Falls die Briten sich aus der EU verabschieden, werden die politischen und die wirtschaftlichen Konsequenzen dramatisch sein. An den Börsen hat sich das leider noch nicht genug herumgesprochen.
Selten hat eine britische Parlamentswahl schon im Vorfeld für so hitzige Debatten gesorgt wie die am 7. Mai anstehende. Als Ursache ist schnell ausgemacht, dass der konservative Premierminister David Cameron im Fall seines Wahlsiegs einen Volksentscheid anstrebt: Darüber, ob die Briten in der EU bleiben oder aus ihr austreten wollen, ob sie also gegen oder für den Brexit sind, wie der mögliche Austritt genannt wird. Spätestens Ende 2017 soll die Entscheidung fällig sein – eine sehr lange Zeit voller Unsicherheit mit dramatischen Auswirkungen.
Aber noch ist Cameron nicht gewählt. Die Briten können im Wesentlichen zwischen ihm und Ed Miliband von der Labour Party entscheiden, der keinen Volksentscheid plant. Es gibt indes noch die mit den Konservativen verbündeten Liberaldemokraten und die europakritische nationalistische Ukip als Zünglein an der Waage. Daraus folgt, dass der Wahlausgang offener denn je ist. Und es geht ja nicht allein um den Brexit, sondern obendrein um weitere heiße Themen, wie das Aushandeln von für die Briten günstigeren EU-Verträgen, um Steuern einschließlich Steuerfreiheit für 116.000 Reiche, die in Großbritannien leben, um Immigration und Gewichtsverschiebungen innerhalb und außerhalb der EU.
Währungsturbulenzen in Sicht
Der zuletzt genannte Punkt ist besonders gravierend, denn die Briten gehören in der EU zu den Schwergewichten; gerade haben sie mit ihrer Wirtschaftsleistung die Franzosen überholt. Würden sie die EU verlassen, ergäben sich starke politische und ökonomische Verschiebungen. Dann könnte einerseits Deutschland als wichtigstes EU-Mitglied noch mächtiger werden, andererseits erhielten jedoch wirtschaftlich schwächere EU-Länder wie Frankreich und Italien Auftrieb, auch mit der Folge, dass sie Deutschland bedrängen würden, ihrer laxen Wirtschaftspolitik zu folgen. Von daher gesehen, ist sogar denkbar, dass die Briten sich noch mehr als bisher den Amerikanern zuwenden und diese ihr Augenmerk zunehmend nach Asien statt nach Europa richten.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind bereits jetzt zu spüren. Das hat auch damit zu tun, dass die Londoner City, wie die Bankenwelt jenseits des Ärmelkanals genannt wird, erfahrungsgemäß viel von dem vorwegnimmt, was auf Großbritannien zukommen kann. So sind beispielsweise die Kosten für die kurzfristige Absicherung von Währungsschwankungen zuletzt stark gestiegen. Das heißt, man erwartet Währungsturbulenzen. Die City ist neben New York die wichtigste Finanzdrehscheibe der Welt. Sie wickelt auch den größten Teil der Euro-Geschäfte ab, übt also Einfluss auf den Euro aus.
Briten sorgen für Turbokapitalismus
Noch zu Beginn der 70er Jahre war die EU eine stark frankophon angehauchte Gemeinschaft; man sprach und verhandelte überwiegend auf Französisch. Doch nachdem die Briten ihr 1973 beigetreten waren, änderte sich der Ton; Englisch wurde zur dominierenden Sprache und baute die Dominanz bis heute aus. Mit ihr zog so etwas wie der angelsächsische Geist in die EU ein: freie statt regulierte Märkte, individuelle Entfaltung statt Patriarchat. Schiede Großbritannien aus der EU aus, bestünde die Gefahr eines Rückschlags bis hin zu mehr Regulierung und Protektionismus.
Die Briten brachten allerdings auch den Turbokapitalismus mit. Die komplizierten EU-Verträge ermöglichten es ihnen: Demzufolge bleiben zum Beispiel Steuern, das Gesundheits- oder das Schulwesen national, während etwa die Finanzmärkte, Wettbewerbsfragen oder der Umweltschutz Sache der EU sind. Die Londoner Insiderin Susanne Schmidt hat ihr lesenswertes Buch „Markt ohne Moral“ zu einer Anklageschrift gegen den Turbokapitalismus gemacht. Deshalb sei sie hier kurz zitiert: „Das Arbeiten im Bankwesen hat sich während meiner Zeit in der City sehr verändert. Es ist härter, aggressiver und egoistischer geworden. Das Verständnis, Dienstleister für die Realwirtschaft zu sein, hat sich verflüchtigt; es ist der Einstellung gewichen, Banken arbeiteten vor allem für sich selbst und für ihre eigene Branche.“
Börsianer folgen dem Herdentrott
Jetzt braucht man sich nur vorzustellen, wie die City-Banker auf einen Wahlsieg David Camerons mit der Option auf den Brexit reagieren würden – ganz bestimmt aggressiv und egoistisch mit der Folge, dass nicht nur die Devisen-, sondern auch die Aktien- und Anleihenkurse extrem schwanken dürften. Ihre Reaktion auf einen Wahlsieg der Labour Party von Ed Miliband wäre kaum anders, weil dann ein Linkskurs der nächsten Regierung die Börsenstimmung eintrüben würde. Falls es keinen klaren Wahlsieger gäbe und die Wahl wiederholt werden müsste, würden die Börsianer auch nicht gerade erfreut reagieren.
Man braucht sich bei all dem nur vorzustellen, dass erstens Unruhe an den Börsen in Erwartung der hier genannten Möglichkeiten so gut wie programmiert ist und dass zweitens die bisher mehr von der Geldschwemme als von fundamentalen Faktoren nach oben getriebenen Kurse in Anbetracht der politischen Konstellation geradezu Gewinnmitnahmen provozieren. Aber warum haben Börsianer trotz der eingangs erwähnten hitzigen Debatten bisher noch nicht entsprechend reagiert? Eine – wenn auch unbefriedigende – Antwort wäre, dass sich ihre Diskussionen bisher weitgehend um den Grexit gedreht haben, also den eventuellen Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Eine weitere – stichhaltigere – Antwort besteht darin, dass Börsianer dem Herdentrott folgen. Das heißt, solange es an den Börsen aufwärts geht, schlagen sie alle Bedenken in den Wind, auch solche bezüglich der denkbaren Brexit-Folgen. Von daher gesehen versprechen die Wochen bis zum 7. Mai besonders spannend zu werden.
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