Merkels Machtmuster ist ebenso simpel wie wirksam. Haben Wettbewerber ein populäres Thema, übernimm es: unfriendly takeover heißt das im Kapitalismus. Hier nur fürs Produkt, nicht die Firma.
Die Katastrophe Fukushima begann am 11. März 2011. Am 27. März kamen die politischen Ausläufer des japanischen Tsunamis in Baden-Württemberg an und schwemmten die Grünen mit Winfried Kretschmann als bürgerlicher Leitfigur ins Amt des Ministerpräsidenten: Ein Ereignis, das den merkelschen Macht-Seismographen ans obere Ende der Skala schnellen ließ.
Über Nacht änderte Angela Merkel den energiepolitischen Kurs der Bundesregierung in einem parlamentarischen Hauruckverfahren binnen dreier Monate. Der Schachzug wirkte: Ihr politisches Segelmanöver einer Halse (eben keiner Wende) nahm den Grünen und allen anderen im Ant-Kernenergie-Lager das hoch emotionale Feld als Wahlkampf-Thema wirkungsvoll weg und allen Wind aus den Segeln, wie der Blick auf die politische Regatta-Berichterstattung der Medien dokumentiert.
Merkels Machtmuster ist ebenso simpel wie wirksam. Haben Wettbewerber ein populäres Thema, übernimm es: unfriendly takeover heißt das im Kapitalismus. Hier nur fürs Produkt, nicht die Firma.
Bei der Bundestagswahl 2013 fuhr Merkel die Ernte ihres Machtmusters ein, die Union nahm um fast acht Prozentpunkte zu, die Grünen verloren. Ihr angeblicher Favorit für Koalitionen, die FDP, hatte sich selbst aus dem Rennen katapultiert. Westerwelles Partei war in der loyalen Kiellinie unsichtbar überspült worden. Die SPD übernahm diese FDP-Rolle schneller und voller, als viele erwartet hätten. Der weitere Werdegang der Sozialdemokraten erinnert mich an meinen Spott, das Projekt 18 (welches die Westerwelle-FDP nie versuchte) könne man genauso von oben wie von unten verwirklichen.
Bevor das Migrations-Debakel, das längst unterwegs war, am Politik-und-Medien-Horizont erschien, sahen viele Beobachter eine absolute Mehrheit der Merkel-Union bei den Bundestagswahlen 2017 im Bereich des Möglichen.
Als nationale wie internationale Medien Merkel nach der Begegnung mit der 14-jährigen Reem Sawihl zur „Eiskönigin“ machten, änderte Merkel erneut über Nacht den Kurs der Bundesregierung. Was seitdem in die Öffnung des Weges für die in Ungarn versammelte Migrantenmenge im letzten September an Motiven hinein interpretiert wird, bleibt Spekulation. Die Wirkung hingegen trat sofort ein. Aus der Eiskönigin machten nationale wie internationale Medien „Mutter Merkel“ und „Mutter Teresa der Flüchtlinge“ oder einfach „Mama Merkel“.
Dieses mal nahm Merkel allen, die sich selbst als Links verorten, das noch emotionalere Thema Flüchtlinge nicht nur weg, sondern versammelte alle hinter sich und wurde im Medienbild zur Anführerin einer alle Bundestagsparteien umspannenden Kanzlerinnen-Bewegung mit fast vollständiger Unterstützung der deutschen Medien, der Kirchenoberen und etlicher Industrie-Manager. Fortan gibt es keine parlamentarische Opposition mehr – nur eine innerhalb der Union.
Auf eine erneute Stimmenzunahme 2017 wird Merkel nicht setzen, weil sie rechnen kann. Selbst ein Halten des Unionsergebnisses ist kaum drin. Ich unterstelle, sie weiß das. Machttaktisch ist es für Merkel am besten, wenn sich die Verhandlungen EU und Türkei lange hinziehen. Angesichts der widerspenstigen anderen in der EU ist das der wahrscheinliche Verlauf. So lange verhandelt wird, kann das Ergebnis nicht an seiner Wirkung gemessen werden.
Als Merkel bei den Bildern von Idomeni den Kurs der Bundesregierung nicht wieder über Nacht änderte, sondern klammheimlich, verließ sie ihr Machtmuster keineswegs. Hätte sie es getan, wären die Wahlergebnisse der AfD am letzten Wahlsonntag deutlich kleiner ausgefallen. Aber nicht nur das, die Resultate von Grünen, SPD und Linken wären auch besser gewesen.
Bis jetzt sind es nur die von der Linkspartei (und der FDP), die Merkels Doppeltaktik kritisieren. Grüne und SPD schweigen zum unvereinbaren Widerspruch zwischen der Beibehaltung der Makrobotschaft „Wir schaffen das“ und der Mikropolitik, wir lassen anderen das Geschäft der Kanalisierung der Migrationswelle. Als Sammelbecken der mobilisierten Nichtwähler und Abwanderer von den etablierten Parteien dient die AfD. Hohe Wahlergebnisse der AfD sind Trumpf in Merkels Machtmuster. Denn die AfD kommt für keine Partei als Partner gegen die Merkel-Union infrage: 2017. Später ist später.
Im September fährt die AfD noch höhere Ergebnisse ein als jetzt. Mit jedem Prozent mehr AFD sinkt die rechnerische Mehrheitschance für Rot-Grün-Rot. Je mehr Stimmen für die AfD, desto ungefährdeter Merkels wie auch immer zusammen gesetzte Regierungsmehrheit 2017. Nein, Merkel hat ihr Machtmuster nicht verlassen. Ihr neuester Schachzug hat nicht nur einen Zug im Blick, sondern zwei.
Ob sie das Spielende nicht sieht oder ob es ihr egal ist, darüber mag spekulieren, wer will. Das Ergebnis steht fest.
Mittelfristig siedeln Union und AfD im Korridor unter 30 Prozent, die SPD unter 20 sowie Grüne, Linkspartei und FDP je unter 10. Auf einem Schachbrett mit solchen Figuren ist Merkel so lange unschlagbar, wie sie will. Ja, sie kann sogar der CSU erlauben, in Bayern im alten System weiter zu experimentieren. Lange gab es ein Bayern ohne erwähnenswerte FDP, warum nicht auch ohne nenneswert viel AfD.
Postscriptum 1: Ob Merkel das als ihr Muster sieht oder nicht, die Wirkung ist so.
Postscriptum 2: Trotz Parteiengesetz und Parteienfinanzierungsgesetz mutieren die Parteien zu Vorwahlvereinen für Regierungschef-Kandidaten und die Parlamente zu Wahlversammlungen für Kanzler und Ministerpräsidenten. Die repräsentative Demokratie schafft sich ab – ganz ohne Wahlrechtsänderung und Institutionenreform.
Hinter den Auflösungsgrad der Parteibindungen alter Art, der am 13. März unübersehbar wurde, führt kein Weg zurück. Personen haben die Macht in der Massen-Medien-Demokratie übernommen. An die Stelle der Herrschaft des Rechts ist das Recht der Herrschaft getreten (historisch: wieder).
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Wirklich gute Analyse, habe ich erst heute gesehen. Zwei Kommentare gegen den (leider gut begründeten) Pessimismus:
„Mittelfristig siedeln Union und AfD im Korridor unter 30 Prozent, die SPD unter 20 sowie Grüne, Linkspartei und FDP je unter 10. „
Diese Struktur hat längerfristig in Österreich einen Kurz an die Macht gebracht.
„Auf einem Schachbrett mit solchen Figuren ist Merkel so lange unschlagbar, wie sie will.“
Nicht wirklich, denn die CDU-Niedergangs-Mechanismen (gemäss obigem Zitat) begrenzen die Zeit, die sich Merkel selbst dann halten könnte, wenn sie es wollen würde. Auch das hat Österreich gezeigt.