Kleinaktionäre haben zwar nichts zu sagen, aber sie können sich beliebig von ihren Aktien trennen. Diese Freiheit ist in diesen Tagen viel wert – und sollte genutzt werden.
In letzter Zeit werde ich von Freunden und Bekannten immer häufiger gefragt, ob sie ihre Aktien wegen der erneuten Eurokrise nicht lieber verkaufen sollten. Meine erste Gegenfrage lautet dann: Habt ihr eure Aktien vor 2009 oder seit 2009 gekauft? Das ist wichtig, weil Kursgewinne aus vor 2009 gekauften Aktien steuerfrei sind, während für die seitdem erzielten Kursgewinne 25 Prozent Abgeltungsteuer zuzüglich Soli und ggf. Kirchensteuer fällig werden. Zwischenbemerkung: Etwas anderes gilt für Goldbarren und Anlagemünzen aus Gold, wie Krügerrand, Maple Leaf u.a. Hier sind Gewinne aus privaten Anlagen nach einem Jahr steuerfrei. Nicht einmal Mehrwertsteuer wird fällig. Also eine beachtenswerte Ergänzung oder Alternative zum Aktiendepot.
Doch zurück zu Aktien. Viele Börsianer folgen der Devise: Gewinne laufen lassen, Verluste begrenzen. Dagegen halten es andere mit dem Spruch: Von Gewinnmitnahmen ist noch niemand arm geworden. Welche Gruppe hat recht?
Eine große Herausforderung
Die erste dürfte eher aus traditionellen Daueraktionären bestehen, die in ihrem Börsianerleben schon viel Auf und Ab mitgemacht haben und überzeugt sind, dass der langfristige Aktientrend trotz aller zwischenzeitlichen Kursschwankungen nach oben geht. Sie halten stur an ihren Aktien fest, besonders dann, wenn sie sie vor 2009 gekauft haben. An der Besteuerung ihrer Dividenden kommen sie allerdings nicht vorbei.
Dagegen herrschen in der anderen Gruppe zwei verschiedene Typen vor: Die einen versuchen mittelfristige Zyklen zu nutzen, die sich in der Regel über ein paar Jahre erstrecken, während die anderen als Trader heute ein- und morgen wieder aussteigen oder Aktien sogar im Minutentakt handeln. Letzteren mag ich keinen Rat erteilen, weil es zahllose Tradingsysteme gibt, die eher an Glücksspiel als an die Geldanlage erinnern. Also konzentriere ich mich auf Anleger, die gern Zyklen nutzen – eine große, aber geldwerte Herausforderung.
Gipfelluft ist dünn
Der Deutsche Aktienindex Dax wurde 1988 als Performanceindex erfunden, das heißt, er enthält – international ungewöhnlich – neben Kursgewinnen auch Dividenden. Nur an der Kursentwicklung gemessen, wäre sein Verlauf viel flacher. Von 1988 bis Anfang 2000 verachtfachte sich der Dax, in groben Zahlen gemessen von 1000 auf 8000 Punkte. Dazwischen flatterten die Nerven der Börsianer ganz gehörig, 1997 wegen der Asienkrise, ein Jahr darauf wegen der Russlandkrise. Wer das alles erfolgreich hinter sich gebracht und Anfang 2000 alle Aktien verkauft hat, kann nur als Glückspilz bezeichnet werden. Ich kenne trotz intensiver Suche niemanden, der das geschafft hat.
Vom 8000er Gipfel ging es bis zum Frühjahr 2003 rapide abwärts auf rund 2200 Punkte, bis 2007 erneut Gipfelluft mit nochmals 8000 Punkten aufkam, die jedoch nur kurz anhielt und bis Anfang 2009 einem Börsengewitter Platz machen musste. Erst danach begann der Gipfelsturm auf zuletzt 10.700 am vergangenen Freitag, zwischenzeitlich im Sommer 2011 durch einen Rückgang um nahezu 2000 Punkte unterbrochen, immerhin entsprechend 25 Prozent.
Jetzt lieber Gewinne mitnehmen
Es gibt Tausende von Büchern mit noch mehr an Erklärungsversuchen zum Phänomen schwankender Kurse, in letzter Zeit zunehmend aufgrund der Verhaltensforschung – immerhin ein kleiner Fortschritt. Doch entscheidend ist der individuelle Ansatz: So viele Informationen und vor allem auch eigene Erfahrungen wie möglich sammeln und im Zweifel beherzigen, dass von Gewinnmitnahmen noch niemand arm geworden ist. Geldanlage ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst, und die hängt von den individuellen Fähigkeiten ab.
Gerade in den vergangenen Wochen gab es wieder jede Menge an Prognosen und Empfehlungen. Etwa der Art: Der Dax steigt auf 12.000 Punkte, und Aktien sind alternativlos, weil sie mehr Dividende abwerfen, als es für Festgeld oder Anleihen an Zinsen gibt. Bei solchen Argumenten sollten alle Anleger hellhörig werden. Zum Dax: Von zuletzt 10.700 bis zu 12.000 Punkten wären es gerade mal 12 Prozent. Also ein im Vergleich zur Entwicklung seit Sommer 2011 oder gar seit Anfang 2009 marginaler Gewinn. Lohnt sich das Ausreizen der Kurse in der Hoffnung auf so einen Minigewinn? In Anbetracht der neuen Eurokrise nicht. Und der Unsinn mit der vermeintlichen Alternativlosigkeit hebt auf die Dividendenrendite ab, doch die ist zweifach variabel: Weil sie mit jeder Kursbewegung einer Aktie steigt oder fällt und weil die Dividende als solche keine feste, sondern eine variable Größe ist.
Der Verteilungskampf hat begonnen
Auch in Deutschland hat sich ein Begriff durchgesetzt, der für Aktionäre in nächster Zeit höchst relevant werden dürfte: Stakeholder. Damit sind alle gemeint, die irgendwie davon profitieren, dass es Unternehmen gibt: Groß- und Kleinaktionäre, Vorstände, Aufsichtsräte, mittlere und untere Angestellte, Betriebsräte, Kreditgeber und -nehmer, Kunden, Lieferanten und nicht zu vergessen der Staat in der Rolle als Steuereintreiber. Aktionäre erhalten in diesem Jahr Rekorddividenden, wobei allerdings zu beachten ist, dass Dividenden von Aktienkursen abgeschlagen werden. Vorstände kassieren Gehälter und Boni, überwiegend nicht zu knapp. Derweil sorgen Betriebsräte, vor allem in Kooperation mit den Gewerkschaften, für Druck, damit Arbeitnehmer von der bisherigen Gewinnentwicklung der Unternehmen profitieren. Kurzum, der Verteilungskampf hat begonnen, zuletzt sichtbar geworden an Streiks der Flieger- und Bahngewerkschaften sowie der IG Metall. Ihnen werden weitere folgen.
Kleinaktionäre, verniedlichend Publikumsaktionäre genannt, bilden unter den Stakeholdern eines der schwächsten Glieder. Das heißt, sie müssen die Vorschläge des Vorstands zur Dividendenhöhe üblicherweise schlucken und dürfen sie in der Hauptversammlung nur noch abnicken. Sie genießen aber eine Freiheit, die den anderen Stakeholdern nicht vergönnt ist, auch nicht den Großaktionären: Sie können sich über Nacht von ihren Aktien trennen – und sollten jetzt zumindest darüber nachdenken.
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