Eigentlich wäre dies die Stunde des Bundestages. Wann, wenn nicht jetzt, wäre in Deutschland die Gelegenheit für die Legislative (das Parlament), ihre Eigenständigkeit zu zeigen und in verschiedenen dringlichen Angelegenheiten die Initiative zu ergreifen. Alle Bedingungen dafür sind da. Der Bundestag ist rechtmäßig gewählt und konstituiert, während die Bildung einer Regierung immer noch auf sich warten lässt. Offenbar haben diejenigen, die seit Jahren in der Exekutive sitzen, nichts Dringendes zu exekutieren. Gesetzesinitiativen, die ein wirkliches Eingreifen in Fehlentwicklungen bedeuten, sind von dieser Seite nicht zu erwarten. Man verteilt lieber viel Geld und setzt verbale „Zeichen“. In dieser Situation hätte der Bundestag die Möglichkeit, die Initiative zu ergreifen – und es wirklich als Gesetzgeber zu tun. Dafür ist er der durch Wahlen legitimiert. Von der Seite des Volkes sind die Bedingungen für eine stärkere Rolle des Parlaments durchaus gegeben. Der Wunsch nach entschiedeneren Eingriffen ist unüberhörbar. Bei Umfragen zu vielen Themen gibt es dafür Mehrheiten. Die Lage in Deutschland ist also durchaus reif für ein selbstbewussteres Parlament. Diese Eigenständigkeit wäre nicht nur an den Beschlüssen zu messen, sondern schon vorher an der Freimütigkeit und Redlichkeit, mit der Vorschläge erarbeitet und erörtert würden – ohne das moralische Fallbeil von Gut und Böse zu schwingen. Wie befreiend wäre das!
In der vergangenen Woche fand eine Probe aufs Exempel statt. Die AfD hatte eine Gesetzesinitiative für ein Verbot der Vollverschleierung im öffentlichen Raum eingebracht. So ein Verbot ist nichts unerhört Neues. Frankreich und Belgien haben es im Jahr 2011 beschlossen, in Österreich ist es seit Oktober 2017 Gesetz. Ein solches Verbot findet auch in der Bevölkerung viel Zustimmung. Und auch in der Bundestags-Sitzung hörte man manches Bekenntnis, dass man „natürlich“ gegen die Vollverschleierung sei.
Doch dann nahm die Angelegenheit eine ganze andere Wendung. Nicht Burka und Nikab waren jetzt das Problem, sondern die AfD. Ihre Gesetzesinitiative sei „eine Inszenierung“, war zu hören. Man brauche keinen „Nachhilfeunterricht“, sagte der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU. Sollte das heißen, dass ein Verbot der Vollverschleierung schon auf dem Weg war? Steht ein solches Gesetzesvorhaben eventuell im soeben ausgehandelten Koalitionsvertrag? Mitnichten. In der Sache stand der AfD-Initiative eine Einheitsfront von Parteien gegenüber, die an der gegenwärtigen Gesetzeslage nichts Wesentliches ändern wollen.
Der CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer erklärte, die Bundesregierung habe bereits in der vergangenen Legislaturperiode mit einem „teilweisen“ Verschleierungsverbot (das nicht den öffentlichen Raum betrifft) die Regelungsmöglichkeiten „voll ausgeschöpft“. Mit anderen Worten: Im öffentlichen Raum soll sich nichts ändern. Mit ihrer Polemik gegen die AfD verrieten die Redner, wie wenig ihnen das Thema der anwachsenden Parallelgesellschaft im Land nahegeht. Am besten soll dies Thema für die ganze kommende Legislaturperiode stillgelegt werden. So gab es keinen Vorschlag, wie das Parlament mit dem Anliegen weiter verfahren sollte. Es hatte seine Arbeit noch gar nicht richtig angefangen, da sollte es sie schon wieder abbrechen.
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Wie der Antrag angeblich „zerpflückt“ wurde – Das Anliegen der AfD wurde mit einem Pauschal-Argument abgewiesen, das sich auf den Sachverhalt „Burka und Nikab“ gar nicht näher einließ. Es wurde erklärt, dass es einem Parlament in Deutschland gar nicht möglich sei, ein Gesetz gegen das islamische Kleidergebot für Frauen in der Öffentlichkeit zu beschließen, weil „die Rechtslage“ das nicht zulasse. Hier wurde auf die Religionsfreiheit verwiesen, und diese stehe unantastbar im Grundgesetz. Und mit welcher Naivität diese Unantastbarkeit im Bundestag beschworen wurde. Es war ausgerechnet einer jener „jungen Hoffnungsträger“ der CDU, der 25-jährige Philipp Amthor, der dem Parlament beibringen wollte, was „das Recht“ schon unverrückbar festgelegt hat. „Hören Sie mir mal zu, dann können Sie noch etwas lernen über die Verfassung“, rief der Jura-Doktorand ins Rund. Der Antrag der AfD sei einfach „Quatsch“. Wer mit Grundrechten operiere, „sollte auch sein OP-Besteck kennen“.
Bei Amthor besteht das Besteck in einer Grundrechts-Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, in der das Tragen einer Burka der Religionsfreiheit zugerechnet wird. Obendrein gebe es ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, das festgestellt habe, „dass Ihr Entwurf verfassungswidrig ist“. Tja, da scheint sich jede weitere Beschäftigung des Bundestages mit der Sache zu erübrigen. So redete sich die Nachwuchshoffnung der CDU in Schwung und merkte gar nicht, dass er nichts anderes tat, als die Sache aus dem Parlament herauszureden. Aber den Medienleuten hat die Show offenbar gefallen: „Merkels Bubi gibt der AfD Saures!“ titelt die Bild-Zeitung. Und in der FAZ (24.2.2018) schreibt Markus Wehner ganz begeistert, der „junge CDU-Mann“ habe den AfD-Antrag „zerpflückt“.
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Was Religionsfreiheit bedeutet und was nicht – Gut, dann wollen wir einmal genauer schauen, wie das mit der Religionsfreiheit auf sich hat. Im Fall der Vollverschleierung geht es ja nicht um ein religiöses Bekenntnis, um die Beziehung zu Gott, sondern um einen umfassenden Gestaltungsanspruch der Lebenswirklichkeit eines Landes. Mit dem Burka- und Nikab-Gebot wird nicht nur eine Kleidung für ein religiöses Ritual, für ein Fest oder für einen Gottesdienst, vorgeschrieben, sondern ein generelles Kleidungsverhalten im öffentlichen Leben.
Dies wiederum hat nicht nur Folgen für die Trägerinnen dieser Verhüllungen, sondern für alle Teilnehmer am öffentlichen Raum, für das gesellschaftliche Miteinander. Es geht also um die Frage, ob man sich auf die Religionsfreiheit berufen kann, wenn man mit religiösen Geboten in einem neuzeitlichen-säkularen Land wie Deutschland in den öffentlichen Raum eingreifen will. Ein Blick in den Wortlaut des Artikels 4 des Grundgesetzes ist hier hilfreich. Der Artikel umfasst drei Absätze:
„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“
Hier wird sofort klar, welcher Missbrauch mit dem Begriff „Religionsfreiheit“ getrieben wird, wenn man damit eine Verhaltensvorschrift für Frauen im gesamten öffentlichen Raum und Alltagsgeschehen begründen will. Im Grundgesetzartikel 4 ist keine Rede davon, dass ein religiöses Gebot „Ständiges Tragen einer Verschleierung, die die Person in der Öffentlichkeit unkenntlich macht“ Anspruch darauf hat, als eine religiöse Handlung im Sinne der Religionsfreiheit zu gelten. Ein solches Gebot ist ein Übergriff auf die Normen der säkularen öffentlichen Freiheit. Es ist ein Eingriff in das gesellschaftliche Zusammenleben und eine erhebliche Einschränkung des Merkmals „Öffentlichkeit“. Diese Öffentlichkeit ist ein grundlegender, unveräußerlicher Verfassungsstandard demokratischer Republiken.
Historisch gehört ein solches Verschleierungsgebot in eine Zeit, in der im Namen der Religion umfassende weltliche Machtansprüche erhoben wurden. Eine solche „Durchtränkung“ des öffentlichen Lebens mit einem religiösen Verhaltensangebot ist für die Bundesrepublik Deutschland nicht hinnehmbar. Es wäre durchaus denkbar, dass es den Muslimen in Deutschland erlaubt ist, im Rahmen eines bestimmten Feiertags oder Ritus eine Vollverschleierung zu tragen (wobei dann noch zu klären wäre, ob es hier nicht eine Diskriminierung von Frauen vorliegt). Aber in jedem Fall ist ein Vollverschleierungs-Gebot für den normalen Alltag eine Verletzung grundlegender Normen unserer Verfassung. Ein Verbot dieser Verschleierung wäre konsequent im Sinn des Grundgesetzes.
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Die Freiheit der Religion entbindet nicht von der Treue zur Verfassung – In diesem Zusammenhang sollte der Gesetzgeber sich auch überlegen, ob er das Gebot der Verfassungstreue von Religionsgemeinschaften ausdrücklich ins Grundgesetz aufnimmt. In Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Angesichts der heutigen Situation in Deutschland und anderen europäischen Ländern wäre eine Erweiterung dieser Treupflicht auf die Religionsgemeinschaften geboten.
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Das „christliche Menschenbild“ ist nicht die Grundlage unserer Verfassung – Die Religionsfreiheit ist ein hohes, aber auch begrenztes Verfassungsgut. Wenn man das „christliche Menschenbild“ anstelle des Staatsvolks zum Angelpunkt der gesamten Politik macht, wie es heute vielfach geschieht, wird die Breite der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verengt. Mit einem religiös eingefärbten Menschenbild lässt sich der Wert eines weltbezogenen, öffentlichen Lebens nicht verteidigen. Das Tabu eines Burka-Verbots und die Rolle, die dabei eine absolut gesetzte Religionsfreiheit spielt, zeigt das überdeutlich.
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Steht das Bundesverfassungsgericht über dem Parlament? – In dieser Auseinandersetzung ist noch ein zweites, institutionelles Grundproblem enthalten: Wer stellt eigentlich fest, was im Sinne unseres Grundgesetzes ist und was nicht? In der Bundestagsdebatte wurde der Text unserer Verfassung gar nicht zitiert, sondern nur Auslegungen des Bundesverfassungsgerichts (und diese auch nur plakativ). Das Beispiel „Religionsfreiheit“ zeigt, dass man „die Verfassung“ und „die Auslegung der Verfassung“ nicht gleichsetzen darf. Man darf den auslegenden Richtern nicht den gleichen Rang einräumen wie der Verfassung selbst.
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts sind keineswegs die alleinigen Repräsentanten der Verfassung im Lande. Sie bleiben Teil der Judikative und sind damit der Gewaltenteilung unterworfen. Sie stehen nicht über den Beschlüssen der Legislative (Bundestag und Bundesrat). Wäre es so, hätten wir eine Demokratie unter Richter-Vorbehalt. Aber die Verfassungsrichter „sind“ nicht das Verfassungsrecht, sondern sie „sprechen“ es nur. Auch hier empfiehlt es sich, den Text des deutschen Grundgesetzes genau zu lesen. In Artikel 20, Absatz 3 steht, dass die Legislative „der Verfassung“ untersteht, nicht aber dem „Verfassungsgericht“. Dies Gericht ist Teil der Judikative. Zur Judikative ist an gleicher Stelle im Artikel 20 festgelegt: Exekutive und Judikative unterstehen „Recht und Gesetz“.
Es ist also keineswegs so, dass das Bundesverfassungsgericht „der“ Repräsentant der Verfassung ist und das Parlament nur eine nachgeordnete Gesetzeszuständigkeit hat. Gewiss kann ein eklatanter Verstoß gegen das Grundgesetz vorkommen und das Verfassungsgericht die Notbremse gegen die Legislative ziehen. Aber viel häufiger sind begrenzte Auslegungskonflikte. Einen solchen begrenzten Verfassungskonflikt zwischen Parlament und höchstem Gericht muss man nicht fürchten, denn er würde das Land nicht in einen Ausnahmezustand stürzen.
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Das Burka-Verbot ist einen Verfassungs-Konflikt wert – Für den vorliegenden Fall ist das wichtig: Auch wenn man sich über das Verständnis der Religionsfreiheit in Punkto religiöses Verschleierungsgebot streiten kann, so ist doch offensichtlich, dass es hier nicht um Sein oder Nicht-Sein der Religionsfreiheit geht. Es geht um eine Frage, die man getrost der politischen Gestaltung durch die Legislative überlassen kann – so wie es andere Länder auch tun. In diesem Sinn ist die Frage der Vollverschleierung wirklich eine Sache des Deutschen Bundestages. Und wenn die Karlsruher Richter, die sich in den vergangenen Jahrzehnten recht stark in die Politik eingemischt haben, hier ihr Veto einlegen, dann wohlan, braves deutsches Parlament: Dann ist Deine Stunde gekommen, die Zähne zu zeigen und einen Verfassungskonflikt zu wagen. Davon geht die Demokratie in Deutschland nicht unter. Und die parlamentarische Demokratie würde sogar gestärkt.
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Gewaltenteilung oder Kartell? – Nun ist diese Kolumne fast zu Ende, aber da gibt es noch einen Vorgang. Er lässt diejenigen, die die Gesetzesinitiative in so hohen Tönen abgewiesen haben, in einem ganz neuen Licht erscheinen. In der FAZ (21.2.2018) berichten Helene Bubrowski und Reinhard Müller unter der Überschrift „Spielball der Politik“ von „neuen Sorgen um Akzeptanz und Statik des Bundesverfassungsgerichts“. Anlass ist der Anspruch der Grünen, einen Kandidaten für den frei werdenden Sitz im ersten Senat des BVG vorzuschlagen. Ein Anspruch der Grünen? Einer politischen Partei? Der Leser ist erstaunt und erfährt in dem Artikel fast beiläufig von einem Deal aus dem Jahr 2016. CDU/CSU, SPD und Grüne hatten damals einen festen Turnus vereinbart, nach dem jeweils eine Partei das Vorschlagsrecht für die Nachfolge auf einem freiwerdenden Posten im Bundesverfassungsgericht hat – mit der Aussicht auf die Stimmen der anderen am Deal beteiligten Parteien. Für den Bundesrat sah der Turnus so aus: Union, SPD, Union, SPD, Grüne usw. (die 16 Verfassungsrichter der beiden BVG-Senate werden je zur Hälfte vom Bundestag und Bundesrat gewählt). Nach diesem Deal wären die Grünen jetzt mit dem Vorschlagen dran, und da gibt es wohl ein Gezerre, ob das gerade passt. Aber nicht dies Gezerre macht den Leser sprachlos, sondern das ganze System: Die viel beschworene „Unabhängigkeit der Gerichte“ ist auf einmal kurzgeschlossen mit einem ganz ordinären Parteien-Proporz. Was ist nicht alles über die Einflussnahme der Politik auf die Gerichte in Polen geschrieben worden! Und nun liest man in der FAZ (ohne dass die Autoren hier ein großes Fragezeichen setzen) folgende Zeilen, die zeigen, wie eng die Besetzung des höchsten Gerichts in Deutschland mit den tagespolitischen Interessen eines bestimmten Parteienspektrums verzahnt ist:
„Doch einen Trumpf haben die Grünen in der Hand: Union und SPD sind im Bundesrat auf sie angewiesen. Die Grünen sind derzeit an neun der sechzehn Landesregierungen beteiligt. Ohne Zustimmung der Grünen kommen SPD und Union nicht auf die erforderliche Zweidrittelmehrheit.“
Und hier schließt sich der Kreis: Während die etablierten Parteien ein unliebsames Thema mit heftigsten Tiraden von der Agenda des Bundestags entfernen wollen und sich dabei auf die Unantastbarkeit höchstrichterlicher Urteile berufen, sind die gleichen Parteien schon dabei, die Zusammensetzung dieser Gerichte unter sich auszumachen. Das darf man getrost ein politisches Kartell nennen – ein Kartell, das die Gewaltenteilung der Republik zu Gunsten einer intimen „Vernetzung“ durchbrochen hat.