Wir gratulieren dem „Bund Deutscher Juristen“

Juristen für leichte Folter? Warum Halbwahrheiten die schlimmsten Lügen sind, und wie sie sich verbreiten: Einstieg in das Verständnis von Beschimpfungen über Medien.

„Ach, ist das echt schon so lang her?“ Beim Ordnen alter Auftritts-Unterlagen habe ich festgestellt, dass es vor Wochen ein bedeutsames Jubiläum gab – darf man noch gratulieren? Klaro, denn in diesem Fall wird der Protagonist ganz gewiss nicht böse sein, auch wenn die Parolen, mit denen er einst Schlagzeilen machte, furchterregend waren …

Eine Story wird geboren

Zum Jahresauftakt 2006 gab es folgende Info als Moderation im Nachrichtenkanal n-tv. Und bei N24. Und als Meldung im MDR, bei Spiegel Online und bei etlichen anderen Mediengrößen ebenso. „Der Bund deutscher Juristen, BDJ, will leichte Folter als Mittel zulassen, um Aussagen zu gewinnen. Das Leben Unschuldiger habe eine höheren Wert, als die körperliche Integrität von Verbrechern, sagte der Vorsitzende des Bundes Dr. Claus Grötz und forderte eine offene Diskussion über das Thema Folter.“

Ein Hammer, oder? Hätte es schon damals die heutige Internet-Kommentierungspraxis gegeben, der Hashtag #aufschrei wäre im Nu belegt gewesen. Ist das wirklich passiert? Ja, das oben Beschriebene ist so passiert, und vermutlich wäre es heute keiner Erinnerung mehr wert, wenn sich im Nachklapp nicht etwas äußerst Bemerkenswertes herausgestellt hätte: Ein entsprechendes Interview mit Herrn Grötz hatte es nie gegeben! Falls Sie nun fragen, ob der Mann wohl sauer war angesichts der falschen Zitierung und wie es ihm heute geht, so kann ich sie beruhigen – er hat die Sache recht locker gesehen, denn: es gab und gibt auch gar keinen Dr. Claus Grötz! Und nicht nur das: Es gibt nicht mal einen Bund Deutscher Juristen! Das hatte sich alles ein vergnügter Witzbold ausgedacht und ein Fax an die Nachrichtenagentur AP geschickt. Eine gewisse Neujahrsmüdigkeit allenthalben sorgte für ungeprüfte Verbreitung, und die seinerzeit kurz zuvor geführte, auch politisch begleitete Diskussion zu der Thematik erhöhte die Brisanz. (-> Daschner-Prozess) Eine Falschmeldung war ins Licht der Welt gepresst worden und provozierte Reaktionen, so was nennt man auf Neudeutsch einen „Hoax“. Nur wenige Stunden später äußerte sich eine entrüstete Vertreterin der Grünen im Radio: „Was erlaubt sich dieser Herr Grötz? Ich fordere ihn zum sofortigen Rücktritt auf!“ Bei AP häuften sich Anfragen, wie der angebliche Strafrichter am Bundesgerichtshof denn für Anfragen zu erreichen sei, also warf man da einen etwas genaueren Blick auf den Posteingang und kam zum einzig richtigen Schluss: „Uups!“ Aufgeflogen ist die Sache also erst, als Christiansen und Co. versuchten, Herrn Grötz in ihre Sitzrunden einzuladen.

Ein Lehrbeispiel

Noch immer ist die Homepage www.bunddeutscherjuristen.org online, allerdings ohne Update, sie ist lediglich ein digitales Zeitdokument. Schade eigentlich, denn mich würde durchaus die Sicht von Herrn Grötz auf aktuelle politische Fragen interessieren. Doch der Bund Deutscher Juristen hält sich bedeckt, Dr. Grötz ist abgetaucht und der/die Urheber des Ganzen bis heute unentdeckt. Lehrt uns deren Schaustück von vor 10 Jahren heute noch etwas? Wenn ja: Was genau sollte es uns lehren?

1. Mit Sicherheit ist die Sensibilität im Nachrichtengewerbe höher geworden, aber ob und wie häufig ein sog. „Hoax“ dennoch in den Medien auftaucht, ist schwer zu sagen, denn wenn der „Hoax“ richtig gut ist, so wird er erst gar nicht als solcher enttarnt. Wer weiß schon, wie oft die Geschichten hinter diesen peinlichen Klickköder-Überschriften („Ein Mann ging ins Parkhaus – was er dort fand änderte sein Leben“) lediglich irgendwelche Phantasieprodukte von Autoren sind. Können wir es nachprüfen?

2. Wann genau ist denn eine Meldung ein „Hoax“? Im Falle des Herrn Grötz und seines Bundes war die Klarstellung leicht: Die Typen gibt es allesamt nicht, Ende der Geschichte. Aber merke: Wenn Fiktion und Realität eine Schnittmenge bilden, wird es gefährlich! Bitte stellen Sie sich folgendes vor:

Irgendjemand verbreitet die Behauptung, Til Schweiger habe etwas mit Scientology zu tun. Natürlich wollen Journalisten (aus hehren Gründen der Informationspflicht versteht sich) wissen, ob das stimmt und fragen bei Schweiger nach – so steht bald in der BILD: „Til Schweiger beteuert: ‚Mit Scientology habe ich nichts zu tun!‘“ Das erfährt meine Mutter aus der Boulevardsendung BRISANT und denkt bei sich: „Guck an, der Schweiger hat was mit Scientology zu tun?“ Immer wieder klopfen kleine und große Medienvertreter bei Schweiger an, um dem prominenten Til ein kleines Scientology-Statement zu entlocken. Sobald Schweiger diesem Bedürfnis nicht (mehr) nachkommt, heißt es: „Schweiger verweigert weitere Stellungnahme zu Scientology-Mitgliedschaft.“ (Welchen Effekt das hat, dürfte klar sein.) Falls Schweiger hingegen brav und stoisch weiterhin Antworten gibt, so wird es irgendwann heißen: „Mensch, man hört ja ständig Schweiger – Scientology, Scientology – Schweiger …“ Am Schluss hat Til Schweiger nur noch eine Chance, die Debatte zu beenden: Er muss Scientology beitreten. Es gibt mittlerweile sogar komplette Internetdienste über Medien, die diese Technik zur Kunstform erhoben haben.

Wer sich distanziert, hat verloren

Ja, es ist paradox: Wer sich distanziert, gesteht dadurch gleichsam eine Distanzierungsnotwendigkeit ein, was die Distanzierungswirkung komplett ins Gegenteil verkehrt. Mein Vater hat mir zu Beginn meiner Tätigkeit für den WDR eines mit auf den Weg gegeben: „Junge, die schlimmsten Lügen sind Halbwahrheiten.“ Recht hatte er! Ergo: Wir müssen Falschmeldungen auch dann als solche bewerten, wenn diese gewisse Wahrheiten enthalten – mitunter sogar dann, wenn sie einen wahren Ursprung haben. Ich scheue mich nicht, ganz aktuell das Folgende zu sagen: Wenn behauptet wird, Frauke Petry wolle auf Flüchtlinge schießen lassen, so ist das in dieser Zuspitzung eine Falschmeldung! Das komplette Interview im Mannheimer Morgen ist leicht zu finden und gibt offenkundigen Aufschluss: Frau Petry hatte auf den Stand des geltenden Rechts verwiesen und ein demgemäßes Handeln (sprich: den GEBRAUCH von Schusswaffen) als zulässige Ultima Ratio bewertet; penetrantes Nachbohren führte zu Äußerungen, die man berechnend in das kolportierte journalistische Shoot-em-all-Fazit münden ließ und der Leserschaft als durchgeknallte Forderung unterjubelte. Doch das ist nicht wahr! Es ist ein „Hoax“! Auch und gerade dadurch, dass gefallsüchtige Fernseh-Kleber nicht müde werden, diesem „Hoax“ durch ständige Bezugnahme zu ewigem Leben zu verhelfen.

Übrigens: ein Satz wie „Der Kabarettist Ludger K. äußerte sich in seiner Kolumne bei Roland Tichy hämisch zu ZDF-Journalist Claus Kleber und schrieb wörtlich ‚Lasst uns das Thema Folter offen diskutieren‘“, wäre ein wahrer Satz! Aber bedeutet das denn gleich, dass ich Claus Kleber foltern möchte? Äh, die Frage muss ich nicht beantworten, oder? 😉

LudgerK_CD

Mehr zu Ludger unter www.ludger-k.de

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