Von Fliegen und Menschen – Bemerkungen zum Thema Identität

Ausgerechnet diejenigen, die die Veränderung Deutschlands am vehementesten betreiben, an ihrer Spitze die Kanzlerin, legen auf die Formbarkeit der Identität der Ankommenden den geringsten Wert.

Servus Tichy, „Identität hat jede Fliege.“ Mir gefällt dieser Satz. Man muss hinzufügen: die Fliege hat keine andere Wahl, als mit allen anderen Fliegen identisch zu sein. Was den Menschen vom Tier unterscheidet ist, dass er an seiner Identität arbeitet, sie nach eigenen Wünschen formt und verändert, wenn er nur will. Das bloße Identischsein ist nichts, worauf man besonders stolz sein müsste. Der schöne Satz stammt übrigens von Jiri Grusa. Der früh verstorbene Autor kam als Asylant nach Bonn, wo er zum deutschen Lyriker wurde, ein Identitätswechsel sondergleichen, ehe ihn sein Freund Vaclav Havel zum tschechischen Botschafter in der Bundesrepublik ernannte (später auch zum Kulturminister), und er deshalb wieder die tschechische Staatsbürgerschaft annehmen musste. Es kann nicht überraschen, dass er auch über die Vertreibung der deutschen Minderheit aus Böhmen anders dachte als die meisten Tschechen. Zu ihr zählten meine Eltern. Mein Vater lebte ohne sich groß zu bewegen in vier Staaten. Als Österreicher geboren, leistete er für Tschechien Militär-, erlitt für Nazideutschland Kriegsdienst, ehe er zum Bundesrepublikaner wurde. Warum ich das erwähne? Weil auch die Lebensleistung meiner Eltern in einer bewundernswerten Wandlungsfähigkeit bestand. Das kann nur schaffen, wer nicht in der Zugehörigkeit zu einer Nation, Religion, Partei etc. den Kern seiner Persönlichkeit sieht, sondern als Individuum bestehen kann. Natürlich gilt: Je schwächer das Individuum, desto stärker klammert es sich an seine „Identität“, was auch immer das sein soll. Nicht der Nationalstaat, sondern der Individualismus ist die größte Errungenschaft Europas, ja der Geist Europas schlechthin. Und die höchste Aufgabe des Staates ist es, diese Freiheit zu schützen.

I.

Man muss von Immigranten, unabhängig davon, weshalb sie zu uns kommen, verlangen dürfen, dass sie sich nicht hinter ihrer mitgebrachten kulturellen Identität verschanzen. Es sind eben keine Fliegen. Doch welch absurder Widerspruch: Ausgerechnet diejenigen, die die Veränderung Deutschlands am vehementesten betreiben, an ihrer Spitze die Kanzlerin, legen auf die Formbarkeit der Identität der Ankommenden den geringsten Wert. Die deutsche Regierung zeigt etwa dem importierten Geist des Islam gegenüber die größte Nachsicht.

II.

Die Deutschen reden derzeit lieber über die eigene Identität. Dies lenkt ab von den wahren Ursachen ihres Unbehagens. Die „Verlustängste“ der abgehängten Mittelschicht erklären viel, aber nicht alles. Es ist die Ohnmacht der Bürger, nicht selbst mitentscheiden zu können, in welche Richtung sich ihr Land entwickeln soll. Erst diese Ohnmacht lässt das Fremde bedrohlich erscheinen. Merkel aber fordert Geschlossenheit, mahnt zu Mäßigung, als sei das eine demokratische Tugend, erklärt die Stromlinie zur Staatsräson, versucht jeden Widerspruch moralisch zu diskreditieren. Nach dem Motto: Wer gegen mich ist, gehört nicht mehr zu „uns“. Oder wie die Berliner CDU es ausdrückt: „Die AfD ist die Partei, die alles verrät, wofür Deutschland steht.“ Das ist billig. Lieber grenzt die Fliegenkönigin Andersdenkende aus als illegale Einwanderer.

III.

„Deutschland wird Deutschland bleiben – mit allem, was uns lieb ist.“ Merkels neues Mantra. Das neue „Wir schaffen das“. Wieder eine Hülse ohne Inhalt. Was alles ist ihr lieb? Außer abstrakten Werten wie Marktwirtschaft und Demokratie? Vermutlich ist nicht alles, was Frau Merkel lieb ist, auch „uns“ lieb. Die Kanzlerin selbst zum Beispiel ist es nicht. Denn sie hat noch immer nicht kapiert. Es geht nicht darum, dass dieses Land bleibt, wie es ist. Auch die Deutschen sind keine Fliegen.

IV.

Statt Merkels Geschwätz zu paraphrasieren, könnte sich Horst Seehofers CSU („Deutschland muss Deutschland bleiben“) besser auf den berühmten Satz Tomasi di Lampedusas aus seinem Roman „Der Gattopardo“ berufen: Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern“. Was alles? Die Politik. Die Parteien. Die Medien.

V.

Warum fühlen sich viele, naturgemäß ältere Bürger, in der Berliner Republik weniger heimisch als sie es im „Rumpfstaat“ der Bonner Republik taten? Doch nicht, weil sich heute die Welt schneller dreht, sondern weil die Bonner Republik lebendiger war als die Berliner. Nicht so links, nicht so preußisch, nicht so protestantisch, aber ungleich offener.

VI.

Ich kenne Angela Merkel seit der Wende. Ihr fehlt das geistige Fundament, sie war nie irgendwo ganz zu Hause, und genau das ist ihr Problem. Wer etwas ändert, muss wissen, was er bewahren will. Sie hat kein Gespür für das Wesen der Bonner Republik. Ob sie über Ludwig Erhard oder über die Achtundsechziger spricht, stets offenbart es tiefe Ahnungslosigkeit. Sie ist weder eine in der Wolle gefärbte Demokratin noch eine überzeugte Europäerin, nicht erst in der Flüchtlingsfrage, obwohl sie es glaubt. Ihrer Partei, ihrer Gefolgschaft scheint dies egal zu sein, den Opportunisten ebenso wie den Illusionisten, die Frau Merkel für eine Apotheose der Wiedervereinigung halten. Sie ist allenfalls mit sich selbst identisch.

VII.

Wir haben uns daran gewöhnt, die Identität mit dem Land an den Nationalstaat zu knüpfen. Seit Bismarck beten Rechte wie Linke diesen Staat an. Staat und Volk aber sind nicht identisch. Dieser Staat ist weder in der Lage noch Willens, seine Bürger vor den völlig aus den Fugen geratenen internationalen Finanzmärkten zu schützen, noch vor den Folgen der Migration. Eine funktionierende europäische Gemeinschaft wäre deshalb unverzichtbar. Aber sie funktioniert nicht. Ich hege nicht die Illusion, der deutsche Staat sei daran schuldlos. Alle europäischen Fehlentwicklungen wurden von deutschen Regierungen mitgetragen oder mit betrieben (Euro). Das Identitätsgerede soll ablenken vom Versagen der Politik, soll es emotional kompensieren. Identität als Ersatzbefriedigung. Sind wir wirklich so beschränkt, darauf hereinzufallen?

VIII.

Ein guter Staat wäre ein Staat, der seinen Bürgern das höchst mögliche Maß an Individualität garantiert – und damit zugleich die Freiheit, seine Identität selbstbestimmt zu formen. In dieser Hinsicht haben wir es in Deutschland nicht mit zu wenig Staat, sondern mit entschieden zu viel Staat zu tun. Stark ist der nur dort, wo er den Bürger bedrängt, beschwert, belästigt, wo er ihn abkassiert und reglementiert. Um es ganz einfach auszudrücken: Das Finanzamt und die Steuergesetzgebung belästigen mich persönlich mehr als ein paar islamische Frauen im Sackgewand, und sie bedrohen mich stärker als die nächste Salafisten-Moschee. Es bedurfte nicht der Einwanderungswelle, um zu erkennen, dass dieser Staat die Interessen seiner Bürger in vielerlei Hinsicht verrät. Deshalb will mir das Gerede von der Identität nicht einleuchten.

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