr Ihren Beitrag, Herr Herles, nach meiner persönlichen Einschätzung ist dieses Urteil bei Tichy in der Tat nicht ausreichend gewürdigt worden. Ich halte es auch für ausgesprochen demokratiefeindlich und in der Tat für ein Parteien Stärkungs Gesetz und keinesfalls für eines, dass die Repräsentanten des Souveräns, des Wählers, stärkt. Art. 38 GG lautet seit seiner letzten Änderung vom 31. Juli 1970 wie folgt: (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Der Bundestagsabgeordnete vertritt gemäß Art. 38 Absatz 1 Satz 2 GG das gesamte deutsche Volk. Er ist ausschließlich… Mehr
Wer immer im Wohlstand lebte, immer reisen konnte und nie Mangelwirtschaft kannte, hat sich nie gefragt, wie das alles kommt.
Mein Eindruck ist, dass viele der heute Ü50 noch in ihrer Vorwendejugend sind, wo Leid und Mangel weit weit weg sind….