Merke: Charlie Hebdo war niemals Mainstream. Je suis Charlie dann schon. Im Mainstream wird nicht diskutiert. Nur mitgeschwommen. Schwillt der Mainstream zu stark an, überflutet er diejenigen, die nicht dem Mainstream folgen. Deshalb benötigt die Demokratie Deiche gegen den Mainstream. Talkshows sind Wasserstandsmeldungen des Mainstreams.
Lieber Roland Tichy,
wirklich große Kanzler laufen dem Mainstream nicht hinterher, sondern stellen sich ihm entgegen, formen ihn mit Überzeugungsarbeit. Adenauer schaffte so die Westbindung, Erhard die soziale Markwirtschaft, Schröder Sozialreformen. Merkel dagegen hat jahrelang ein Einwanderungsgesetz verhindert, bis sie von einem Tag auf den anderen die Grenzen unkontrolliert öffnete, weil sie glaubte, einer Stimmung zu folgen. Wer im Mainstream schwimmt, wird von Stimmungen bewegt. Seitdem regiert sie nicht mehr mit scheinbar sicherer Hand, sondern strampelt in ihren Widersprüchen.
I.
Die Mainstreamkanzlerin versuchte lange, uns einzulullen. Als Wagnerianerin weiß sie, wie das geht. Um ein Riff in der Mitte des Mainstreams kreist in anmutig schwimmender Bewegung Rheintochter Woglinde: Weia! Waga! / Woge, du Welle! / Walle zur Wiege! / Wagalaweia! / Wallala weiala weia! Alles ist gut. In Wahrheit beginnt gerade die Katastrophe, die vier Opern später mit der Götterdämmerung endet. Wenn dann die Hütte brennt, ist es zu spät.
II.
Die Kanzlerin ist gerade in der Türkei um für Menschenrechte, Pressefreiheit und Tierschutz zu demonstrieren. Außerdem muss sie dafür sorgen, dass Erdogan ihr so viele Flüchtlinge abnimmt, dass die Willkommenskultur nicht weh tut und die vielen Ertrunkenen im Mittelmeer ihr nicht angerechnet werden. Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt, heißt es bei Peter Esterhazy. Man kann den Satz paraphrasieren: Es ist elend schwer, ein Mainstreampolitiker zu sein, wenn man nicht weiß, was der Mainstream will. Ist auch nicht leicht. Der Mainstream weiß es ja selbst nicht.
III.
Im Seichten kann man nicht ersaufen, lautet die wichtigste Fernsehregel. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Auch im Mainstream kann man nicht ertrinken. Die meisten Medien halten sich daran. Alles spielt sich an der Oberfläche ab. Der Mainstream besitzt kein Flussbett, das Halt gibt. Er ist ein Überschwemmungsgebiet. Wer im Mainstream schwimmt, findet keinen Grund für Überzeugungen. Also lässt er sich treiben. Wer im Mainstream treibt, glaubt nur, zu wissen, wohin er will.
IV.
Politiker werfen sich gern in den Mainstream wie einst Mao in den Gelben Fluss. Was nach Stärke ausschaut, ist billige Propaganda. Der Mainstream wird oft für eine Art Naturgewalt gehalten. Schon Honecker sagte: Den Mainstream in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf. So war es tatsächlich. Er war mit seinem Dampfer nur auf dem falschen Strom.
V.
Das Quellgebiet des Mainstreams liegt im Massiv der Mentalität. Das macht den Mainstream in Deutschland speziell. Hierzulande wird Gleichschritt für wichtiger gehalten als die Richtung, in die marschiert wird. Hauptsache, es tanzt niemand aus der Reihe. Der Mainstream hält jedes Bächlein für populistisch, das sich ihm nicht anschließt. Im Mainstream bewegt sich der Konformist wie der Fisch im Wasser. Konformismus aber ist die Degenerationserscheinung einer verunsicherten Gesellschaft. Es zählt dann, was sich gut anfühlt. Fühlen gilt im Mainstream überhaupt mehr als Wissen und Denken. Mark Twain: Immer, wenn man die Meinung der Mehrheit teilt, ist es Zeit, sich zu besinnen.
VI.
Nehmen wir den Fall Böhmermann. Er hat immer im Mainstream geplanscht. Dass er nun mehr Wasser schluckt, als ihm lieb ist, findet er unwitzig. Aber er wird nicht untergehen. Denn der Charakterriese Bellut (ZDF-Intendant) hat ihm Rechtsschutz bis zur letzten Instanz zugesichert. Wohl dem, der so einen Arbeitgeber hat. Ich erinnere mich an meinen eigenen Fall. Als ich in einer Talkshow den Öko-Radikalen Freiberger (damals ÖDP-Vorsitzender) wegen seines Kreuzzugs gegen das Rauchen (Ich bin Nichtraucher, aber gegen Kreuzzüge) als „grünen Faschisten“ bezeichnete, hat sich das ZDF mit Abscheu und Empörung von mir distanziert. Als das Oberlandesgericht München sich später weigerte, den Ausdruck als Beleidigung zu werten, hat es den Intendanten nicht mehr interessiert. Ich gehörte nicht zum Mainstream.
VII.
Böhmermann hat Erdogan nicht seiner islamistischen Neigungen wegen geschmäht. Das wäre gegen den Mainstream gegangen. Merke: Charlie Hebdo war niemals Mainstream. Je suis Charlie dann schon. Das ist ein wesentlicher Unterschied.
Im Mainstream wird nicht diskutiert. Nur mitgeschwommen. Schwillt der Mainstream zu stark an, überflutet er diejenigen, die nicht dem Mainstream folgen. Deshalb benötigt die Demokratie Deiche gegen den Mainstream. Talkshows sind Wasserstandsmeldungen des Mainstreams.
VIII.
Richard Wagners Rheintöchter aus der Tiefe des Mainstreams: Traulich und treu / ist´s nur in der Tiefe: / falsch und feig / ist, was dort oben sich freut!
In diesem Sinne stets Ihr
Wolfgang Herles
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