Letzte Ausfahrt Nachruhm – Eine sehr kurze Geschichte historischer Irrtümer

Wolfgang Herles will träumen dürfen: Im Kern des EU-Gebildes wird eine echte Alternative zum Nationalstaat noch einmal neu begründet. Dann aber richtig. Ein stabiles Dach über starken, identitätsstiftenden Regionen. So wenig europäischer Zentralstaat wie möglich.

Lieber Roland Tichy,

darauf, dass Herr Juncker einmal auf dem Olymp der unsterblichen Europäer sitzen wird, will man keine Wette abschließen. Er hat dort aber schon Frau Merkel gesichtet. Sie werde in der Geschichte groß heraus kommen. Auf die Belohnung durch die Geschichte – die blind ist wie Justizia, nur noch weniger gerecht – setzten schon viele, die auf Erden die Karre in den Dreck steuerten. Letzte Ausfahrt Nachruhm. Oder auch letzte Ausrede. Junckers zweite Prophezeiung klingt bedrohlicher: Merkel werde alle ihre Kritiker im Amt überdauern. Es wäre sehr zu bedauern. Denn was haben die Lebenden davon, wenn sie einen Schaden bezahlen müssen, den erst die Geschichte vergolden wird? Wenn die es sich nicht anders überlegt.

I.

Ich hole ein wenig aus, lieber Tichy. Muss leider sein, wenn es um Geschichte geht. Womöglich hat selbst der liebe Gott etwas ganz anderes bekommen, als er dachte, als er Adam und Eva schuf. Der göttliche Irrtum machte Schule. Hier sind einige kleine Beispiele:

Martin Luther dachte nicht daran, die katholische Kirche zu spalten. Er wollte sie nur reformieren. Am Ende fielen die Europäer in einem dreißigjährigen Gemetzel übereinander her. Europa in Schutt und Asche, die Bevölkerung um die Hälfte dezimiert. War es wert, was Luther angezettelt hat? Wer die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges erleben musste, hatte eine andere Antwort als Herr Juncker.

Gorbatschow dachte nicht daran, die Sowjetunion auszulöschen. Er wollte nur den Kommunismus ein wenig reformieren. Am Ende gab es nicht Glasnost und Perestroika, sondern einen Polizeistaat, in dem die Untertanen bettelarm sind und ihr Herrscher unberechenbarer ist als das letzte halbe Dutzend Generalsekretäre der KPdSU zusammen. War es das wert? Gorbatschow glaubt übrigens noch immer an die Reformierbarkeit des Kommunismus. Und woran Putin glaubt, wollen wir lieber gar nicht erst wissen.

George W. Bush dachte nicht daran, den Nahen und Mittleren Osten in einen dreißigjährigen Krieg zu bomben. Er wollte mit dem Sturz des Diktators Hussein nur der Demokratie ein wenig auf die Sprünge helfen. Die Geschichte, also wir, gibt ihm nicht unbedingt Recht. Die Exzesse des Islam, die Bürgerkriege, die Flüchtlingsströme. War es das wert?

Helmut Kohl, den Juncker auch bewundert, dachte nicht daran, Europa zu erledigen, als er den Euro propagierte. Er glaubte, der Euro werde Europa unauflöslich vereinen. Die meisten Europäer haben ihren Glauben an Europas Einheit mittlerweile verloren. War es das wert?

Und Angela Merkel, die der deutschen Einheit ihre Märchenkarriere verdankt, dachte nicht daran, das Land zu spalten, ihre Partei programmatisch zu versenken und Europa den Rest zu geben. Ist das große Willkommen soviel Abschied wert?

II.

Leute wie Juncker erklären Merkel noch immer zur größten Europäerin der Jetztzeit. Sie selbst glaubt, dass all die anderen, die ihr entgegen kommen, Geisterfahrer sind, nur sie selbst nicht. Aber Geisterfahrer kommen wieder in Mode. Putin ist einer. Cameron auch. Einer gegen alle.

Die Sache ist absurd. Frau Merkel setzt auf eine europäische Lösung. Versteht darunter aber, dass alle anderen nach ihrer Pfeife tanzen und auslöffeln, was sie nicht bestellt haben. Wer schadet Europa mehr, die eine oder die anderen? Merkels nationaler Größenwahn oder die mangelnde Solidarität der anderen?

Natürlich halten sich die Ausländerfeinde für die wahren Nationalisten. In Wahrheit ziehen sie aber gegen eine Nationalistin zu Felde. Tatsächlich sind Merkels Weltmacht-der-Moral-Nationalismus und der AfD-Angst-Nationalismus miteinander verwandt und schaukeln sich gegenseitig auf. Sie zerstören beide Europa und propagieren nationale Interessen zum Maß aller Dinge. Die liberale Mitte wird zwischen den Nationalisten von Rechts und Links zerrieben.

III.

Geschichte wiederholt sich zwar nicht. Aber die Dynamik der Ereignisse gehorcht Mustern, die auf wiederkehrende Denkfehler schließen lassen.

Denkfehler Nummer eins: Die eigene Lösung sei alternativlos.

Denkfehler Nummer zwei: Man müsse die anderen nur noch davon überzeugen.

Denkfehler Nummer drei: Wo ein Wille sei, sei auch ein Weg (das Wir-schaffen-das-Syndrom).

Denkfehler Nummer vier: Man müsse die eigenen Interessen nur zu Gemeinschaftsinteressen erklären.

Denkfehler Nummer fünf: Was man selbst für den moralischen Imperativ hält, sei unbestreitbar.

Für die Summe dieser (und anderer) Fehler hatten die alten Griechen einen einfachen Begriff: Hybris.

IV.

Ein Wort also zum Nationalstaat, lieber Tichy, den jetzt wieder so viele für die letzte Weisheit der Geschichte halten wollen. Er ist sie nicht. Keine Erfindung hat mehr Menschenleben gekostet. Der Nationalstaat passt weder zu Afrika, noch zum Mittleren und Nahen Osten, weil er nicht für Stammes-Gesellschaften taugt.

Weil der Nationalstaat nicht funktioniert, versammeln sich die Massen hinter den Minaretten einer zunehmend entfesselten Religion. Nur weltliche Herrschaft kann Religion domestizieren. Das war in der langen Geschichte Europas nicht anders.

Die Nationalstaaten entstanden als Antwort auf den europäischen Absolutismus. Deshalb ist der Nationalstaat in Deutschland ursprünglich mit der Idee der Demokratie verbunden gewesen – um dann aber zur faschistischen Diktatur zu entarten.

Nur der Nationalstaat garantiere Demokratie in Europa, behaupten die Nationalisten. Diese Behauptung ist falsch. Europa geht nur den falschen Weg. Statt mehr Demokratie in den Institutionen zu schaffen, wurden immer mehr Länder aufgenommen. Vertiefen und Erweitern aber gehen nicht zusammen.

Vielleicht ist das Desaster eine Chance. Griechenland, Großbritannien, die Osteuropäer bleiben zwar alle Mitglieder eines Clubs der Nationalstaaten, dessen Zusammenhalt nach Innen und dessen Kraft nach Außen weiter schwinden werden. Im Kern dieses Gebildes aber wird eine echte Alternative zum Nationalstaat noch einmal neu begründet. Dann aber richtig. Ein stabiles Dach über starken, identitätsstiftenden Regionen. So wenig europäischer Zentralstaat wie möglich; aber für Innere Sicherheit, Grenzen, Verteidigung, Einwanderung, Außenpolitik ist er allein zuständig. Man wird doch noch träumen dürfen.

In diesem Sinne stets Ihr
Wolfgang Herles

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