„Europa“ als Beschwörungsformel

Während die Regierenden bei allen ihren großen Rettungs-Projekten – Euro, Klima, Migration - nur hohe Kosten und hoffnungslose Verwirrung zustande gebracht haben, wird einfach ein neues Thema ausgerufen: Alles wird gut, wenn es nur „europäisch“ gemacht wird.

EMMANUEL DUNAND/AFP/Getty Images

Unmerklich, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit hat sich die politische Landschaft verschoben. Zumindest gilt das für die „Themen“, auf die der tonangebende Block in Politik, Wirtschaft und Kultur setzt, um seine Hegemonie zu behaupten. Es ist eigentlich nur ein Thema – gewissermaßen nur ein Wort – auf das in diesen Wochen die ganze Politik zusammenschrumpft: „Europa“. Mit der Größe „Europa“ soll das entscheidende Gefecht veranstaltet werden, um die Opposition definitiv auf eine Randgröße zu reduzieren. Zugleich soll ein europäischer Imperativ errichtet werden, in dessen Schatten all die Mühen der Ebene, die die regierende Mehrheit nicht bewältigt, aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden. Die Überschuldung, an der man sich Zähne ausbeißt, soll sich auf einmal, wie durch wundersame Fügung, dadurch erledigen, dass man sie „europäisch“ angeht. Desgleichen die grenzüberschreitende Massenmigration, wo die heutigen Probleme der Abwehr an den Außengrenzen sich dadurch erledigen sollen, dass man „europäische“ Außengrenzen hat. Ähnliches gilt für die hartnäckigen Probleme, die es bei der Bekämpfung des Terrorismus, bei der Deindustrialisierung ganzer Länder oder bei der zunehmenden Krisenanfälligkeit der Infrastruktur gibt.

Alle diese realpolitischen Aufgabenfelder, die sich in den verschiedensten Größenordnungen zwischen kleinräumig und großräumig erstrecken, sollen nun durch eine politische Verschiebung bearbeitet werden, von der man eigentlich nur sagen kann, dass sie irgendwie eine Verschiebung „ins Große“ ist. Ja, das neue Politikthema der Regierenden bedeutet, wen man es einmal nüchtern auf seinen sachlichen Kern bringt, nichts anderes als ein Größe-Versprechen. Suggeriert wird, dass die heutigen Probleme nur durch einen größeren Politikrahmen lösbar seien.

Und in dem Moment, wo man diesen Kern der laufenden Europa-Kampagne einmal so nüchtern betrachtet, wird eigentlich sofort klar, dass das nicht klappen kann. Das Superthema „Europa“ ist eigentlich ein Nonsens. Es ist eine Beschwörungsformel und auch eine Flucht vor der Realität. Eine Flucht ins Große.

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Die neue Beschwörung des Großen – Die Beschwörung des Großen ist historisch nichts Neues. Sie appelliert an jene Milieus in der Mitte der Gesellschaft, die über keine wirklichen Erfahrungen mit den Bedingungen und Grenzen großräumigen Handelns hat, aber sich doch gerne vom „Großen“ (und vom Mitreden auf höchsten Kommandohöhen) faszinieren lässt. So kehrt das, was man früher bisweilen als „kleinbürgerlich“ bezeichnet hat, heute in neuer Gestalt bei unseren globalisierenden „urbanen Mittelklassen“ wieder. Tatsächlich ist im Inneren unserer Metropolen der Glaube an europäische Lösungen (und andere Global-Themen) viel stärker als in der Peripherie. Hier findet auch ein merkwürdiger Spagat statt: Auf der einen Seite nehmen, beruflich und privat, die Einzelexistenzen zu, aber ausgerechnet diese glauben gerne, einen unmittelbaren Zugang zu globalem Wissen und Entscheiden zu haben. Dieser Unmittelbarkeits-Glaube kennt keine institutionellen Grenzen und Vermittlungen mehr. Hier ist man unmittelbar zum Weltganzen. Von dieser Art ist der Glaube, der jetzt „für Europa“ marschieren soll, ohne Rücksicht auf die Verbindlichkeit von Verfassungsstaaten, Volkswirtschaften und Sprachkulturen. Diese Verbindlichkeit soll nur noch als „nationalistische“ Engstirnigkeit gelten.

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Eine Umkehr der Bringschuld – Mehr noch, man macht diese angebliche nationalistische („populistische“) Engstirnigkeit dafür haftbar, dass das Wundermittel „Europa“ nicht zum Zuge kommt. Man tut so, als habe man bereits bewiesen, dass „mehr Europa“ die richtige Antwort ist. Und dies Gute, das schon auf dem Weg ist, würde nun durch den bösen „Nationalismus“ aufgrund irgendeiner dämonischen Macht zu Fall gebracht. Das ist die neue Dolchstoßlegende. Hier ist oft zu hören, dass es bei so großen Themen in der heutigen Politik (und Wirtschaft) vor allem auf „Vertrauen“ ankomme. Und dass die bösen Nationalisten eben dies Vertrauen zerstörten. Merken Sie, verehrte Leser, den Trick? Unter der Hand haben diejenigen, die nicht mehr von den Anforderungen der politischen Verbindlichkeit sprechen, sondern von „Vertrauen“, die Bringschuld umgekehrt. Eigentlich müsste das europäische Projekt beweisen, dass es eine verbindliche und haftbare Einheit sein kann. Wenn es aber um Vertrauen geht, müssen Sie, die Bürger, sie als Vorschuss geben. Die Bringschuld liegt bei Ihnen. Und wenn das große Europa scheitert – dann sind Sie schuld …

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Die Europawahlen als Beschwörungswahlen – Von dieser heimtückischen Art ist die Beschwörungsformel „Europa“. Auch die Kampagne, die jetzt anlässlich der kommenden Europawahlen geführt wird, lebt im Grunde von einer Umkehr der Bringschuld. Statt zu beweisen, was ein Einheitseuropa besser machen kann, beschwört diese Kampagne nur eine angebliche Gefahr, die irgendwie in den Nationen Europas schlummert. So wird zum Beispiel in den zahlreichen Europa-Reden, die der französische Staatspräsident Macron seit 2017 gehalten hat, die Beschwörungsformel „Europa“ immer mehr zur Negativ-Beschwörungsformel des „Nationalismus“.

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In der Großeinheit „Europa“ lauert die Willkür – Aber hat Macron in seinem Brief an die „Bürgerinnen und Bürger Europas“ vom 5. März nicht weitreichende institutionelle Reformen vorgeschlagen? Ein genauerer Blick in den Text (unter anderem erschienen in „Die Welt kompakt“ vom 5.3.2019) zeigt, dass Macron die Frage nach allgemein-verbindlichen Entscheidungen und nach einer staatlichen Gesamtverantwortung auf europäischer Ebene überhaupt nicht beantwortet. Stattdessen schlägt er eine Reihe von zusätzlichen Räten und Agenturen vor (eine „Agentur zum Schutz der europäischen Demokratie“, einen „Europäischen Rat für innere Sicherheit“, einen „Europäischen Innovationsrat“ usw.). Er schlägt also eine Parallelstruktur neben den verfassungsstaatlichen Strukturen der EU-Mitglieder vor. Diese Parallelstruktur ist ein Rückschritt bei der Verbindlichkeit, bei der Transparenz und bei der Verantwortlichkeit staatlicher Strukturen. Macron erzeugt seine politische „Größe“ also nur dadurch, dass er alle republikanischen Mindestanforderungen aufgibt. Seine europäische Politik ist eine Politik ohne Staat. Eine Politik, in der die Willkür regiert. Man sollte den tiefen Zorn, der sich in Frankreich gegen den Parvenu Macron ausgebreitet hat, hierzulande ernst nehmen.

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Warum die Europa-Beschwörung auch für Deutschland eine Gefahr ist – Die französische Regierung profiliert sich „europäisch“, und die deutsche Regierung hat diesem Kurs nichts Substanzielles entgegenzusetzen. Berlin beschränkt sich darauf, einigen Vorschlägen nur halb zuzustimmen – aber in der Grundrichtung „mehr Einheits-Europa“ ist man mit Paris einig. So ist es zu einer Art europäischem Führungsduo gekommen. Das wird gerne als deutsch-französische Freundschaft verstanden, aber mit Deutschland und Frankreich hat die Vision „Europa“ gar nichts im Sinn. Die beiden Nationen zählen dort ja gar nicht mehr, sondern sind unter den Generalverdacht gestellt, Brutstätten von Nationalismus und Krieg zu sein. Aber ist es nicht umgekehrt: Werden sich nicht gerade in dem Riesenkomplex des Einheits-Europas unkontrollierbare Mächte bilden? Wohnt hier nicht schon eine zunehmende Willkür von „Richtlinien“ und „Verordnungen“, für deren Folgen in den Ländern Europas niemand verantwortlich ist?

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Die Richtungsfrage, nüchtern gestellt – Man sollte Propaganda-Alternative „europäisch oder nationalistisch“ durch die nüchterne Frage ersetzen, welche Größe für verbindliche politische Entscheidungen und verantwortungsfähige staatliche Einheiten angemessen und zukunftsfähig ist. Oder anders gesagt: Brauchen wir jetzt in Europa eine Mehr an Einheitlichkeit oder ein Mehr an Pluralismus? Dazu gehört auch die Bestandsaufnahme, wo zwischen Einheitlichkeit und Pluralismus das heutige Gebilde namens „Europäische Union“ einzustufen ist. Denn die Beziehungen in Europa haben sich seit den 1950er Jahren mehrfach stark geändert. Das heutige EU-System ist etwas fundamental anderes als die Europäischen Gemeinschaften, die als Antwort auf die Erfahrungen zweier Weltkriege geschaffen wurden. Die forcierte Verflechtung des heutigen EU-Systems kann für sich gar nicht beanspruchen, die Friedensantwort auf zwei Weltkriege zu sein. Insbesondere nach 1989 wurde die Vereinheitlichungs-Schraube stärker angezogen, und sie hat uns das beschert, was nun als „Europa“ gelten soll.

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Kommentare ( 43 )

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43 Comments
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Dr. Michael Kubina
5 Jahre her

Volle Zustimmung, wunderbar auf den Punkt gebracht, was hier abgeht und worum es geht. Es wird scheitern, aber uns so oder so teuer zu stehen kommen. Die von Demokratie faseln, graben selbst ihr Grab. Sie können nicht akzeptieren, dass Demokratie bedeutet, dass die Bürger (der Souverän) selbst entscheiden, wie sie leben wollen, wo es hingehen soll, wer es regeln soll. Politik macht (unterschiedliche) Angebote. Der Bürger ebtscheidet. Wählen hilft! ABWÄHLEN HILFT NOCH MEHR!

Johann Thiel
5 Jahre her

Wenn man Merkel und Macron auf dem Titelbild sieht, meint man, der Junker traut die beiden jetzt gleich.

bfwied
5 Jahre her

Das „Weiter-so“ kann natürlich nirgendwo hinführen, außer in die Grube. Das weiß jeder, der einen sinnvollen Gedanken fassen kann. Dass diese derzeitige EU v. a. gegenüber Asien, aber auch langsam gegenüber den USA zunehmend ins Hintertreffen gerät, kann man sehen, wenn man sich die Leistungen im weitgefassten Bereich der Bildung, der Patentanmeldungen (auch welche ist wichtig) und der Einstellung zur Industrie, dem von ihr geschaffenen Wohlstand und der sich ändernden Einstellung zur Arbeit ansieht. Die Beschwörungsformel „Europa“ scheint mir der verzweifelte Hilferuf zu sein und v. a. die Vorbereitung einer Schuldzuweisung an die Vernünftigen, die diese chaotische EU kritisieren und… Mehr

Ursula Schneider
5 Jahre her

Großartiger Beitrag, Herr Held!
Auch wer nicht zu Verschwörungstheorien neigt, kommt langsam ins Grübeln. Was steckt wirklich hinter diesem ganzen Lügengebäude? Nur Flucht vor der Realität, Verdrängung und Ablenkung? Oder das nebulöse Ziel, sämtliche Nationen zugunsten einer globalen Weltregierung abzuschaffen und damit schon mal in Europa zu beginnen?
Einen Migrationspakt, der Einwanderung zum Völkerrecht erklärt, haben wir ja schon …

Anna-Maria
5 Jahre her

Auf Herrn Ministerpräsidenten Ungarn Herrn Dr. Orban wurde in den letzten Wochen (Jahren) fast jeden Tag eingeprügelt. Gestern war in Ungarn Nationalfeiertag.
es wurden in einigen Zeitungen – ob absichtlich oder wegen Mangel Kenntnisse der ungarischen Sprache, seine rede nicht korrekt zitiert. Vielleicht hat jemand Interesse die Rede deutsch zu lesen.
http://www.miniszterelnok.hu/viktor-orbans-festrede-zum-171-jahrestag-der-revolution-und-des-freiheitskampfes-von-1848-49/

Ursula Schneider
5 Jahre her
Antworten an  Anna-Maria

Danke für den interessanten Link!
„Wir möchten einen neuen Anfang, um den Niedergang Europas aufzuhalten, um den Fieberträumen von den Vereinigten Staaten von Europa ein Ende zu bereiten …“ Was macht Orban eigentlich noch in der EVP? „Wir möchten führende Politiker an der Spitze Europas, die nicht die Probleme hierherbringen, sondern die Hilfe dorthin schaffen, wo sie benötigt wird.“ Soll das Manfred Weber sein?

RauerMan
5 Jahre her

Die Grundidee eines durch Handel und Wandel befreundeten Europa war richtig. Aber nur bis zur Einführung des Euro, der eingeführt wurde um Staaten, welchen die DM zu stark waren, auf gleiches Niveau zu bringen, was nachweislich nicht klappte, nicht klappen konnte. Diese Fehlentscheidung die der Beruhigung einiger eur.Staaten dienen sollte, war die Mutter der heute katastrophalen Geber/Nehmer-Situation, auf welcher die „Nehmer“, wie die Südeuropäer mit ihrer Stimmenmehrheit bestehen. Die Geberländer, allen voran D sind machtlos, weil ihre Kredite bei Austritt von Nehmerländern verloren wären. Siehe Target II, mit einem gewaltigen Erpressungspotential, dieses Verrechnungskonto wird ganz bewußt, derzeit vor allem von… Mehr

CIVIS
5 Jahre her

Ein Europa, und vor allen Dingen eine Europäische Union, die einerseits nur auf Größe getrimmt und nur mit Gewalt, ohne die Bürger fast aller Länder zu fragen, zusammengeschustert wurde UND die anderseits vor lauter Aktivismus nie Gelegenheit und Zeit bekommen hat, auf halbwegs normale Art langsam zusammenzuwachsen, eine solche Europäische Union ist jetzt an die Grenze ihrer Existenzberechtigung gekommen und zum Scheitern verurteilt.

Wir hätten ein Europäische Union der Nationen gebraucht; nicht eine globalisierte Einheitsunion ohne jeglichen Identitätscharakter !

IJ
5 Jahre her

„Europa“ ist für die aktuelle Politelite zur Ersatzreligion geworden, mit Religionsstiftern (Karl der Große), Aposteln (z.B. Walter Hallstein) und Gläubigen sowie Heiligsprechungen (Karlspreis). Nur dieser Pseudo-religiöse Wahn erklärt die notorische Weigerung über die Möglichkeit einer Fehlentwicklung auch nur ansatzweise nachzudenken.

Gabriele Kremmel
5 Jahre her

Ja, alles wunderbar. Nur blöd für die, denen keine Euros mehr übrig bleiben fürs grenzenlose Reisen im schönen vereinigten Europa.

Hansano
5 Jahre her

Dieses Europa ist so viel größer und wichtiger als die nur teildemokratische zentralistische Verwaltungsstruktur namens EU. Diese EU braucht einen Neustart mit einer Vision, die nicht entsprechend dem Willen der regierenden Eliten automatisch in der „Welt aus Radfahrern und Vegetariern“ resultieren darf, die der polnische Minister Witold Waszczykowski 2016 als aus Sicht der osteuropäischen Mitgliedsländer nicht erstrebenswert bezeichnete. Die Völker Europas müssen die Regeln der EU neu aushandeln. Das wird mit Leuten wie Juncker und Merkel nicht gehen. Die Wähler werden den Weg der Zerstörung des Bestehenden wählen müssen, bevor unsere politische „Elite“ und die ihnen sklavisch ergebenen Medien realisieren,… Mehr