Neue Mauern entstehen: eine durch die deutsche und die österreichische Gesellschaft und eine zweite zwischen den Ländern Europas, nicht nur zwischen ihren Regierungen, Politikern und Parteien.
Wie ich dazu käme, die Integration von Zuwanderern für möglich und wünschenswert zu halten, wo auf diese doch nur Ausgrenzung und Ablehnung warteten, fragte mich ein Leser dieser Meinungsseite in seinem Kommentar. Er unterscheidet sich von anderen dadurch, dass er direkt formuliert, was viele nur andeuten. Ein weiterer Kommentar sagt: „Ich denke nicht, dass die kritischen Stimmen (Griechenlandpolitik und Ausländerpolitik) in der Minderheit sind. Nur trauen sich die kritischen Stimmen nicht, Meinung öffentlich zu äußern. Der Grund dafür ist die Angst vor Repressalien und Diffamierung.“
Leser möchten nicht sichtbar kommentieren
Die neueste Entwicklung ist, dass Leser trotz möglicher Anonymität nicht sichtbar kommentieren, sondern uns ihre Gedanken ins Postfach legen (sie wissen offenbar, dass man die IP ausfindig machen kann). Auf sie zu antworten, werden wir schon aus Gründen der Manpower nicht schaffen. Aber neue Informationen und Gedanken werden wir in unseren Beiträgen verwerten und aufgreifen. Bei den mit Vollredaktionen ausgestatteten Medien ist es häufig üblich, die Kommentarfunktion nach erstem kleinem Andrang zu deaktivieren. Reaktionen bekommen Leser dort ohnehin höchst selten, meist nie. Unsere Autoren antworten auf Argumente.
Aktuelles Beispiel: In Itzehoe erfahren die Bürger aus der Tageszeitung, dass in der früheren Gruner&Jahr-Druckerei nicht das ihnen angekündigte Logistik-Zentrum für China-Handel einzieht, sondern eine Erstaufnahme-Einrichtung. Wo bleibt die Bürger-Beteiligung fragt unser Leser, der nicht genannt sein will.
Beschimpfungen und Verunglimpfungen, die jedes erträgliche Maß sprengen, schalten wir auf Tichys Einblick nicht frei. Manchmal denke ich, damit geben wir auch schon dem Druck nach, den viele Meinungsmacher ausüben. Nicht wenige von ihnen belegen täglich die Richtigkeit der Beobachtung: No ethics without aesthetics – keine Moral ohne Ästhetik. In sozialen Medien posten Wortkünstler und Sprachungewandte gleichermaßen.
Dass das verwendete Deutsch oft voller Fehler ist, stört mich weniger, der inflationäre Einsatz der Fäkalsprache und unsäglicher Beschimpfungen hingegen sehr – sie sind auch bei korrekt deutsch Schreibenden gang und gäbe. Niemand zwingt mich, an der Klowand von Facebook & Co zu lesen, richtig. Ich kriege sie halt mit, wenn ich den Austausch von Argumenten und die Hinweise auf Interessantes mit Gewinn verfolge, was es auf Facebook ebenso gibt. Einer meiner Lehrer sagte gern, wer schlampig formuliert, denkt auch schlampig, wer andere mit Dreck bewirft, ist selbst ein Schwein. Form follows function, heißt der klassische Design-Satz, die Form folgt der Funktion. Auf Facebook ist die einzige Funktion zu oft nur noch die häßlich-agressive Form.
Was ich mit zunehmendem Erschrecken sehe, sind zwei neue Mauern: eine durch die deutsche und österreichische Gesellschaft und eine zweite zwischen den Ländern Europas, nicht nur zwischen ihren Regierungen, Politikern und Parteien – und Medien. In Deutschland polarisieren sich Befürworter und Gegner der Zuwanderung, in Österreich nimmt die schon vorhandene Polarisierung zu. Die anderen EU-Länder – nicht nur Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen – stellen sich offen bis verdeckt gegen die Politik in Berlin und Wien.
Recht haben statt Ideenwettbewerb
Der öffentlich sichtbare Schlagabtausch gilt in erster Linie den anderen mit der falschen Einstellung. Ein Wettbewerb der Ideen, wie Europa mit der Wanderungswelle umgehen kann, findet nicht statt. Wer Vorschläge macht, darf sicher sein, dass sich dafür weit weniger interessieren als für eine handfeste Verurteilung und Beschimpfung von welchen Positionen und Personen auch immer. Die allerwenigsten gehen auf deine Vorschläge ein, unter ihnen sind jene in der Überzahl, die dir erklären, warum deine Idee abwegig ist. Der jeweils anderen Seite nachzuweisen, dass sie im Unrecht ist, werden viele nimmer müde, es macht offensichtlich mehr Spass draufzuhauen als zu argumentieren.
Wahrscheinlich muss die Temperatur noch weiter zunehmen, bis eine Flamme die andere auslöscht. Doch davon sind wir noch weit entfernt. In der Politik zeigt sich bei den Verantwortlichen ein Januskopf: Auf der einen Seite werden die edlen Absichten bekräftigt, auf der anderen hat die Absetzbewegung begonnen. Den Sonntagsreden folgt die Woche. Wenn aber die Woche nicht mehr bringt als die gestrige Umverteilungder Steuergelder zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und die Umverteilung von 120.000 Zuwanderern in der EU, wird denonntagsrednern bald niemand mehr trauen – links wie rechts der neuen Mauer.
Sigmar Gabriel beschrieb im Bericht aus Berlin seinen Eindruck: 25 Prozent wollten das Tor weit offen halten, 25 Prozent zumachen und die restlichen 50 Prozent wären noch unentschieden. Nach der neuesten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen ist Bewegung in Gabriels Kalkulation: Nach 55 Prozent vor zwei Wochen meinen jetzt 63 Prozent, die Krise gefährde den Zusammenhalt der EU. 57 Prozent statt 62 glauben weiter, Deutschland könne die große Zahl verkraften, 40 Prozent nach 35 glauben das nicht. 24 Prozent statt 17 meinen, für Flüchtlinge und Asylbewerber wird zu viel getan, 49 Prozent nach 57 halten das für gerade richtig und unverändert 21 Prozent sind der Ansicht, dass nicht genug getan wird. Langfristig erwarten 21 Prozent von den vielen Flüchtlingen eher Vorteile, 29 Prozent eher Nachteile und 47 Prozent beides gleichermaßen.
Im nächsten Herbst werden wir zurückschauen und uns am Kopf kratzen. Wir sehen dann, welche Parolen die Parteien für die Bundestagswahl 2017 ausgeben – und wundern uns, wie wenig und langsam Politik lernt. Dabei steht jetzt schon nichts weniger als die doppelte Integration auf der Agenda: die der Zuwanderer und jene der verfeindeten Altansässigen.
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