Sagt die Wahrheit, sonst tun’s die Populisten

Politiker sollten Wahrheit nicht in Salamischeiben-Taktik nach außen sickern lassen, wenn die Populisten versprechen, die ganze Wurst auf den Tisch zu hauen. Bringen Sie große, satt machende Stücke von der Wahrheit unters Volk. Deshalb müssen Sie ja noch lange nicht sagen, wie die Wurst gemacht wurde.

Kennen Sie Hillary Clinton? Nein, kennen Sie nicht. Was Sie als »H. Clinton« zu kennen meinen, das ist ein Kaleidoskop von Image-Scherben, je nach Lichteinfall tanzend, wechselnd, auseinanderbrechend. Unser Bild von Hillary Clinton ist eine Kombination von Nachrichtenfetzen, Talking Points und Anti-Talking-Points. Clintons Wahlkampf-Maschine und ihre Willigen weltweit wollen ein »positives« Clinton-Relief in die Hirne der Welt meißeln. (US-Wahlkampf ist schon seit Längerem international.) Und ihre Gegner hauen an einem anderen Bild, klar.

Was aber stimmt? Ich weiß es immer weniger. Das bereitet mir Unbehagen.
Über Hillary Clinton kursiert besonders in den schattigen Ecken des Internets derzeit ein schrecklicher Satz. Mindestens aus Chronisten-Pflicht heraus muss ich ihn referieren: Hillary lügt selbst dann, wenn es nicht notwendig ist, einfach aus reiner Gewohnheit.

In, sagen wir mal, »kritischen« Kreisen wurde schon länger darauf hingewiesen, dass es Differenzen zwischen Clintons Aussagen und dem Offenbaren gibt. So zum Beispiel bei Hillarys Gesundheit. Clintons Kampagne verbreitete, dass ihre Gesundheit nach Jahren schwerer Probleme magischerweise wieder so-gut-wie-perfekt wäre. Pflichtgemäß wiederholten amerikanische wie deutsche Leitmedien, was die Clintonistas ihnen diktierten. Doch spätestens als Clinton bei einer Gedenkfeier zu 9/11 zusammenbrach – und jemand das filmte und online stellte – bekam das Bild von der im Grunde gesunden Hillary kritische Risse. Hatte sie immer die Wahrheit gesagt? Erzählt sie gar seit Wochen – wie bei ihren E-Mails – eine eher eigene Variante der Wahrheit?

Über Trump dagegen hört man immer wieder: »Wenigstens ist er ehrlich. Er sagt, was er denkt.« – Was für ein Kontrast!

Es wäre einfach nur unterhaltsam, wenn nicht für die ganze Welt so viel daran hinge. Trump ist ein Unternehmer und Selbstvermarkter. Er behauptet, Milliardär zu sein, und er verklagte bereits einen Journalisten, der das anzuzweifeln wagte. Trump belegt es aber nicht. Man muss wissen: Seine »innere Buchhaltung« rechnet mit ein, wie (reich) er sich gerade fühlt – und das ist kein Scherz.

Hillary Clinton hat drei Gegner

Clinton dagegen ist eine erfahrene Politikerin. Sie hat sich nachweislich in ihrer frühen Zeit für die Rechte von Frauen und Minderheiten engagiert. Sie stand ihrem Mann zur Seite, dabei waren Ihre Ambitionen von Anfang an nicht so unterschiedlich von den seinen. Er aber war der charismatischere, sie war die Aktenheberin. Also ließ sie seiner Karriere den Vortritt. Bill Clinton heiratete sie, »weil er mit ihr reden konnte«. Sie tat und tut sich schwer, Wähler via Charisma zu begeistern. Es war Disziplin, mit der sie 2001 zur Senatorin von New York gewählt wurde. Der aktuelle Wahlkampf ist ihr zweiter Anlauf zum Amt des US-Präsidenten. In ihrem ersten Anlauf, 2008, unterlag sie dem (damaligen) Hypercharismatiker Barack Obama. Nun, Jahrzehnte später als ihr zugestanden hätte (ihrer Meinung nach), will sie diesmal endlich, wirklich, tatsächlich Präsidentin werden. Auch das amerikanische Volk soll die Vernunftehe mit ihr eingehen. Clinton nennt Merkel ihr Vorbild.

Hillary Clinton hat drei Gegner: 1. Hillary Clinton (das Image mangelnder Ehrlichkeit), 2. Hillary Clinton (der 68-jährige Körper, der in letzter Zeit dem extremen Stress nachzugeben scheint), und 3. Donald Trump (der inzwischen begonnen hat, die Vorlagen, die Clinton ihm gibt, auch zu nutzten).

Gegner 3 (Trump) wäre unter normalen Umständen leicht zu besiegen.
Gegner 2 (ihre Gesundheit) müssen Ärzte beurteilen.
Gegner 1 (ihr Image) aber sagt etwas über uns, die Politikkonsumenten, aus.

Es ist weiß Gott keine neue Erkenntnis, dass Politik nah an der Lüge gebaut ist. »Eine Lüge ist eine Lüge, zwei Lügen sind Lügen, aber drei Lügen sind Politik«, sagt ein altes Sprichwort. Wähler wählen das Versprechen – wenns erfüllt wird, jammern sie über die Rechnung. Wie man in den USA sagt: Something’s gotta give. Dieses something ist schon mal die Wahrheit.

Die Macht hatte zu allen Zeiten ein vor allem ergebnisorientiertes Verhältnis zur Wahrheit. That’s old news.

Und doch ist heute eine andere Wetterlage. Die Lüge bedeckt ihre Scham nicht mehr. Nixon hörte noch die Mitbewerber ab. Die Washington Post deckte es auf. Nixon musste mit Schimpf und Schande abtreten. Heute hört die NSA unsere Kanzlerin ab. Die Washington Post gehört Jeff Bezos, Amazon-Chef und Clinton-Spender. Die Zeitung begleitet den Clinton-vs-Trump-Wahlkampf mit so bedächtigen Kommentaren wie »Yes, half of Trump supporters are racist«.

Viel wird derzeit debattiert über eine Verrohung des öffentlichen Diskurses. Die deutsche Regierung beschimpft die Bürger, die Bürger schimpfen zurück und hauen überhaupt um sich. Die Regierung reagiert auf die Reaktion, mit Propaganda und mit Einschüchterung.

Diese Wut, die sich in Online-Kommentaren und Facebook-Gruppen äußert, sie ist tatsächlich neu. Doch sie hat auch eine Ursache.

Die neue Wut ist ein Kind der Hilflosigkeit

Die Ursache für die neue Wut ist nicht, dass die Menschen »böse« geworden wären. Merkel theoretisierte jüngst über das ihr zunehmend entfremdete Staatsvolk: »[Es] sind aber auch manche Vorurteile zutage getreten, die latent schon immer vorhanden waren. Das zeigen zum Beispiel die Umfragen zum Antisemitismus seit Jahren.« – Auf Deutsch: Durch Merkels Grenzperimente wurde der angeblich im Deutschen wie ein Krebs festsitzende Antisemitismus neu zum Leben erweckt?! Das ist nicht nur Unsinn, es ist blanke Verachtung des »Souveräns«. Der Souverän spürt das und er fühlt sich hilflos.

Die neue Wut ist ein Kind der Hilflosigkeit. Der kleine Mann von der Facebook-Seite fühlt sich überrumpelt, ignoriert, belogen. »Zahl Steuern, guck Applaus-TV und halt die Klappe«, meint er zu hören, »du bist doch nicht etwa ein Nazi?«

Der neue Erfolg der Populisten hüben wie drüben ist auch eine Antwort auf schmerzende Lügen. In Deutschland etwa: Kein Land wird für die Schulden eines anderen Landes aufkommen. Flüchtlinge und Terror haben nichts miteinander zu tun. Die neuen Bürger sind größtenteils Ärzte und Fachkräfte, die wenigsten werden dauerhaft in die Sozialsysteme einwandern. Und, überhaupt, das große implizite Versprechen: Wer fleißig ist, Geld spart und sich an die Regeln hält, wird dafür im Gegenzug vom Staat geschützt werden; seine Rente ist sicher und sein Geld wird sich auf dem Sparbuch mehren. – Für eine zu große Zahl von Bürgern ist das alles nur ein Haufen von Gebrauchslügen.

Mut zur Wahrheit

Wer den Erfolg von Populisten verstehen will, darf nicht Leute wie die »Maschinenpistole der Meinungspolizei« befragen (Sprachperle von Josef Nyary über Claudia Roth, erinnert an Billy Graham, die »god’s machine gun«).

Wer den Erfolg von Populisten verstehen will, muss die erste Methode des Populismus verstehen: Der Populist sagt als einziger die Wahrheit, während die anderen alle lügen… sagt er.

Die AfD plakatiert(e): »Mut zur Wahrheit«. Trump wird nicht müde, Obama und der Mainstream-Presse vorzuwerfen, dass sie lügen.

Wenn man es Populisten mit ihren simplen Feindbildern besonders einfach machen möchte, muss man sich häufig genug beim Lügen erwischen lassen. Jedes Mal, wenn Merkel sich gefühlt bei einer Schrägwahrheit greifen lässt, kann sie genauso gut »Wählt AfD« auf die Wände der Republik schmieren.

Beide Clintons wurden recht öffentlich der Lüge überführt. (Oder, wie Hillary Clinton es selbst ausdrückt: Sie hat die Wahrheit »kurzgeschlossen«.)

Angela Merkels Versprechen nehmen selbst ihre engsten Anhänger schon lange als eher symbolisch hin. Das haben sie mit den Anhängern Donald Trumps gemeinsam.
Hauptstadtjournalisten und Politik-Insider mögen das mit schulterzuckendem Zynismus abtun. Den Betroffenen aber, den Subjekten der Macht, dem wahren »Wir« tut es weh.

Der habermassche »zwanglose Zwang des besseren Argumentes« muss heute dem rothschen »Zwang der emotionaleren Empörung« weichen. Es ist zerstörerisch für die demokratische Debatte, wenn Aussagen nicht mehr nach »wahr oder falsch« bewertet werden, nicht nach »vernünftig oder unsinnig«, sondern nach »tagesgefühlig gut« (also: politisch korrekt und regierungsgenehm) auf der einen Seite, und auf der anderen Seite »rechts(populistisch)«, was zu oft schlicht bedeutet: vorwegnehmend, was in 6 Monaten erst der Seehofer, dann der Gabriel und schließlich die Merkel sagen werden.

Deutschland braucht eine Wahrheitstherapie. »When you ride alone, you ride with Hitler«, hieß es an der US-Heimatfront des Zweiten Weltkriegs. Ich möchte in Berlin, Brüssel und Washington große Banner aufhängen: »Wenn du lügst, machst du Wahlkampf für die Populisten.« (Für London ist es zu spät, der Brexit ist durch, zumindest theoretisch.)

Unsere Wahrheitstherapie für Deutschland beginnt mit dem Aussprechen abstrakter Wahrheiten. Etwa: »Hier ist meine Hand.« (Moore). Die Freunde des dystopischen Grusels üben: »2+2=4« (Orwell). Die Fortgeschrittenen sagen: Ich bin, da ich ja denke.

Wenn das Aussprechen dieser abstrakten Wahrheiten gemeistert ist, kommen wir zu den konkreten Wahrheiten.

  1. Menschen, die in Kriegsgebieten aufwachsen, sind dadurch nicht schon »Heilige«.
  2. Es ist logistisch, finanziell und gesellschaftlich unmöglich, dass Deutschland die 60 Millionen Flüchtlinge weltweit aufnimmt – und zusätzlich alle, die sich dafür halten, in Dauer-Provisorien versorgt.
  3. Einige Menschen denken zuerst an sich selbst, auch unter »Ausländern«.
  4. Jeder Euro, der an einer Stelle ausgegeben wird, wird früher oder später an anderer Stelle hereingeholt werden müssen.

Huihuihui – war das schon »rechts«?

Gegenfrage: Lässt sich eine offenkundige Wahrheit automatisch einem politischen Lager zuordnen?

Truthiness ist keine Wahrheit

Das ist der traurige State of the Republic: Merkel (im engeren wie im weiteren Sinne) hat das Konzept der »Truthiness« übernommen. Wahr ist, was sich wahr anfühlt – »gefühlte Wahrheit«. Für Donald Trump sind (bzw. waren eine Zeit lang) alle Mexikaner quasi Drogendealer und Vergewaltiger. Für Angela sind (bzw. waren eine Zeit lang) alle Einwanderer aus muslimischen Ländern quasi Heilige und top motivierte Fachkräfte. Beides ist in dieser Form falsch. Aber es verkauft sich gut in der jeweiligen Klientel.

Das Problem der Truthiness ist, dass sie allen, die das der »Wahrheit« zugrunde liegende Gefühl nicht teilen, als vulgäre Lüge erscheint. Und die Lüge treibt die Menschen in die Arme der Populisten. Rechte/konservative Lügen treiben den Wähler in die Arme linker Populisten. Linke/sozialdemokratische Lügen treiben die Menschen in die Arme rechter Populisten.

Liebe Politiker, einige kleinere Parteien sprechen derzeit wieder vom »Mut zu irgendwas«. Die einen vom »Mut zu Deutschland«, die anderen vom »Mut zur Freiheit«. (Was bleibt einer Kleinpartei außer Mut?)

Schneiden Sie sich eine Scheibe von diesem Mut ab!

Sagen Sie heute einen wahren Satz. Aber nicht einen, den andere schon vorgekaut haben, wie der SPD-Chef, der in Panik oft genug bloß nachzuplappern scheint, was Beatrix von Storch vier Wochen zuvor twitterte. Nein. Schauen Sie in Ihre Akten. Fragen Sie Ihre Referenten (die wissen oft mehr, als Sie ahnen, sie trauen sich nur nicht immer, es Ihnen zu sagen). Fühlen Sie sich in den Wähler hinein. In welchen Kontexten leben die Bürger? Welche Kontexte sind den Bürgern wirklich relevant? Wie verändern sich diese Kontexte aktuell? Und wenn Sie es verstanden haben, was sich im Leben der Bürger ändert, sagen Sie es einfach.

Sagen Sie die Wahrheit, sonst tuns die Populisten. Trauen Sie sich! Selbst Hillary Clinton, die uns zunächst von Trump-Allergie erzählte, dann von »Überhitzung« und, als das nicht mal das »Clinton News Network« (Zitat Trump) glaubte, schließlich von »geheimer Lungenentzündung« sprach, hat indirekt angedeutet, ab sofort, also sehr bald, praktisch jetzt, nur noch die Wahrheit mitzuteilen. Außerdem sagt Trump viel weniger Wahrheit!

Zu sagen, was ist – vielleicht kommt das sogar in Mode! Sie sollten Wahrheit nicht in Salamischeiben-Taktik nach außen sickern lassen, wenn die Populisten versprechen, die ganze Wurst auf den Tisch zu hauen. Bringen Sie große, satt machende Stücke von der Wahrheit unters Volk. Deshalb müssen Sie ja noch lange nicht sagen, wie die Wurst gemacht wurde.

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