Angela Merkel ist nicht Kanzlerin der EU. Aber die Berufseuropäer lassen sie gerne vorangehen. Sie sprach: Verhandelt wird erst nach dem griechischen Plebiszit – basta. Stimmen die Hellenen gegen die links-rechts-radikale Regierung Tsipras-Kammenos, fühlen sich die EU-Oberhäupter noch mehr bestätigt, alles richtig gemacht zu haben. Merkel und die anderen kontinentalen Regierungschefs deuten die momentane Einigkeit falsch, wenn sie glauben den Plan von Juncker, Tusk, Schulz, Dijsselbloem und Draghi zur „Vollendung“ der Wirtschafts- und Währungsunion in dieser Stunde über die Bühne ziehen zu können. Schuld am Griechenland-Desaster sind alle; Demut ist angesagt, nicht Hochmut.
Die Zeiten, in denen die Politik in Brüssel „boringly predictable“ war, stinklangweilig vorhersagbar, sind vorbei. Das gilt auch für das politische Leben in den EU-Ländern. Varoufakis und die 20-jährige schottische Nationalistin Mhairi Black im britischen Unterhaus signalisieren neue Zeiten der politischen Kommunikation. Wenn eines unsere Tage prägt, dann dass nur der Wandel von Dauer ist. Größer könnte der Gegensatz nicht sein. Marine Le Pen will Madame Frexit genannt werden, überall gewinnen EU-kritische und -feindliche Parteien bei Wahlen. Aber Merkel behauptet im Bundestag, „Europa ist stark, viel stärker als vor fünf Jahren“.
Nur noch ein Basar
Stefan Kuzmany bringt es im SPIEGEL auf den Punkt, wenn er politische Führung in Berlin schon mangels einer politischen Idee vermisst. Von gemeinsamen Werten ist nur die Rede, in Wahrheit ist Politik zu einem Basar verkommen. Wie das Geld welchen Steuerzahlern abgenommen wird, darüber feilscht die nationale Politik, wie es verteilt wird, dort und in der EU. Avanti dilletanti mutet der Umgang mit Flüchtlingen an, aber auch der mit der Energiewende, mit verrottenden Straßen, Brücken, Schulen und der unterentwickelten digitalen Infrastruktur. Wo läuft eigentlich etwas wirklich gut? In der Beschwichtigung der veröffentlichten Meinung: Die haben Angela Merkel und ihre Leute voll im Griff.
Wahrscheinlich sind die Frontfiguren ganz froh, wenn der tägliche Griechenland-Zirkus von der Ukraine ebenso ablenkt wie vom Terror-Phänomen Isis. Und macht Hellas Pause, ist da ja noch der NSA-Skandal mit den Amerikanern, um in den TV-Nachrichten für die tatsächlichen Probleme keinen Platz zu haben und den Redaktionsstuben keine große Arbeit zu machen. Der öffentliche Blick bleibt immer streng an der Oberfläche. So verflüchtigen sich auch vereinzelte Tiefenbohrungen schnell wieder, bevor eine tatsächliche Debatte beginnt. Das lässt sich auch mit einem Rückblick da und dort nicht reparieren: Beispielsweise dem in der WELT, der die Schuldigen am Griechenland-Desaster ins Bild setzt: Praktisch alle politischen Säulen-Heiligen sind dabei – Schmidt, Kohl, Genscher und Schröder eingeschlossen. In zehn Jahren wird das Update dieser Schuldigen-Galerie auch Merkel und Schäuble zeigen.
Nur noch eine Eigentümerversammlung
Stefan Kuzmany spricht vielen aus der Seele, wenn er schreibt, die EU ist „zu einer Art permanent tagender Eigentümerversammlung geworden, in der man sich bis aufs Blut darum zankt, wie die Kosten für die Dachsanierung des europäischen Hauses einzutreiben sind, wo man sich schon morgens am Briefkasten mit dem Anwalt bedroht, weil der Nachbar von oben zu laut Musik hört, die einem noch dazu überhaupt nicht gefällt.“ Die Friedhofsruhe im lauten Event-Deutschland von Fußball, Schlager- und anderen Sternchen täuscht die Classe Politique darüber hinweg, dass es bei vielen Bürgern rumort. Nein, ich meine weder Pegida noch Bloccupy, sondern die Normalos, von denen die Älteren denen im Fernsehen nichts mehr glauben, und die Jungen sich mit ihren Freunden auf Facebook, Twitter, Instiagram und YouTube erzählen, welche neuen Lügen es von Politikern, Journalisten und Bankern gibt.
Was sich in Europas Ländern überall abzeichnet, ist ein Tanz auf dem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Mehr Macht für Brüssel durchpauken zu wollen, kann der Auslöser sein. Die politische Integration der EU ist lange lautlos vor sich gegangen. Die Politik hat sich an eine weitgehend uninteressierte Hinnahme ihres Handelns durch die Bürger gewöhnt. Seit der Schuldenkrise bröckelt dieser passive Konsens, gegen die unbegrenzte Geldvermehrung der EZB hat sich ein beträchtliches Misstrauen aufgebaut. Die Classe Politique sollte sich nichts vormachen. Dass die Mehrheit des Volks ebenso wie der Politiker und Journalisten nicht beurteilen kann, was da wirklich vor sich geht, ändert nichts an dem feinen Gespür der Leute für richtig und falsch, schärft es eher.
Wer jetzt mehr Macht für Brüssel auf die Tagesordnung setzt statt einer selbstkritischen Bestandsaufnahme, umfassender Transparenz und gründlicher öffentlicher Diskussion, kassiert bei den kommenden Wahlen und Abstimmungen einen Denkzettel nach dem anderen. Wer jedoch einen solchen alternativen Prozess auf seine Fahnen schreibt, drängt die destruktiven politischen Ränder zurück und sorgt zugleich für eine neue Politik mit konstruktiven Zielen. Der technokratisch-bürokratische Komplex EU ist ein Irrweg. Das europäische Freiheitsprojekt braucht einen Neustart.