Die Krise der CDU wird nicht dadurch bewältigt, dass man sie leugnet. Die Stabilität der Merkelschen Macht ist nicht identisch mit der Stabilität der deutschen Demokratie. Nur wer eine Person mit dem Staat verwechselt, kann auf so etwas kommen.
Um des lieben Friedens willen geben die Deutschen gern ihr letztes Hemd. Ihre pazifistische Streitkultur zieht selbst den Friedhofsfrieden noch dem letzten Restposten demokratischer Freiheit vor.
I.
Das ist schon daran zu sehen, dass die Deutschen unbedingt regiert werden wollen. Egal wie. Das Wie zählt nicht, denn Regiertwerden ist ein Wert an sich. Sogar der höchste. Man muss wissen, wo oben ist und wo unten. Oben ist die Kanzlerin, unten die Opposition. Die Deutschen vergötzen seit jeher (mindestens seit Hegel und dem preußischen Absolutismus) den Staat. Der Staat kann nicht irren und nicht fehlen. Er verkörpert das Recht, also die Moral. Was der Staat fordert, kann per se nicht übel sein. Weil das so ist, können auch die Regierenden an der Spitze des Staates nicht fehlen. Wer regiert, verkörpert das Absolute. Merkel ist gut, weil sie schon lange regiert. Diese Perversion demokratischen Denkens prägt noch immer das obrigkeitsstaatliche Weltbild der Deutschen. Sie gestehen es sich nur nicht ein.
II.
Irren kann nur die Opposition. Ihr größter Irrtum ist es, dass sie nicht regiert. Daraus ergibt sich zwangsläufig: Wer nicht um jeden Preis regieren will, gilt als verantwortungslos. Folglich sind Oppositionelle verantwortungslose Gesellen. Sie denken nicht an das große Ganze, den Staat. Es sei „ganz essentiell“ für den Erfolg unserer parlamentarischen Demokratie, „dass die Parteien, die zur Wahl antreten, darum kämpfen, die Regierung zu bilden – und nicht darum die Opposition zu führen“, sagte jetzt ausgerechnet Merkels Großadlatus Altmaier. Er hat im Auftrag des in Merkel personifizierten Staates alles getan, die demokratische Streitkultur zu paralysieren. Es fanden keine Debatten statt. Der Diskurs zu allen wichtigen Fragen wurde wegen Alternativlosigkeit der staatlichen Ratschlüsse eingestellt. Er ist wesentlich mitverantwortlich für die erektile Dysfunktion des Parlaments. Zu deutsch: Für seine Impotenz. Achtung, unanständiger Witz: Süßer die Glocken nie klingen, als wenn die Kanzlerin endlich gewählt wird.
III.
Wir könnten Altmaier ernsthaft antworten: Es ist ganz essentiell für die parlamentarische Demokratie, dass Regierungen wechseln. Zu diesem Zweck finden Wahlen statt. Will der Verlierer dieser Wahl unter allen Umständen weiter regieren, trägt dies zur Funktionsstörung wesentlich bei. In westlichen Demokratien gilt erstens: Das Ringen um eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament ist keine Krise, schon gar keine Staatskrise. Zweitens: Die Krise der CDU wird nicht dadurch bewältigt, dass man sie leugnet. Drittens: Die Stabilität der Merkelschen Macht ist nicht identisch mit der Stabilität der deutschen Demokratie. Nur wer eine Person mit dem Staat verwechselt, kann auf so etwas kommen.
IV.
An der Vergötzung des Staates liegt es auch, dass die Deutschen keinen modernen Begriff von Freiheit haben. Was hierzulande zählt, ist allein negative Freiheit – Freiheit von. Erlösung von allen Übeln. Wer ist dafür zuständig? Der Staat, wer sonst.
V.
In Deutschland heißt es deshalb: Erst die Gleichheit, dann die Freiheit. Dafür ist kein Opfer groß genug. Aktuelles Beispiel: Wir haben ein ziemlich gutes Gesundheitssystem. Das kommt daher, dass es von den Privatkassen quer subventioniert wird. Denen soll nun in der nächsten GroKo die Luft abgedreht werden. Lieber werden alle schlechter behandelt, dafür aber gleich. Das ist der Deutschen Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Es ist nicht bloß ökonomisch dumm, es ist überhaupt bescheuert.
VI.
Erst Einheit, dann Freiheit. Ergebnis: Die deutsche Konsensrepublik. Zu diesem Komplex gehört der Mangel an innerparteilicher Freiheit in Merkels Staatspartei. Er verhindert nicht nur den demokratischen Diskurs an entscheidender Stelle. Er verhindert vor allem, dass die entscheidende Frage gestellt wird: Wo bleibt der demokratische Wechsel an der Spitze. In der CDU wird nicht bloß der Staat vergötzt, sondern auch die Kanzlerin. Noch immer. Und nur deshalb, weil sie Kanzlerin ist. Dies jetzt zu ändern wäre ganz essentiell für die parlamentarische Demokratie.
VII.
Erst Sicherheit, dann Freiheit: Ursache der deutschen Angst. Auch die Angst vor dem Wechsel gehört dazu. Teil dieses Sicherheitssystems ist das Staatsoberhaupt. Ausgerechnet der Bundespräsident stellt sich deshalb Neuwahlen in den Weg. Das liegt vielleicht auch daran, dass dieser Funktionär des herrschenden Systems nicht auf wirklich demokratischem Weg ins Amt gekommen ist.
VIII.
Der gegenwärtige Zustand der parlamentarischen Demokratie in Deutschland überfordert auch die Medien. Der allgemeinen Liebe zum Konsens folgt auch ihr Konformismus. Er schreit noch immer nach der nächsten Regierung Merkel. Als sei sie der zwingende „Auftrag“ der Wähler.
IX.
Neuwahlen sind nur solange sinnlos, wie die Wähler nur zwischen Merkel und Merkel an der Spitze der Regierung wählen können, unabhängig davon, welcher Partei sie ihre Stimme geben. Neuwahlen wären der demokratisch beste Weg, die gegenwärtige Situation zu beenden, vorausgesetzt, es treten andere Kanzlerkandidaten an. Das wäre ganz essentiell.
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„Was hierzulande zählt, ist allein negative Freiheit – Freiheit von.“ Zwar erklärt der nächste Satz, was die hierzulande darunter zu verstehen ist, allerdigs halte ich den Begriff der negativen Freiheit an dieser Stelle dennoch für falsch gewählt und missverständlich. Die negative Freiheit (des Individuums) bezeichnet im Diskurs als terminus technicus ja gerade die Grundlage einer freien Gesellschaft.
Der Artikel an sich ist natürlich hervorragend und bringt das schon von Mann skizzierte Untertanentum der Deutschen wunderbar auf den Punkt.
Ich denke nicht, dass „die Deutschen“ so sind,wie Sie hier beschreiben,sehr geehrter Herr Herles. Wohl aber treffen Ihre Beobachtungen auf einen (zu) großen Teil der Deutschen zu. Vielfach allerdings auf die Linken und staatsgläubigen Sozialisten aller Couleur,von den linken in der FDP bis hin zur SED-Nachfolgerin. Was hier wichtig ist, ist dass diese Leute verstanden haben,die Geschichte im ihrem Sinn zu interpretieren und dies den Menschen mit Hilfe des gesamten Registers an Panikmache und Schüren von Ängsten immer wieder in die Köpfe zu setzen…“bloß keine Weimarer Verhältnisse“…“Wir müssen unbedingt regiert werden“…“alles andere wäre keine Stabilität“…“Sonst Ergreifen die Rechtspopulisten die Macht“…… Mehr
Herr Herles, wären sie doch nur Kanzler, es ginge uns allen viel besser. Und das ist ernst gemeint.
Beide „Volksparteien“, CDU und SPD haben unter Merkel ihr Profil und ihre Wählerschaft zum Teil verloren. Derweil wurde das Wahlvolk ja so erzogen, dass der überwiegende Teil ein „weiter so“ bevorzugt, bevor er sich Unwägbarkeiten aussetzt. Ich halte den Werteverlust beider Parteien inzwischen für so vehement, dass auch eine CDU ohne Merkel keinen enormen Stimmenzuwachs mehr gewinnen kann und die SPD sich überhaupt nur noch mit einem kompletten Personalwechsel und neuem, am ehemaligen Stammwähler ausgerichteten Programm irgendwie retten kann.
Ich halte Ihre Einschaetzungen für realistisch bis auf eine. Und das wegen Ihrer eigenen Argumentation. Wie Sie selbst schreiben, sind die Wähler inzwischen formatiert. Deshalb glaube ich, dass sie bei Abtritt von Merkel sofort wieder zur cdU zurückkehren werden, da sie sich von dieser Partei die Wahrung ihrer Pfruende und die Rueckkehr zum Status vor der sogenannten ‚Fluechtlingskrise‘ versprechen. An nix anderem als dem hier-und-jetzt-Spass-und-Sicherheit-haben sind die letztendlich interessiert, für Vorausschau zu dumm oder aengstlich wie Vogel Strauss. Die Blase aus Konsum und Ablenkung soll unbedingt erhalten bleiben.
Warum legen die hier schon länger Schaffenden nicht einfach mal einmal die Arbeit nieder? Bin dafür!
Beschrieb Herr Herles wirklich lediglich Dysfunktionen der deutschen Demokratie? Sind denn seine als Belege einer Funktionsstörung gebrachten Beispiele für andere Staaten unzutreffend? Ist z.B. im Frankreich der Zentralisierung und der Planification die „Vergötzung des Staates“ wirklich weniger oder grundlegend anders ausgeprägt als in Deutschland? Oder geht es um tiefer verborgene Fragen? Zunächst zumindest um auch andere Demokratien nach westlichem Nachkriegsmuster? Und könnte es nicht sein, daß Herr Herles womöglich lediglich Erscheinungen aufzählte, die von innerhalb dieser Demokratie(n) wirkenden Akteuren im Zuge einer konsequenten Umsetzung dessen, was solchen Demokratien an Komponenten, Gefahren und Strukturen inhärent ist, nur manifest gemacht wurden und… Mehr
Haben Sie Dank für Ihren vortrefflichen Beitrag. Der erste Absatz diagnostiziert präzise die deutsche Verfasstheit. Dieses Land hat es den USA nie verziehen, ihm eine Demokratie verordnet zu haben, die es, insbesondere mit Bezug auf den Freiheitsgedanken, nicht verinnerlichen konnte. Wenn die Demokratie nun herausgefordert ist, werden sich nur wenige zu ihrer Verteidigung herbeilassen.
Das mit dem „Obrigkeitsdenken“ muss ich leider bestätigen. Das hat schon immer gut funktioniert, trotz Nazikatastrophe auch heute noch. Selbst die „DDR“ hat lange überlebt, bis sie schliesslich total pleite war und die Bürger dieser Diktatur auch mal Bananen essen wollten. Ich meine, in keinem anderen Land Europas wäre so etwas wie Kaiser Wilhelm oder Hitler möglich gewesen. Nun haben die Deutschen eine abgeschwächte Form dessen, sie haben Merkel. Und die denkt nicht ans aufgeben, sie macht ja alles richtig.
Das würde ja mündige Staatsbürger voraussetzen. Die aber gibt es bei uns quasi nicht. Wahrscheinlich gab es ihn nie wirklich bei uns oder aber er ist spätestens in den 80ern, mangels eines adäquaten Schutzprogramms von Greenpeace, Bund Naturschutz und den Grünen, derart unter die Räder geraten, dass man ihn allenfalls noch auf Yeti-Niveau taxieren kann. Und also es diesen nicht (mehr) gibt, wie soll er sich dann in jenem Spiegel repräsentieren können, den die Parteien in unserem politischen System eigentlich bilden sollten? Es gibt zwei Kombinationsmöglichkeiten für das Doppel Deutscher/Deutschland: hier bleiben und Untergang oder weg gehen und auch Untergang!
Ich glaube, die Deutschen sind nicht nur obrigkeitshörig oder sozialstaatsverwöhnt. Sie haben zudem in der Breite den Sinn der Demokratie gar nicht verstanden und sie sind zudem faul bis auf die Knochen. Sobald jemand am Ruder ist, der einem genehm scheint, wendet man sich anderen Dingen zu. Sobald die genehme Person am Ruder aber unter Feuer gerät, erfolgt nicht etwa ein demokratischer Diskurs, ob und warum dieses Feuer gerechtfertigt sein könnte und damit auch kein informationeller Schlagabtausch zwischen den verschieden Positionen zwecks Lösung anstehender Probleme, sondern der direkte Versuch, das Feuer im Keim zu ersticken. Bloß nicht selber denken und… Mehr