Der Protestwähler oder die Wähler-Metamorphose

Der Protestwähler ist ein ehrenwerter Wähler, nicht mehr und nicht weniger als allen anderen bekannten und benannten Wählerarten.

© Gero Breloer/AFP/Getty Images
Berliner Runde am Abend der Bundestagswahl, 24. September 2017

Protestwähler wollen viele AfD-Anhänger für ihre Wähler bei dieser Bundestagswahl nicht hören. Die Meinungsführer-Medien vergessen auch, dazu zu sagen, dass die FDP natürlich wenigstens die Hälfte der Stimmen für sie der Protestwahl verdankt: bei dieser Wahl und vielen davor. Die Frontfigur Lindner hat sicherlich zum Ergebnis beigetragen als Gesicht des Protests gegen Merkel und Co. Programme spielten nie eine große Rolle. Dass Parteien sich nach Wahlen in der Regel nicht daran halten, ist allgemein bekannt.

In den 1960ern war es noch so wie zu Beginn der politischen Parteien im 19. Jahrhundert. Das begann sich in den 1970ern grundlegend zu ändern, bis heute nur noch Reste davon da sind. Eine Partei zu wählen, war damals eine Entscheidung fürs Leben. Nicht umsonst wird am Sonntag gewählt. Dann gingen die ordentlichen Leute sowieso in die Kirche. Die ganz Ordentlichen vor der Messe ins Wahllokal, die nicht so Ordentlichen danach. Die große und lange immer größer werdende Zahl der Arbeiter musste nachmittags, nach der Frühschicht, wählen gehen. Die meisten Nachtschichtler gaben nachmittags ihre Stimme ab. Denn wenn man am Sonntag als Arbeiter rausging, dann im Anzug.

Nichtwahl in neuer Dimension?
Die Wähler haben mehr Macht, als sie denken
Die Beziehung der Wähler zu ihrer Partei war der zu einer Konfession nicht unähnlich. Der Bäcker wählte nun mal die FDP, der Arbeiter die SPD, der Bauer die CDU. Und viele nahmen diese parteipolitische Konfession mit, auch wenn sie in andere Gesellschaftsschichten sozial aufstiegen. Nicht wählen war unanständig. Die Stimmabgabe ein Bekenntnis. Nicht selten wurde es als Anstecker am Sakko-Revers getragen. Dass auch Frauen politisch öffentlich Flagge zeigten von prominenten Ausnahmen abgesehen, begann vereinzelt erst Ende der 1960er.

Der „normale“ Wähler war ein Stammwähler. Der Wechselwähler, genau so wie der Stimmensplitter trat zum ersten Mal mit der Bundestagswahl 1967 ins Licht der Öffentlichkeit, eigentlich erst richtig mit der vorgezogenen von 1972, als Anhänger der Regierung Brandt-Scheel, der sozialliberalen Koalition, massiv für Stimmen-Splitting warben.

Die Berliner wählen die Große Koalition ab
Immer mehr Wechselwähler
Von da an erodierten die Wähler-Parteien-Beziehungen. Die Zahl der Stammwähler sank kontinuierlich parallel zu den massiven Veränderungen in der sozialen Schichtung. Am deutlichsten spürten es die Sozialdemokraten, mit der Abnahme der einfachen, angelernten Arbeiter, dann aber auch der Facharbeiter und parallel dem steten Wachstum des Staatssektors von Beamten und anderen Öffentlich-Dienstlern auf der einen und der Entstehung der Agrar-Industrie neben und über den „Bauernstand“ hinweg.

Die Parteienstrategen fingen an, die Stammwähler in Kernwähler und Stammwähler zu unterscheiden. Stammwähler geben ihre Stimme nie einer anderen Partei, gehen aber nicht immer zur Wahl. Kernwähler sind Stammwähler, die immer ihre Stimme für ihre Partei abgeben. Die letzten öffentlich zugänglichen Zahlen dazu gab es bei der Kampa 1998. Damals waren SPD wie CDU bei je 20 Prozent Kernwählern angekommen. Inzwischen dürften das eher 15 sein.

Protestwähler wollen – wie eingangs gesagt – nach dieser Bundestagswahl viele AfD-Anhänger für ihre Wähler nicht hören. Ihre Partei wäre ihres guten Programmes und ihre guten Kandidaten wegen gewählt worden. Dazu drei Bemerkungen:

Erstens: Das Wachsen des Anteils der Wechselwähler ging einher mit dem Motiv, GEGEN jemanden zu stimmen, nicht FÜR.

Zweitens: Mehr als die Hälfte der FDP-Wähler bei dieser Bundestagswahl sind Protestwähler. Die Kernwähler der FDP liegen zwischen ein und zwei Prozent.

Drittens: Der Protestwähler ist ein ehrenwerter Wähler, nicht mehr und nicht weniger als allen anderen bekannten und benannten Wählerarten.

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Kommentare ( 34 )

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Wolfgang M
7 Jahre her

Viele AfD-Wähler außerhalb Bayerns hätten CSU gewählt, wenn sie es könnten. Viele hätten die CDU von vor 1990 gewählt. Oder eine CDU mit den Werten von beispielsweise Hrn. Bosbach. Viele hätten vielleicht auch FDP gewählt. Aber Hr. Lindner hat sich erst wenige Wochen vor der Wahl dazu entschieden, gegen Merkels Flüchtlingspolitik zu sein. Das war nicht vertrauenswürdig. R2G war keine Alternative zur AfD. Umgekehrt: Die Juristen des deutschen Bundestages haben im Mai festgestellt, dass die Grenzöffnung 2015 ohne eine rechtliche Grundlage stattfand. Weder CSU, noch AfD haben dagegen geklagt. Sie sprachen zwar von Rechtsbruch und haben es bei Worten beruhen… Mehr

B. Krawinkel
7 Jahre her

Gut ausgedrückt, Herr Goergen. Dem stimme ich aber nicht zu: „Der Protestwähler ist ein ehrenwerter Wähler, nicht mehr und nicht weniger als allen anderen bekannten und benannten Wählerarten.“ Denn eigentlich sollte jede Wahl eine Protestwahl sein. Wer wählt, was er immer wählt. hat eigentlich nicht wirklich zwischen verschiedenen Positionen gewählt und widerspricht damit dem Wahlprinzip. Jemanden, der sich von Gewohnheit befreit und Lethargie löst, um anderen Konstellationen zu Mehrheiten zu verhelfen, hat sich doch wesentlich stärker mit seiner Meinungsbildung beschäftigt. Das sind doch die Leute, die eine Demokratie aktiv tragen. Die anderen sind doch nur ein fixer Posten. Wie etwa… Mehr

T. Pohl
7 Jahre her

Zurecht: Denn das Ende der Monarchie hatten wir in D. schon vor geraumer Zeit.
Sie schreiben: „Sie weiß schon dass der Bürger nicht einfältig ist“. Da bin ich mir nicht sicher. Wenn dies so wäre, dann muss sie daran glauben, daß man den Bürger einer noch-nicht-Autokratie mit SED-Methoden in der Spur halten kann (ÖR, MSM, Informationsdiät).

frederike
7 Jahre her
Antworten an  T. Pohl

Sie weiß das schon, hält sich aber für das Maß aller Dinge, sowie fehlerlos wie der Papst. Und das genau ist das Problem bei Herrschern.

Michael B.
7 Jahre her

Das betreibt man heute mittels Entfreundungen. Und ich meine ‚real life‘. Es ist tatsaechlich interessant zu sehen, in welch betraechtlichem Umfang eine einfache Meinung das Umfeld personell restrukturieren kann :D.

Hellweg
7 Jahre her

Die Pfründe schmelzen dahin, der Fuchs ist im Hühnerstall.
Die innerparteilichen Querelen gewinnen täglich an Fahrt.
Die AfD wirkt, so einfach ist das.

F.Peter
7 Jahre her

Na ja, es soll auch noch Menschen geben, die Parteiprogramme lesen und auch einmal reflektieren, was nach den letzten Wahlen von den Wahlprogrammen eingehalten oder umgesetzt wurde.
Jetzt kann man natürlich auch sagen: Wer für etwas anderes ist, ist automatisch ja auch gegen das Andere…….
Und unser Wahlrecht bei der BT-Wahl lässt ja auch differenziertes Wählen mit Erst- und Zweitstimme zu. Also doch ein paar Möglichkeiten mehr, als nur „gegen“ etwas zu sein.

Matthias Losert
7 Jahre her

Seit den 60ern wechselt das westdeutsche Stimmvieh mehr und mehr zwischen parteipolitischen Einhegungen hin und her. Davon profitierten neue Parteien. Nach der Wende89 kam das ostdeutsche Stimmvieh hinzu, was sich traute gegen ihre DDR-Regierung zu rebellieren. Womöglich kommt da noch mehr?

Seltsam, dass keine Partei hinreichend identitätsstiftend ist, um dieses wachsende Freiheitsstreben der Wähler einzuhegen. – Hat 89 nicht die Freiheit gesiegt?

Dr. Herbert J: Exner
7 Jahre her

Protest ist kein Alleinstellungsmerkmal. Jede Wahl ist eine Entscheidung FÜR eine Gruppierung und gleichzeitig GEGEN alle übrigen. Ist das dann „Protest“ gegen die übrigen? Da können doch Teile davon durchaus zustimmungswürdig sein. Im Saldo liefert jedoch die gewählte Gruppierung/Partei die besseren Aussichten. Das Philosophieren über den Charakter von Protestwählern, Wechselwählern und dergleichen ist ein unergiebiger Streit um des Kaiser’s Bart.

Berggrün
7 Jahre her

Hallo Herr Goergen, es ist schön, daß Sie versuchen, den „Protestwähler“ zu rehabilitieren. Allein halte ich das für sinnlos, denn das Wort wurde eigens erfunden (so wie der „Rechtspopulist“) in absichtlich negativer Konnotation einer Wahlabstimmmotivation. Einen Protestwähler kann es überhaupt nur geben, wenn man davon ausgeht, bzw. unterstellt, daß EIGENTLICH jeder SEINE Partei hat, sozusagen von Natur aus. Und es einer willentlichen Handlung bedarf, wider dieser natürlichen Zumessung zu handeln. Also so wie früher, nur auf die heutige Gesellschaft übersetzt: Urbane Akademiker, ev. Kirchenleute, Studenten, Medienleute: Grüne. Hausfrauen, Facharbeiter, Beamte (nicht Lehrer): CDU. Malocher, eingebürgerte Türken, Alt-68er: SPD. Ostdeutsche, ehemals… Mehr

Tesla
7 Jahre her

Ich stimme Ihnen zu, Herr Goergen. Unzufriedenheit und Enttäuschung beginnen auch immer zuerst, sich in Protest zu artikulieren.

Vor allem bin ich auch froh über Ihre dritte Bemerkung („Der Protestwähler ist ein ehrenwerter Wähler…“), denn scheinbar ist diese Erkenntnis keine Selbstverständlichkeit mehr im postdemokratischen Deutschland, wenn schon selbst Wolf Biermann den Ostdeutschen unterstellte, Demokratie und Freiheit nicht zu schätzen.

Der Cicero hat dazu heute einen Offenen Brief von der früheren Bürgerrechtlerin Angelika Barbe an Wolf Biermann veröffentlicht, der nicht nur mir aus der Seele spricht, sondern auch den Finger zielgenau in die Wunde legt.

http://cicero.de/innenpolitik/offener-brief-an-wolf-biermann-von-politischer-kultur-kann-hierzulande-keine-rede-sein