Spaltungen. Wie der Kampf der Systeme überschrieben wird.

Die wahre, tiefste und gefährlichste Spaltung ist die zwischen liberalen Verantwortungs- und dogmatischen Gesinnungsethikern. Freiheit contra Moralkeule, Selbstbestimmung contra Enteignung.

In fast allen westlichen Demokratien wird die tiefe Spaltung der Gesellschaft beklagt. Oft verlaufen die Spaltlinien nicht dort, wo sie vermutet und diskutiert werden.

I.

Beispiel Großbritannien. Pro und Contra Mitgliedschaft in der EU – dies scheint die Bruchlinie zu sein, in Wahrheit ist es nur das Symptom eines tiefer reichenden Bruchs. Auf der Insel hat sich sehr viel länger als in Kontinentaleuropa eine Klassengesellschaft erhalten. Der Kampf um den Brexit entpuppt sich als verdeckter Klassenkampf. Vertreter der Oberschicht (Boris Johnson, Jacob Rees-Mogg) gebärden sich als Nationalisten, weil sie dem englischen Nationalismus (Rule Britannia!) die Privilegien verdanken, die sie verteidigen. Je stärker Großbritanniens Wirtschafts- und Sozialsystem von der EU bestimmt wird, desto stärker kommen ihre Privilegien ins Wanken. Das wird natürlich nicht offen diskutiert. Denn die Oberschicht benötigt die Euroskepsis der enttäuschten und verängstigten Kleinbürger. Deshalb wurde Volksverdummung zum Mittel ihrer Brexit-Kampagne. Es gibt gewiss auch gute Gründe für einen Brexit, aber Johnson und Rees-Mogg täuschen sie nur vor und spielen mit den Gefühlen der einfachen Leute, die nichts dabei gewinnen werden. Was sie Nationalstolz nennen, ist nichts als Oberschichten-Arroganz. Weil viele bürgerlich-liberale Abgeordnete dabei nicht mitspielen, kommt es zur Selbstblockade der Tories. Was die Hardliner völlig verkennen, ist die Tatsache, dass sie Großbritannien zerschlagen, weil Schottland und Nordirland nach einem Brexit das Vereinigte Königreich verlassen dürften. Ein echter englischer Nationalist müsste es verhindern wollen. Doch wie gesagt: Darum geht es ihnen nicht – sie verteidigen ihre Privilegien.

II.

Sind Spaltungen dieser Art nicht Ausdruck einer funktionierenden Demokratie, so unvermeidbar wie notwendig, um den Diskurs lebendig zu halten? Es ist zu unterscheiden zwischen politischem Streit einerseits, auch auf der Basis von Interessenkonflikten, und Spaltungen andererseits. Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit, sondern ein ständiger Diskurs, der nur funktionieren kann, solange Kompromisse möglich sind. Sobald Parteien einander blockieren, zerstören sie sich selbst. Denn sie radikalisieren unterlegene Minderheiten und setzen das wichtigste Gesetz der open society, das trial and error außer Kraft.

III.

Eine falsche Spaltung beherrscht auch hierzulande die Debatte. Neuerdings wird den Deutschen eingeredet, der Osten werde benachteiligt. Ostdeutsche seien quasi Migranten im eigenen Land. Was für ein Unsinn, nachdem Abermilliarden aus dem Westens in die ehemalige DDR geflossen sind. Wahrscheinlich wird man irgend wann einmal sagen, die deutsche Teilung sei nur ein Fliegenschiss in der deutschen Geschichte gewesen. Wenigstens wäre diese Behauptung nicht ganz so falsch wie der soeben paraphrasierte Gauland-Satz über die Nazizeit. Hinter der angeblichen West-Ost-Spaltung steckt eine ganz andere Spaltung, die mitten durch die Republik verläuft. Umverteilung liegt im Trend. Staatsgläubigkeit ist angesagt. Wo der Staat alles garantieren soll, auch absolute – also undemokratische – Gleichheit, kann er nur versagen. Auch in Deutschland herrscht wieder Klassenkampf. Wir nennen ihn nur nicht so.

IV.

Ein Paradox, mit dem sich künftige Historiker befassen werden: Als die Welt in Ost und West, in eine kommunistische und eine liberale Hemisphäre gespalten war, waren die liberalen Demokratien vergleichsweise konsensfähig. Sie standen geschlossen. Heute ist die Welt weniger gespalten als im Kalten Krieg, dafür sind es die demokratischen Gesellschaften im Inneren umso mehr. Die Demokraten gefährden ihr eigenes, im Wettstreit einst überlegenes System. Weshalb? Weil illiberale, undemokratische, autoritäre, sozialistische Dogmen in ihnen selbst wuchern. Es ist nicht mehr die Welt erkennbar gespalten, sondern die Demokratien sind vom für überwunden geglaubten Spaltpilz infiziert. Die wahre, tiefste und gefährlichste Spaltung ist die zwischen liberalen Verantwortungs- und dogmatischen Gesinnungsethikern. Freiheit contra Moralkeule, Selbstbestimmung contra Enteignung. Diese Spaltung überschreibt das alte rechts-links Schema. Wo Gut und Böse zum Prinzip von Politik gemacht werden, ist ein vernünftiger Ausgleich von Interessen nicht mehr möglich. Der größte Kampfplatz dieser neuen-alten Systemschlacht ist die Klimapolitik.


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Kommentare ( 72 )

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72 Comments
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amendewirdallesgut
5 Jahre her

Kompliment Herr Herles , Sie schaffen es immer wieder sehr gute und kritische Leserbriefe anzustoßen , bitte weiter so . Es bedarf selten weiterer Kommentare , da zumeist alles gesagt wurde .

horrex
5 Jahre her

Mit Max Weber ist ALLES gesagt!
„Die wahre, tiefste und gefährlichste Spaltung ist die zwischen liberalen Verantwortungs- und dogmatischen Gesinnungsethikern. Freiheit contra Moralkeule, Selbstbestimmung contra Enteignung. Diese Spaltung überschreibt das alte rechts-links Schema. Wo Gut und Böse zum Prinzip von Politik gemacht werden, ist ein vernünftiger Ausgleich von Interessen nicht mehr möglich. Der größte Kampfplatz dieser neuen-alten Systemschlacht ist die Klimapolitik.“
N U R: Wie aus der Nummer herauskommen?
Ich erkenne nicht, wie die Mauer zwischen Verantwortungsethikern und Gesinnungsethikern abgeräumt werden könnte. Wer und wie könnte könnte man „versachlichen“???

Odysseus JMB
5 Jahre her

Öffentliche Diskussion wird zunehmend durch staatliche „Programme“ ersetzt, für die sich in der jüngeren Vergangenheit transparente Argumentationen erübrigt zu haben scheinen, weil sie bei näherer Betrachtung, wie Souffles, in sich zusammenfielen, wenn man sie denn einer kritischen Würdigung unterzöge. Relevante Maßstäbe zu erkennen und entsprechend zu erörtern, wird an vermeintliche Eliten deligiert (Zentralismus). Diese werden den Ansprüchen einer breiten Öffentlichkeit nur selten gerecht, da markante Interessenszuspitzungen (Selbstbedienungsmentalität) das marktwirtschaftlich orientierte Handeln dirigieren. Sich ständig vergrößernde Spannen im Einkommen sind die Folge. Ein politisches System, dass letztlich auf unvoreingenommene Problemlösung, Skepzis, aber auch Bildung und marktwirtschaftliche Erfahrung gegründet ist, kann nur… Mehr

Philipp Tertuete
5 Jahre her

Irgenwo muss die menschliche Agression hin. Wenn man nicht externe Länder bekämpfen kann, dann bekämpft man sich selbst, ähnlich eines Raubtiers hinter Gittern, dass sich selbst verstümmelt.

CIVIS
5 Jahre her

WIDERSPRUCH HERR HERLES ! I. Ihre Auffassung, dass die Herren Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg in einem verdeckten Klassenkampf und mit Arroganz die Privilegien der Oberschicht zu verteidigen suchen, halte ich für eine weit hergeholte und auch völlig unbewiesene Behauptung. Innerhalb der EU sind diese Herren auch gut zurecht gekommen. Vielleicht will man in GB nur etwas weniger Bevormundung durch die EU und wieder selbst bestimmen. II. Natürlich sind Kompromisse erforderlich. Aber, …so viel und so viele schlechte Kompromisse sind auch nicht unbedingt ein Zeichen für eine funktionierende Demokratie. III. Und dass der neuerliche Vergleich, angeblich benachteiligte „Ostdeutsche“ mit Migranten… Mehr

Falk Kuebler
5 Jahre her
Antworten an  CIVIS

„Vielleicht will man in GB nur etwas weniger Bevormundung durch die EU und wieder selbst bestimmen“

Widerspruch, lieber CIVIS! Wer ist denn diese(r) „man“? Meines Erachtens genau solche Gestalten wie Johnson (mMn extrem schlimm) und Rees-Mogg (mMn nicht so schlimm), die schlicht um eine Maximierung Ihrer Macht kämpfen. Denen ist das Volk vermutlich dermassen schei**egal…

IJ
5 Jahre her

Sorry, aber im Artikel wird die Grenzlinie des aktuellen weltweiten politischen Konflikts unnötig verkompliziert und verwischt. Der Konflikt ist im Kern einfach und lautet „Patrioten vs. Globalisten“. Die einen – die Patrioten – wollen den Nationalstaat mit einer eigenständigen Kultur, einem abgrenzten Staatsvolk und einem unabhängigen Wirtschafts- und Steuersystem erhalten. Die anderen – die Globalisten – wollen den souveränen Nationalstaat überwinden, jedoch ohne jedoch genau zu wissen, was an seine Stelle treten soll. Interessant ist insbesondere die Zusammensetzung der Koalition der Globalisten: Hier verbünden sich Großkonzerne, für die der Freihandel die unverzichtbare Wachtumsquelle ist, mit Sozialisten/Kommunisten, die von einer räterepublikanischen… Mehr

Der Ketzer
5 Jahre her

Ich glaube, die Beurteilung der genannten britischen Politiker ist ziemlich daneben. Nachdem der Brexit-Verhandlungsführer der EU, Michel Barnier, kurz nach seiner Ernennung zu Freunden gesagt haben soll, «wenn am Schluss die Bedingungen des Deals für die Briten so brutal sind, dass sie es vorziehen werden, in der Europäischen Union zu verbleiben» (weltwoche.ch, 13.03.2019), ist die Reaktion aus London durchaus nachvollziehbar. Dies hat nichts mit Oberschicht oder Klassenkampf zu tun, denn es geht darum, einen Auftrag des Souveräns zu erfüllen, der darin besteht, die Souveränität des Vereinigten Königreichs wiederherzustellen. Das wird nicht gelingen, wenn die Briten in der Zoll-Union bleiben und… Mehr

Seneca
5 Jahre her

Der Brexit ist kein Oberklassen-Projekt. Im Gegenteil. So wie in allen anderen Ländern auch hat vor allen Dingen die Oberklasse in einem unvorstellbaren Ausmaß vom globalisierten Kapitalismus profitiert. Die englische Oberklasse und so auch die Peers sind weit überwiegend Remainer. Rees-Mogg ist eine Ausnahme und im übrigen Aufsteiger und nicht gebürtige Oberklasse. Boris Johnson ist in der Remainer-Familie Johnson das schwarze Schaf. Leave ist das Projekt der englischen Unter- und Mittelschicht, die wie in allen anderen Ländern auch, nicht nur Einkommen und Vermögen eingebüßt haben, sondern als Somewheres auch noch ihr Land verloren haben. Der Brexit ist insbesondere Gradmesser für… Mehr

Reimund Gretz
5 Jahre her

Klima: Eine skurrile und ideologische Klimapolitik fördert Dummheit!
Jetzt sind also auch die Haustiere Schuld!

Herausgefunden hat das eine Studie aus der Schweiz zur Ökobilanz von Haustieren.

Hunde und Katzen sollen jetzt auch noch Klimaschädlinge sein!

Die Ökoideologen drehen jetzt komplett durch.

+++ Wir müssen den Wahnsinn endlich stoppen+++

Die einzigen ** für Deutschland sind diese durchgeknallten Ideologen!

Andreas aus E.
5 Jahre her
Antworten an  Reimund Gretz

Da sollte man nun untersuchen, welche Heimtierart besonders klimaschädlich ist.
Wer ist da schlimmere Kohlendioxidverbrecher – der Goldhamster oder der Wellensittich? Der Laubfrosch oder der Neonsalmler? Die Vogelspinne oder der Dackel? So ließen sich Halter verschiedener Tierarten gegeneinander aufbringen – ich sehe da noch reichlich Spaltungspotential!

An anderer Stelle wurde übrigens schon vorgeschlagen den Walfang massiv auszuweiten, weil die Meeressäuger nicht nur erhebliche Mengen CO2 ausdünsten, sondern wegen ihrer Körperwärme auch die Ozeane aufheizen.

Ursula Schneider
5 Jahre her

„Klassenkampf“ in Deutschland? So würde ich das nicht nennen.
Meiner Meinung nach geht es bei uns um den Versuch einer links-grün gefärbten Schicht, mittels Ideologie und Beherrschung der Medien Macht und Pfründe an sich zu reißen, die Demokratie allmählich auszuhebeln und einen neuen (verdeckten) Totalitarismus zu installieren. Die sozialen Positionen sind (anders als bei Klassen) grundsätzlich offen und werden von politischer Einstellung bzw. opportunistischer Anpassung bestimmt.
Die Spaltung verläuft also zwischen offener Gesellschaft und gelenkter Postdemokratie.
Freiheit contra Machtanmaßung. Mit Ethik (ob aus Verantwortung oder Gesinnung) hat das wenig zu tun …