Der grüne Parteienstaat

Die Perspektive einer Allparteienregierung in Bund und Ländern unter moralischer Führung der Grünen ist die bisher totalste Ausformung des deutschen Parteienstaats.

IMAGO / photothek
Jennifer Morgan, Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Annalena Baerbock, Außenministerin, und Robert Habeck, Bundeswirtschaftsminister, beim Berlin Energy Transition Dialogue, 29.03.2022

Thilo Sarrazin progostiziert der ganzen Bundesrepublik eine Allparteienregierung in Bund und Ländern unter moralischer Führung der Grünen: mit einem grünschwarzen Machtzentrum in Stuttgart, Düsseldorf und Kiel statt in Berlin; weil die Grünen so die Bundesratsmehrheit organisieren können. Das ist eine kluge strategische Analyse. Aber sie kommt wie auch die gegenteilige taktische Sicht von INSA-Chef Hermann Binkert, dass es für die Grünen hochgefährlich wäre, die Ampel in Berlin durch Schwarzgrün in Düsseldorf zu konterkarieren, über die Parallelgesellschaft der Oberklasse von Medien, Politik und ihrer organisierten „Zivilgesellschaft“ nicht hinaus.

Teilweise außerhalb der Oberklassen-Blase beleuchtet Max Mannhart den Erfolg der Grünen nicht als Generationenfrage – CDU und SPD hätten die Inhalte der Grünen ohnehin schon übernommen und ihre eigenen Positionen geräumt: Als großen Verlierer sieht er die FDP, die bei der Bundestagswahl bei Erstwählern wegen ihrer Kritik der Corona-Politik erfolgreich war und durch ihre 180-Grad-Wende genau in der Corona-Politik jede Glaubwürdigkeit verloren habe.

Sarrazin streift die Signalfrage Wahlbeteiligung zwar, aber in den Vordergrund, in den sie gehört, stellte sie erst Mario Thurnes in seiner Rezension von Anne Will gestern abend. Laut Landeswahlleiter ging sie von 65,2 Prozent 2017 auf nun 55.5 Prozent zurück, sank also um fast 10 Prozentpunkte. 44,5 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Stimmrecht keinen Gebrauch.

Thurnes spießt es auf: Angesichts stillstehender Betriebe und wirtschaftlicher Not ist der Obergrünen Ricarda Lang Wunsch von NRW als „erster klimaneutralen Industrieregion Europas“ eine Sternstunde des Zynismus. Diese Repräsentantin der Oberklassen-Blase markiert damit hochsymbolisch die Mauer zwischen Oben und Unten. Die da unten sehen die da oben nicht einmal, denn das wirkliche Leben der Leute, ohne deren Arbeit und stillem Funktionieren die da oben nicht ihr bequemes Leben führen könnten, findet in einer anderen Welt statt, zu der die Oberklasse keinen Zugang hat. Mit dem Existenzsprung vom nie sein Leben verdient haben müssen zum Berufspolitiker ist eine Mutation verbunden – und Mutationen sind nicht nur biologisch, sondern auch sozial irreversibel.

Der archimedische Punkt der Berliner Republik sind die Parteien in ihrer noch totaleren Besitzergreifung von Staat und Medien, Wirtschaft und Gesellschaft als in der Bonner Republik. Einer Inbesitznahme durch den Parteienstaat, in dem jede Beschränkung und Kontrolle von Macht Stück für Stück verloren ging und weiter geht. Sarrazins Perspektive der Allparteienregierung in Bund und Ländern unter moralischer Führung der Grünen ist die bisher totalste Ausformung des deutschen Parteienstaats: Wahlen sind da nur noch da, um Karrieren von Berufspolikern zu entscheiden. Um Richtung oder Inhalt von Politik geht es nicht.

Über die 44,5 Prozent der Nichtwähler wissen wir nichts, weil sich für sie keine Meinungsforscher interessieren, da sie dafür keine Aufträge aus der Oberklasse erhalten. Je weniger Wahlbeteiligung, desto besser für die Grünen, denn das macht den Weg zur Mehrheit in der Minderheit leicht.

Die Republik zerfällt mehrfach in Parallelgesellschaften: horizontal in Oberklasse und Unterklasse, vertikal innerhalb der Unterklasse in die schon lange, länger und neu hier Lebenden, die sich in befestigten und unbefestigten Vierteln selbst organisieren und tendenziell auch selbst regieren – begleitet von einer Stadtflucht der schon länger hier Lebenden und Assimilierten.

Wer es vor NRW nicht wusste, könnte es nun vielleicht sehen. Eine Korrektur des real existierenden Parteienstaats und des ihn verursacht habenden Regelwerks der Parteiengesetzgebung ist unter ihren Bedingungen nicht möglich. Zeit für eine Diskussion über die Frage: wie dann? Einige TE-Autoren haben zugesagt, daran mitzuwirken.

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Kommentare ( 135 )

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Grund_tief
2 Jahre her

Meiner Meinung nach sind CDU und FDP und FW, SPD nicht der Grünen idiologie wirklich verfallen. Sie ist nur der Weg des Seins für die Politikerkaste. Alle noch in diesen Parteien befindlichen Politiker sind nur noch ausnahmslos Fleischtrog orientiert. Die Realität ist, dass wenn man als CDU an de Trog will, nur mit der Grünen idiologie als Parteiprogramm kann, sonst springt die FDP, oder andere kleintrogparteien ein. Das Beispiel kann man auch für die SPD oder alle anderen Parteien außer der AFD nehmen. Es ist ein Irrglaube das die Nichtwähler eine homogene Masse sind die Schuld an dem Erfolg der… Mehr

Endlich Frei
2 Jahre her
Antworten an  Grund_tief

„Meiner Meinung nach sind CDU und FDP und FW, SPD nicht der Grünen idiologie wirklich verfallen“….., nein, aber den 80% in den ÖR-Medien, von denen die politische Karriere nun mal komplett abhängt. Das ist die eigentliche Katastrophe, die sich in Deutschland abspielt.
Die Wirtschaft wird sich öffentlich konziliant äußern, sich jedoch gleichzeitig diskret aus Deutschland verabschieden. Um zu überleben ist dort Realismus und nicht Utopismus gefragt…

Edwin
2 Jahre her

Ich habe auch über Jahrzehnte gedacht, wenn die Wahlbeteiligung unter 50% fällt, dann wird durch dieses Land ein Sturm gehen, der zu einer Systemänderung in Richtung direkte Demokratie nach Schweizer Modell führt. Das war zugegebenermaßen naiv. Zum einen ist es bis heute nicht dazu gekommen, dass die Wahlbeteiligung unter 50% absinkt, obwohl 55% schon nahe dran sind, aber aus heutiger Sicht, würden die gewählten Politiker auch bei einer Wahlbeteiligung von 33 1/3% ohne größere weitere Diskussionen eine Regierung bilden. Und zum anderen geht es den Politikern fast ausschließlich nur noch um persönliche Vorteilsnahme. In dieser Gesellschaft sind insbesondere unter der… Mehr

Endlich Frei
2 Jahre her

Nicht die Grünen haben Zugewinne erlangt, sondern das Lager der Resignierten. Unfassbar, welchem Wahn dieser Ideologen-Staat nachläuft: Es ist schlimmer als Religion: Da glauben Millionen Wähler in Deuschland doch tatsächlich daran, dass ein Teil eines Staates, der weniger als 1% der Weltpopulation stellt (….auf einem Globus, auf dem jährlich mehr Menschen geboren werden als Deutschland Bürger hat….) durch eine CO2-Verringerung von theoretischen 10-20% – sprich mit dem Faktor 0,001-0,002 – Tendenz (s. o. fallend) irgendwas an der Welt-Temperatur ausrichten könnte – der fanatische Glaube (bzw. die völlige Blindheit) ist so ausgeprägt, dass man dafür etliche Billionen in den Kamin schmeißt… Mehr

Johann Thiel
2 Jahre her

Die 44,5 Prozent die nicht zur Wahl gingen, haben den Parteienstaat gewählt, genauso wie jene welche die Altparteien gewählt haben. Es ist eine überwältigende Zustimmung für eine Politik die nicht mehr auf dem christlichen Menschenbild und der Aufklärung beruht, sondern vielmehr außerhalb der Demokratie agiert und lediglich auf einer wie auch immer gearteten Mehrheit beruht.

Oneiroi
2 Jahre her

Man darf gespannt sein, ob sich im Laufe der Jahre mit Zunehmender Verarmung der Nichtwähleranteil noch weiter steigern lässt. 70-80% dürften im möglichen sein. Aber NRW….dort werden Flächendecken die Regeln eh von anderen gemacht als im dortigen Landtag sitzen. Dahingehend stellt sich lediglich die Frage, ob die mitbekommen, das sie im Prinzip nur ein kleine Minderheit wählt. Man wird abwarten müssen, ob die NRW-Mehrheit sich irgendwann auch politisch engagieren will. Wenn die SPD clever wäre, würde sie voll auf Muslimpartei in NRW umschwenken, irgendeinen sympathischen Migranten vorn hinstellen und die Clans einen/abholen und dann NRW das Kalifat ausrufen. Wenn die… Mehr

Wilhelm Roepke
2 Jahre her

Tja, so ist das, wenn die Einwohner glauben, es gäbe ein Bürgertum ohne Bürgerpflichten.

Ratloser Waehler
2 Jahre her

Je weniger Wahlbeteiligung, desto besser für die Grünen, denn das macht den Weg zur Mehrheit in der Minderheit leicht.

Das ist doch deren Strategie seit Jahren:

  1. Kritiker werden mundtot gemacht.
  2. Konsequenz: Es scheint, dass „Wir sind mehr“ stimmt.
  3. Schöner Nebeneffekt: Die Mitläufertypen laufen der „Mehrheit“ hinterher.
Johann Thiel
2 Jahre her

Der Parteienstaat ist nicht durch ein ihn verursachendes Regelwerk, sondern durch mangelnde Opposition entstanden. Eine starke Opposition ist der Garant für eine funktionierende Demokratie. Egal wie ein Regelwerk aussieht, existiert keine kraftvolle Opposition, werden sich die beteiligten politischen Kräfte schnell einig, das Regelwerk gemeinsam zu ihrem Vorteil zu nutzen. Zu diesen gehört auch der Journalismus und es ist leider das große Versäumnis der Alternativen Medien der Opposition keine Stimme zu geben und ihr auch diese Rolle gar nicht erst zuzugestehen. Herr Goergen hat zwar mit seinen Gedanken insofern recht, dass sich etwas ändern muss, aber was auch immer man anstrebt,… Mehr

Ingolf Paercher
2 Jahre her
Antworten an  Johann Thiel

Es gibt keine Opposition mehr, die ist als Nazi oder so diskreditiert. Davon abgesehen schießen die sich selber gern ins Bein. Wer so einen grottigen Wahlkampf wie in NRW absolviert, hat einige Dinge nicht kapiert: Zuerst die Hosen runter, dann sitzen und erst dann andrücken! Darüber hinaus haben die Leute aufgesteckt, denen das nicht mehr paßt.- sie wählen nicht mehr, geben ungültige Zettel ab und veranstalten allerhand anderen Kinderkram. Den G’stopften isses wurschd, für die läuft die Sache ja prima bis (vorerst) verschmerzbar, der Rest ergibt sich in Frustration. Als Normativ des Faktischen ist eine parlamentarische Opposition auf Jahre nicht… Mehr

ilmstromer
2 Jahre her

Die Disfunktionalität des Landes resultiert vor allem aus dem Umstand, daß NGOs die Systemmedien regelrecht gekapert haben. Vor den Landtagswahlen hätte eine Alternative zur ausufernden Finanzpolitik erörtert werden müssen, was allerdings nicht stattfand. Die Nichtwähler haben Angst vor der Zukunft.

Riffelblech
2 Jahre her

Es ist eine Wahrheit das sich der in festen Parteienhänden befindende Staat niemals selbst aus diesen Fesseln befreien kann. Hat sich eine solche Entwicklung schon vor der Ära Kohl entwickelt so wurde sie unter Schröder und noch viel mehr unter Merkel perfektioniert. Schon Prof. Arnim warnte vor dem ausufernden Parteienstaat, der zu nichts Anderem gebraucht wird, als die Parteispitzen zu alimentieren und mit Posten zu versorgen. Politik im Bürgersinne kann so gar nicht gemacht werden. Sind doch die ÖR, die Presse mit ihren Leitmedien, entweder in Parteienhand oder der Staat, die Parteien, haben dafür gesorgt, dass deren Einkünfte fließen. Zudem… Mehr

Franz Guenter
2 Jahre her

Erwin K. Scheuch hat das, was wir hier beobachten, in seinem Buch „Cliquen, Klüngel und Karrieren“ bereits 1992 genauso beschrieben. Wir haben ein selbstreferentielles System, das die oberen 10 Prozent in der Parteienhierarchie bestens ernährt. Das reicht diesen. Der Rest schaut in die Röhre. Wer da mit wem koaliert, egal. Echte Opposition bleibt ausgeschlossen. Rororo aktuell 12599.