Nachschlag: Die Mutter aller Probleme ist nicht die Migrationsfrage

Die gegenwärtige Polarisierung wäre zu begrüßen, wenn sie der notwendigen Repolitisierung dieses Landes diente, nicht aber, wenn sie in Hass mündet und damit jeden Diskurs ausschließt.

Folgte ich der großen Mehrheit der Kommentare, die meinen Beitrag „Warum Chemnitz?“ vom vergangenen Samstag für unmöglich halten, hätte ich bei TE wohl nichts mehr verloren. Vermutlich bildet sie aber nur einen Teil des Meinungsspektrums der TE-Leserschaft ab. Es ergibt meines Erachtens keinen Sinn, die monochrome Einseitigkeit der Mainstreammedien zu beklagen, selbst aber alles abzulehnen, was die geistige Bequemlichkeit in der eigenen Meinungsblase stört. Ohne Binnenpluralismus sind auch „alternative“ Medien wenig wert. Hier ist ein Nachschlag.

I.

Die gegenwärtige Polarisierung wäre zu begrüßen, wenn sie der notwendigen Repolitisierung dieses Landes diente, nicht aber, wenn sie in Hass mündet und damit jeden Diskurs ausschließt. Die Unruhen in Chemnitz sind dafür nur ein Beleg. Rechtsradikales Ausländer-Raus-Gebrüll lässt sich nicht mit linksradikalen Fischfilets verrechnen. Beides ist ekelhaft. Die Ereignisse mit sächsischer Widerborstigkeit oder mitteldeutscher Querköpfigkeit zu (v)erklären, sie quasi als Folklore zu verbuchen, ist absurd. Es ist auch noch lange nicht alles gut, weil es keine ausgesprochenen „Hetzjagden“ gegeben hat. Fakten bleiben Fakten: Im Osten der Republik wird anders gewählt als im Westen, alle Umfragen und Untersuchungen belegen eine größere Skepsis gegenüber der politischen Grundordnung. Es ist nur logisch, wenn Einstellungen, die in anderen postkommunistischen Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien) mehrheitsfähig werden, auch in der postkommunistischen Ex-DDR Zuspruch finden. Es gibt im Osten auch nachweisbar mehr rechte Schreihälse als im Westen, und sie stoßen auf mehr Toleranz / Akzeptanz. Kurzum: die Spaltung ist deutlich größer als im Westen – und damit wird auch eine Spaltung zwischen Ost und West erkennbar.

II.

Was wir gerade erleben ist also dies: Hinter all den anderen Konflikten (Migration, Sozialstaat, Europa, Globalisierung) bricht gerade ein alles überwölbendes Problem auf. Es wurde fast dreißig Jahre lang geleugnet, verdrängt, ja tabuisiert. Wenn Horst Seehofer nun die Migration als Mutter aller Probleme bezeichnet, greift er zu kurz. Auch Mutti Merkel ist nicht die Mutter aller Probleme, sie ist nur ein Symptom. Mutter der deutschen Widrigkeiten ist ein niemals aufgearbeiteter Wendeschock. An der Migration entzünden sich im Osten schlecht verheilte Wunden, die natürlich auch mit dem braunen Erbe der DDR zu tun haben, wer wollte das leugnen, mit eingeübten Ressentiments gegenüber allem, was nicht auf Norm zu bringen ist. Klar ist aber auch: Die Bonner Republik wäre niemals dem autoritären Merkelschen Willkommenswahn so gefügig gefolgt – nicht bloß, weil ihr Merkel erspart geblieben wäre. Er ist auf dialektische Weise Folge eines neonationalistischen Größenwahns. Die vereinten Deutschen sonnen sich darin, endlich Weltmarktführer im Gutsein geworden zu sein. Als ließe sich damit die eigene Geschichte bewältigen.

III.

Auch die heute ebenfalls im Osten mehr als im Westen verschmähte EU war in der Bonner Republik von einem breiten Konsens von rechts bis links getragen. Erstens war die Bonner Republik ohnehin kein Nationalstaat und tat sich leichter mit der Abgabe von „Souveränität“. Zweitens galt aber auch ein anderes Konzept der EU. Auch die EU wurde von der Wende grundlegend verändert. Sie wurde nach Osten und Südosten allzu rasch erweitert und zugleich ohne Rücksicht auf die Realität vertieft. Das konnte nicht gut gehen. Mit der Erweiterung der EU kam die erste Stufe ihrer Entgrenzung und der Einwanderung in die Sozialsysteme. Dazu der verhängnisvolle Euro – der Preis, den Deutschland zu zahlen bereit war für den sofortigen DDR-Beitritt. Die Fehler der deutsch-deutschen Währungsunion wurden auf europäischer Ebene wiederholt und potenziert. Auch dies ist Teil des Wendeschocks. Die lange ersehnte D-Mark: kaum erkämpft, war sie schon wieder futsch.

IV.

Die Ossifizierung der CDU durch das System Merkel zeigt eine andere Folge der Renationalisierung Deutschlands. Es ist der verhängnisvolle Rückfall in die traditionelle Anbetung des Staates, ihrer jeweiligen Führer und Institutionen, unabhängig von der Staatsform. Wie beobachten einen neuen Untertanengeist, dem sich sogar die auf ihre Kritikfähigkeit so stolzen Medien anschließen. Wer die Kanzlerin ablehnt, wird als Feind der Demokratie denunziert. Absurderweise ist Deutschland mit der Demokratisierung des Ostens nicht demokratischer geworden. Und, auch das steht fest: Viele Ostdeutsche haben dafür ein empfindlicheres Sensorium.

V.

Der Begriff „Offene Gesellschaft“, den ich in meinem umstrittenen Text wiederholt verwende, ist offenbar weitgehend unbekannt oder wird nach Lust und Laune missverstanden. Er ist weder mit der nun so heftig beschworenen Weltoffenheit noch mit offenen Grenzen zu verwechseln. Im Gegenteil, offene Gesellschaften müssen sich schützen, damit sie offen bleiben, vor allem, gegen totalitäre Weltanschauungen und Religionen. Karl Popper, auf den der Begriff zurück geht, (vergleiche auch auf TE den aufschlussreichen Beitrag von Josef Kraus) sieht die tieferen Ursachen der nationalsozialistischen Katastrophe im Schock des Übergangs aus der „geschlossenen“ Stammesgesellschaft in die „offene“ Gesellschaftsordnung, die die Zivilisation mit Hilfe der kritischen Vernunft weiterentwickelt. Die Hauptfeinde der offenen Gesellschaft erkennt Popper in den Ideen von Platon, Hegel und Marx. Platon setzt auf die Diktatur von Eliten. Hegel auf die Diktatur eines vermeintlichen vollkommenen Staates, Marx auf die Diktatur einer Klasse. Poppers erster Band von „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ endet mit dem Satz: „Wir können wieder zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit.“ Ich weiß dem nichts hinzuzufügen.

VI.

Der neue Spielfilm von Oskarpreisträger Henckel von Donnersmarck hatte in dieser Woche in Venedig Premiere. Er folgt ziemlich frei der Biografie des derzeit berühmtesten deutschen Malers Gerhard Richter durch zwei deutsche Diktaturen. Nach der Flucht aus der DDR landet er in der Bonner Republik und damit in einer rauschhaft empfundenen Freiheit. Endlich am Ziel! Doch hat sich dieses Ziel bis zu Unkenntlichkeit verändert. Die Bonner Republik ist bereits Geschichte. Dieses tiefe Gefühl eines Verlustes ist im Osten wie im Westen zu finden. Das Gelobte Land, dem die Ostdeutschen beizutreten hofften, löste sich mit dem Beitritt ebenso auf wie die DDR. Ein Trauma – das offenbar jetzt erst spürbar wird. So ist das oft mit Traumata, manchmal brechen sie mit ganzer Wucht erst lange nach dem Ereignis auf.

PS:

„Herles fällt auf“ legt eine Pause ein. Freuen sie sich nicht zu früh! Sie hat mit den laufenden Ereignissen nichts zu tun. Bin nur mal kurz weg.

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Kommentare ( 184 )

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Rebell
6 Jahre her

Herr Herles. Ich bin ein so genannter Wessi, hatte aber in meinem Leben viel Kontakt mit so genannten Ossis. Ich verzichte mal auf ausufernde Erfahrungswerte, stelle aber etwas ganz entscheidendes in den Mittelpunkt, weil es den Unterschied auf das böse Spiel in Berlin in den Grund der Sichtweise dieser Leute verdeutlicht. JEDER, der in der DDR sozialisiert wurde und etwas Einblick in die Regeln dieser Gesellschaftsordnung hatte, für den ist es absolut gesichertes Wissen, dass Merkel, Gauck, Gysi und reichlich andere, Stasimitarbeiter waren. Die Karrierestationen dieser Leute wäre ohne Stasitätigkeit unmöglich gewesen. Geprägt durch die dem zu Grunde liegende Ideologie.… Mehr

Manfred Gimmler
6 Jahre her

Wer bitteschön mag sich wohl wünschen, daß Sie der Mehrheit der Kommentatoren folgen? Vermutlich keiner! Vielmehr glaube ich, daß Sie selbst dann noch geschätzt werden, wenn Sie sich aus Gründen der Nostalgie mal wieder in Ihrer „Bonner Blase“ aufhalten.

Alexis de Tocqueville
6 Jahre her

„Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“ Das Problem: Genau das Argument führen die Grünen gegen rechts ins Feld. „Wir sind ja so tolerant aber nicht gegen Nazis. Da machen wir eine Ausnahme. Weil die so böse sind. So intolerant.“ Darum gefällt mir der Satz so gar nicht. Er impliziert die Intoleranz bzw. Intoleranten zu bekämpfen. Tolerare = aushalten, ertragen. Ja, aber was und wieviel? Das Dilemma kann Popper nicht lösen. Jeder kann die Toleranz für sich in Anspruch nehmen. Krieg ist Frieden. Ich bin hier der Tolerante, und nur intolerant, weil… Mehr

Alexis de Tocqueville
6 Jahre her

Lieber Herr Herles, Sie schreiben, es ergäbe wenig Sinn, die monochrome Einheitsmeinung zu beklagen, um sich dann in die Bequemlichkeit der eigenen Filterblase zurückzuziehen. Doch, das ergibt Sinn. Die Einheitsmeinung ist totalitär und bekämpft jeden, der sie nicht teilt, und zwar ganz bewusst auf perfide Art, unter der Gürtellinie. Dass das radikalisiert, liegt auf der Hand und ist ein natürlicher Prozess. Bitte appellieren Sie nicht zu sehr an unsere intellektuelle Redlichkeit. Die stand dem perfiden herrschaftsfreien Diskurs der Linken hilflos gegenüber. Wie ein Kind, dass immer weiter warum fragt, zweifeln die Revoluzzer alles an, selbst offenkundige Tatsachen, Naturwissenschaften, alles. Niemand… Mehr

Theobald Tiger
6 Jahre her

Verehrter Herr Herles, puh, das sind viele Themen, die Sie hier auf die Schnelle behandeln. Ich versuche, gegen meine Sonntagsträgheit anzukämpfen und einige Gedanken von mir zu ergänzen. 1. Die deutsche Wiedervereinigung als „Ursprungstrauma“ der späten deutschen Nachkriegszeit? Ich denke, an dieser Idee ist so manches richtig und so manches falsch. Aus Sicht vieler ehemaliger DDR-Bürger erfolgte die Wiedervereinigung überhastet und unter Verleugnung eigener Ideen, Konzepte und Befindlichkeiten. Es wurde letztlich die D-Mark gewählt (wie schon viele Autoren feststellten), und die Wiedervereinigung war viel eher ein „Anschluss“ an den Westteil der Republik als ein Zusammenschluss gleichwertiger Partner. Dass in der… Mehr

Nichzufassen
6 Jahre her

Sehr geehrter Herr Herles. Ich versteh Ihre Einleitung nicht recht. Ja, viele haben Ihrem letzten Artikel widersprochen. Hass habe ich jedoch in keinem Forumsbeitrag entdeckt (habe allerdings nur einen Teil von denen gelesen). Widerspruch ist meines Erachtens jedoch kein Grund zu ueberlegen, ob man noch richtig sei auf der Plattform, denn Widerspruch ist positiv, weil anregend, wie es auch Ihre Beitraege bei TE sind. Auch bzgl diesem heutigen Artikel von Ihnen koennte ich in Teilen Einwaende anfuehren, sehe darin aber keinen Grund, Ihre Ausfuehrungen als fehl am Platz zu sehen. Das waere dumm. Waeren sie langweilig, ja, aber das sind… Mehr

Dreiklang
6 Jahre her

1. Der „Westen“ insgesamt ist in einem masochistischen Schuldkomplex gefangen, weshalb er sich gegen Bedrohungen (z.B. den Islamismus) nicht adäquat wehren kann. 2. Die „Erbsünde“ der alten BRD ist nicht ihre Preisgabe bei der Wiedervereinigung. Sondern die übermächtigen Veteranen der NS-Zeit (egal auf welcher Seite sie waren) , die alle Geschicke des Staates bestimmten, die – unter der US-am. Glocke – zu einem bürgerlich-liberalen Konsens fanden, erstmals in der dt. Geschichte, und diesen, unter Nennung aller enormen Vorteile (Wohlstand) , der Jugend anboten. Nur scheinbar paradox scheiterten sie dabei, da die Jugend den US-Schirm als permanenten Souveränitätsverzicht deutete (womit sie… Mehr

W aus der Diaspora
6 Jahre her

Passt! “ „Wir können wieder zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit.“ Ich weiß dem nichts hinzuzufügen.“ Ich habe etwas hinzuzufügen. Denn ich halte die offene Gesellschaft für einen schönen Traum. Sie mag umsetzbar sein mit Menschen, die alle etwas erreichen wollen. In meinen Augen waren wir in den 60ern und… Mehr

Alexis de Tocqueville
6 Jahre her
Antworten an  W aus der Diaspora

“ 60ern und 70ern auf dem Weg dahin.“ Nein, da sind wir links abgebogen. Auf dem Weg in die offene Gesellschaft waren wir in den 50ern und frühen 60ern. Das Digitale ist nicht schuld am Niedergang, die Menschen haben schon vorher verlernt zu denken. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, passt wohl besser: Es wurde uns abtrainiert während man zugleich, leider oft erfolgreich, versucht hat, uns die rechte (nämlich stramm linke) Gesinnung zu indoktrinieren.

Walter Knoch
6 Jahre her

Sehr geehrter Herr Herles,

Sie kündigen für Tichys Einblick eine Auszeit an.

Sollten Sie Ihre Ankündigung wahrmachen, dann halten Sie bitte die Zeit Ihrer Abwesenheit so kurz wie möglich.

Bei allem Widerspruch, den ich mir das eine oder andere mal „anmaße“, für mich persönlich bedeuten Ihre Beiträge einen Gewinn. Es sind allemal Beiträge, die zum Nachdenken anregen, die einen beschäftigen.

Dann also, bis bald. Bis möglichst bald!

Sabine W.
6 Jahre her

>’„Herles fällt auf“ legt eine Pause ein. Freuen sie sich nicht zu früh! Sie hat mit den laufenden Ereignissen nichts zu tun. Bin nur mal kurz weg.'<

Scheint niemandem aufgefallen zu sein (so weit zum Thema einer 'Netz-Community').

Gute Erholung, Genesung – was auch immer man Ihnen wünschen kann.
Alles Gute für Sie, Herr Herles, und erfreuen Sie uns bitte bald wieder mit Ihren Kommentaren.

Walter Knoch
6 Jahre her
Antworten an  Sabine W.

Sorry, so weit habe ich nicht gedacht.

Ich schließe mich, liebe Sabine W., Ihren Wünschen an.

Was immer, Herr Herles, der Grund Ihrer Abwesenheit sein mag. Alles Gute.