Den Lauf der Welt hält das nicht auf. Aber die Veränderungen kommen aus Wirtschaft und Gesellschaft. Staatsparteien und Berufspolitiker vollziehen nur verspätet nach, was dort lautlos längst entschieden ist. Der Primat der Politik ist eine Schimäre.
Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Setzt Artikel 21 des Grundgesetzes als SOLL. Der von den Parteien in Besitz genommene Staat behindert als Parteienstaat die politische Willensbildung des Volkes – beschreibt die politische Wirklichkeit des IST. So simpel diese politische Buchhaltung klingen mag, sie stimmt auf Punkt und Komma.
Das Parteiensystem
Bei den Grünen schreibt einer ihrer mittleren Funktionäre über seinen Austritt:
Mit dem Wahlerfolg der Grünen in Baden-Württemberg im März ist etwas ins Rutschen geraten, was sich nicht mehr aufhalten lässt. Ich sehe mich nicht mehr dazu in der Lage, den eingeschlagenen Weg der Partei in den liberal-konservativen Mainstream der Republik mit meinem Namen zu vertreten. Der „Point of no Return“ zur Abänderung dieses Kurses ist personell, strukturell und in der faktisch verfolgten Politik jetzt endgültig überschritten.
Sinngemäße Aussagen von Zeitgenossen, die aus anderen Parteien nach langer Mitgliedschaft, nach kleinen, mittleren und großen Parteikarrieren ausgetreten sind, gibt es ohne Zahl. Sie sagen im Kern alle: Meine frühere Partei ist verwechselbar geworden, es unterscheidet sie in entscheidenden Fragen nichts von den anderen.
Das DDR-Wort Blockparteien verwenden im Internet immer mehr als Bezeichnung der Bundestagsparteien, DDR-Kenner variieren es mit der damals offiziell und real existierenden Nationalen Front, der Sammlungsbewegung aller Parteien, Massenorganisationen und Verbände in der DDR.
System war für die Nationalsozialisten das Schimpfwort für die Weimarer Republik, Systempartei, Systempolitiker, Systembeamter und Systempresse gehörten zum Vokabular der NS-Zeit. Systempartei und Systempresse habe ich im Internet vereinzelt auch schon gesehen.
Im Vergleich dazu sind die Begriffe Altparteien (etwas unklar, seit wann es den gibt), etablierte Parteien und Mainstream-Parteien recht sachlich. (Dass die meisten Journalisten ihre Medien nicht Mainstream-Medien genannt wissen wollen, ist angesichts einer umfangreichen angelsächsischen Wissenschaftsliteratur wohl dem deutschen Provinzialismus verdankt.)
Es ist noch nicht so lange her, dass sich die schärfsten Wortmeldungen mit den letztgenannten Worten begnügten, wenn sie ihre Ablehnung der schon lange existierenden demokratischen Parteien zum Ausdruck bringen wollten. Inzwischen ist Blockparteien mit und ohne Gänsefüßchen tagtäglich im Einsatz. Die Feindschaft den alten Parteien gegenüber hat einen Höhepunkt erreicht, der kaum noch zu überbieten ist. Und das Wort Staatsversagen verwenden Medien fast schon inflationär.
Der Angleichungsgrad der Bundestagsparteien (einschließlich FDP) hat allerdings auch einen Höhepunkt erreicht, der selbst kaum noch zu überbieten ist. Du musst schon ein eingefleischter Berufsparteigänger sein, wenn du noch glaubst, dass es bei den tatsächlichen politischen Entscheidungen noch einen ernsthaften Unterschied gibt. Solche Unterschiede zelebrieren die Medien nur noch als Personenkonflikte: mehr Show als alles andere. Trump gegen Hillary ist nur das hierzulande (noch) nicht gewohnte Crash & Trash, welches die Tatsache völlig ausklammert, dass für die tatsächliche Politik der USA nahezu irrelevant ist, wie der Präsident heißt: Der politisch-mediale Komplex verkauft öffentlich mit irreführenden Botschaften, was der industriell-militärische Komplex will, aber nicht ausspricht.
Der Normalbürger hat sich schon vor sehr langer Zeit abgewandt. Was wir im Internet sofort sehen, ist die Minderheit der überwiegend eindeutigen Parteigänger des Regierungslagers (die loyale, nur noch formale Opposition eingeschlossen) auf der einen und ihrer Gegner auf der anderen Seite. Die schweigende Mehrheit dazwischen stellt auch im Internet die Mehrheit, aber du musst sehr genau hinschauen, um sie überhaupt zu entdecken, denn sie halten sich bedeckt. Ihre Themen sind von Katzen bis Reisen und so weiter politisch harmlos. Aber ab und zu entgleitet ihnen doch ein like. Einfach nur Schönes, Interessantes, Anrührendes und Witziges teilen sie gerne – von politisch Pointiertem halten sie sich fern.
Parteileben und Personenauslese
Das Innenleben der Parteien hat sich in all den Jahrzehnten der anhaltenden Verschlechterung des Images der Parteien und der Politiker nicht verändert. Die Zahl der Mitglieder von Parteien, vor allem der Volksparteien, hat dramatisch abgenommen, die Zahl der ehrenamtlich Aktiven viel weniger, auch wenn immer mehr Parteiarbeit von bezahlten Mitarbeitern gemacht wird. Ohne die „Wahlkreismitarbeiter“ der Bundestags-Abgeordneten ginge vielerorts nicht mehr viel. Dieser Hinweis auf eine schleichende Verlagerung der Parteienfinanzierung hin zu den Fraktionen ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die Einschleifmühle Parteiensystem beginnt mit dem Zwang des Parteiengesetzes zu viel Formalismus. Nicht wer politische Ideen hat, setzt sich auf Parteitagen aller Ebenen durch, sondern wer ein Virtuose der Geschäftsordnung ist. Den größten Formalisierungsschub und damit viel Entpolitisierung brachten die Sitten der 68er in den 1970er Jahren. Parteitagsanträge werden seitdem mit numerierten Zeilen bis in den letzen Spiegelstrich in unzähligen Änderungsanträgen abgestimmt, eine politische Erbsenzählerei, die jede Debatte über politische Richtungsentscheidungen so lange zerlegt, bis sie keine mehr ist.
Natürlich starten auch heute noch Mitglieder in Parteien, die ihre politische Sicht der Dinge, ihre Überzeugungen dort verwirklichen wollen. Die Einschleifmühle Partei sortiert sie aus, sobald sie das längere Zeit ernsthaft versuchen. Die Parteien waren am Anfang ihrer Geschichte Wahlvereine. Die richtige Meinung brachte man mit. In der Partei ging es nicht um Diskussion und Meinungsbildung, sondern um die Gewinnung von Wählern, um Wahlkampf permanent. In den 1970ern schwappte die 68er-Welle noch in ihrer unverfälschten Form über alle Parteien herein. Die Mitglieder wollten bestimmen. Heiner Geißler machte aus dem Kanzlerwahlverein CDU eine veritable Mitgliederpartei. Innerparteiliche Debatten spielten für ein, zwei Dekaden mehr Rolle als außerparteiliche. Unter Helmut Kohl setzte die Rückkehr zum Kanzlerwahlverein ein. Angela Merkel vervollständigt diese Entwicklung. Und die Medien sind in ihrer großen Mehrheit bei der Hofberichterstattung der 1950er angekommen – mit dem Unterschied, dass es keinen neuen SPIEGEL wie damals einen von Rudolf Augstein gibt.
Parteienstaat und Staatsparteien
Das Gesamtgefüge Parteiengesetz, Parteienfinanzierungsgesetz, die Bestimmungen über die Bezahlung von Abgeordneten, ihre Ausstattung mit Personal und vielen anderen sichtbaren und unsichtbaren Privilegien haben ein dichtes Geflecht gewoben – von der Gemeindeebene nach Brüssel und zurück. Da kommt keine politische und personelle Erneuerung mehr durch. Es begann in der Bonner Republik, in der Berliner Republik ist der Parteienstaat unreformierbar geworden. Die Parteien sind Staatsparteien, getragen von den Mandarinen und Eunuchen der Demokratie, den Berufspolitikern: Politik ist für sie zweitrangig, Karriere zählt. Wer sich nicht dran hält, ist eine Zeit lang nützlicher Hofnarr und dann raus.
Die Parteien haben vom Staat Besitz ergriffen, der Staat von ihnen. Parteienstaat und Staatsparteien sind zwei Seiten derselben Münze.
Den Lauf der Welt hält das nicht auf. Aber die Veränderungen kommen aus Wirtschaft und Gesellschaft. Staatsparteien und Berufspolitiker vollziehen nur verspätet nach, was dort weitgehend lautlos längst entschieden ist. Der oft beschworene Primat der Politik ist eine Schimäre.
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