»Wir« sollen schaffen, aber wir wissen nicht, wer wir sind. Die merkelsche Pflichtrepublik wird scheitern. Sie scheitert bereits. Es ist mehr als eine Randnotiz, dass Merkel die Ankündigung ihrer nächsten Kandidatur weit nach 2017 verschoben hat. Die Luft ist raus aus dem Merkelzeppelin.
Es ist später Sommer 2016. Die stählernen Zugvögel kehren aus den Urlaubsregionen zurück, in ihren Bäuchen die braven Urlauber. Einige Urlauber sind erholt, andere bräuchten gleich wieder Urlaub. Die zwei Wochen gebuchte Freiheit sind vorbei. Es folgt die 50 Wochen lange Pflicht.
Was ist das aber für ein Land, in das die Touribomber ihre gebräunte Fracht wiederbringen? Es heißt »Deutschland«. Doch selbst wer im Urlaub nie die geistigen wie praktischen Grenzen des All-Inclusive-Clubs verließ, kommt kaum umhin, seine »Heimat« zu reflektieren. Was ist Deutschland im Jahr 2016? Was sage ich, wenn ich »Deutschland« sage?
Ich selbst bin ja als Tscheche geboren. Und ich bin nicht der einzige Neudeutsche, der sich derzeit fragt, was »deutsch« und »Deutschland« bedeuten – bedeuten dürfen – bedeuten sollen.
In seinem unbedingt lesenswerten Kommentar für die Basler Zeitung fragt etwa Bassam Tibi: »Was ist deutsch?« Er greift darin eine Frage Adornos auf. Zwei Antwort-Optionen bietet dieser: Rationalität kantscher Prägung und ein »Pathos des Absoluten«. Tibi stellt fest: »Die Kant’sche Option ist ein Modell, die zweite ist deutsche Realität.«
Die Antworten der Philosophen haben die schillernde Eigenschaft, selbst wieder brennende Fragen zu sein. Man könnte also den Schaden debattieren, den der verschränkte Merkel-Leitmedien-Mechanismus, dieses »Pathos des Absoluten«, an der inneren Demokratie Deutschlands – und damit an Deutschland selbst – anrichtet. Doch diese Schäden sind praktischer Natur. Praktisches kann praktisch gelöst werden, so es denn reversibel ist. Vor allem lässt sich das Praktische durch geeignete Theorie greifbar machen und so zumindest theoretisch lösen.
Etwas Anderes, etwas weniger Konkretes, wird von Merkels Kabinett und Medien angegriffen: Der Begriff »Deutschland« selbst.
Was dürfen wir »Deutschland« nennen?
Was dürfen wir »Deutschland« nennen? Das Wort »Deutschland« ist ja gefährlich nah an »deutsches Volk«, und niemand will »völkisch« sein! »Wir sind das Volk« rufen auch nur noch die Schlechten. Wie nennen wir es denn nun, dieses Land, diese Leute, diese Geschichte, diese Kultur von Bach bis Beethoven, von Bohlen bis Ballermann? Eine »Nation«? Die »deutsche Nation« gar? Oh, diese Alarmglocken! Die mehr als berechtigte Angst vorm »Nationalismus«! Wie verhält sich eigentlich »Nation« zu »Nationalismus«? Ist »Nationalismus« die Übersteigerung von »Nation«, wie Islamismus das Falsch-Verstehen des Islams ist? Oder ist es Ideologisierung, wie Kommunismus von Kommune? Ist »Nationalismus« das Gegenteil zu »Nation«, wie »Feminismus« zu »feminin«? Egal, keiner dieser Ismen ist appetitlich und der Nationalismus brachte größten Schrecken über Europa.
Diese Fragen sind, vermute ich, Fragen nach »Identität« – und »Identität«, so habe ich jüngst gelernt, ist inzwischen ebenfalls ein gefährliches Wort. Eine stramm rechte »Identitäre Bewegung« schwappt aus Frankreich nach Deutschland. (Woher würden wir von Splittergruppen erfahren, wenn die Splittergruppenwarte nicht gegen sie protestierten?)
Was ist denn nun dieses »Deutschland«, das nicht wirklich Identität sein darf, nicht wirklich Nation, ja, das nicht einmal seine eigenen Grenzen bewachen darf? (Grenzen bewacht hat schon der Hitler und diese finstere Zeit ist Alliiertenseidank überwunden. Obwohl, später hat er sie wieder aufgestoßen, von innen, und das ist auf gewisse Weise durchaus wieder in.)
»Deutschland« überwinden, auflösen, vergessen?
Politiker diverser Parteien assoziieren sich schon seit Jahren mit offenem Hass gegen Deutschland. Grüne marschierten bekannterweise hinter Plakaten wie »Nie wieder Deutschland« und auf Demos, auf denen »Deutschland, du mieses Stück Scheiße« gerufen wurde. Die Grüne Jugend urinierte auf die Deutschlandflagge. Wir denken an Angela Merkel, die bei ihrer Wahlfeier 2013 dem damaligen Noch-Generalsekretär Gröhe die deutsche Flagge entriss, diese entsorgte, angewidert den Kopf schüttelte und die Augen rollte. (Gröhe wurde Gesundheitsminister, CDU-Generalsekretär wurde der jeder übertriebenen Deutschlandliebe unverdächtige Peter Tauber.) Wir denken zuletzt, wieder mal, an Justizminister Maas (SPD), der sich jüngst bei der linksextremen Band »Feine Sahne Fischfilet« anbiederte. Die ist bekannt, auch beim Verfassungsschutz, für Liedzeilen wie »Deutschland verrecke, das wäre wunderbar!«, oder: »Deutschland ist Scheiße, Deutschland ist Dreck!«
Natürlich meinen diese Individuen nicht das konkrete Land, also vermessene Oberfläche, Infrastruktur, Verwaltungsapparat. Meist meinen sie nicht einmal die Menschen. Dafür sind zu viele der Deutschlandhasser zu direkt vom Land und seinen Steuerzahlern abhängig.
Das angegriffene »Deutschland« ist der Begriff »Deutschland« selbst. Sie wollen die Idee »Deutschland« überwinden, auflösen, vergessen machen.
Wenn für einige unserer »Elite« die Idee »Deutschland« nur noch »Dreck« ist, wenn die schwarz-rot-goldene Flagge nur noch Billigschmuck zur Fußballmeisterschaft sein darf (bei der, klar, »die Mannschaft« spielt, denn »Nation« ist »Nazi«), wenn am Horizont dräut, dass Bundeskanzlerin Kipping spätestens 2018 den Spruch »Dem deutschen Volke« vom Reichstag abmeißeln lässt… was genau ist »Deutschland« dann?
Im Weltbild Merkels ist »Deutschland«, zumindest für seine steuerzahlenden Bewohner, ausschließlich eine Verpflichtung. Der merkelsche Imperativ wird bekanntermaßen stets mit einem »wir« formuliert. »Wir« sind die Deutschen und wir sind verpflichtet.
Merkel nutzt deutsche Pflichterfüllung aus
Merkels Deutschland ist eine Pflichtengemeinschaft. Manche führen das auf Merkels protestantische Kindheit zurück. Ich führe es auf schlichte Möglichkeit zurück: Die Menschen in ihrem Herrschaftsgebiet lassen sich auf Pflichterfüllung reduzieren, also nutzt sie es aus. Sie müsste Heilige sein, es nicht zu tun. Merkel ist keine Heilige.
Die Urlauber, die sich den Urlaub leisten könnten, landen also wieder im Land, das nicht weiß, wer oder was es ist. Sie schneiden ihre Club-Bändchen ab und packen ihre Koffer aus. Einige von ihnen rufen Polizei und Versicherung an, um den zwischenzeitigen Einbruch zu melden. Dann geht es mit den Pflichten weiter. Eigentlich wären sie lieber woanders.
Kein Land wird auf Dauer funktionieren, wenn Bürger zu sein, täglich mehr Pflichten bedeutet, aber Rechte und Identität einzufordern verunglimpft wird.
Es ist ja nicht so, dass es keinen praktischen Nutzen hätte, Deutscher in Deutschland zu sein. Man hat Krankenversicherung (außer für Ex-Selbstständige mit Liquiditätsproblem, klar). Kinder können in Kindergarten und Schulen gehen (wenn sie auch neuerdings durch rot-grüne Experimente benachteiligt werden, falls die Eltern sich keine Privatschule leisten können). Und wer nicht gerade in einem Problemviertel wie Neukölln, Neckarstadt oder NRW lebt, der lebt auch recht sicher.
Doch wann haben Sie das letzte Mal gehört, dass Merkel sich für die Rechte der Bürger Deutschlands einsetzte, auf die Gefahr hin, andere, ja, Nationen ein wenig vor den Kopf zu stoßen?
Ich hatte in den vergangenen Wochen die Freude, mit Menschen verschiedener europäischer Nationen zu reden. Einfache Menschen, wie ich, bei einem kalten Bier, oder einer Cola. Ihre Reaktion auf Merkels Politik war durchgehend ein verständnisloses bis wütendes Kopfschütteln. Zwei Ausreißer gab es: Bei einigen Mittelklasse-Briten kam Ärger über den Brexit dazu. Einige Tschechen reagieren extra unwirsch darauf, wenn Deutsche ihnen wieder vorschreiben wollen, wer auf ihrem Staatsgebiet zu leben hat. Merkels stellvertretende Selbstlosigkeit findet wenig Gegenliebe. Selbstlosigkeit ohne Selbst ist eine Diagnose, keine moralische Großleistung.
Eine alte Lebensratgeber-Weisheit sagt: Liebe dich selbst, dann lieben dich andere. Ein Land, das sich selbst verleugnet, verachtet, beschimpft, wie kann das Respekt, Sympathie und Autorität in der Welt finden?
Wer soll dich mögen, wenn du dich selbst nicht magst?
Man könnte moralische Gründe ins Feld führen, gegen diese von Parlament und bezahlten Vordenkern verordnete Selbstverleugnung. Etwa: Generationen haben hart gearbeitet, um ihren Kindern ein gutes Land aufzubauen. Viele dieser Kinder arbeiten noch heute, und bauen täglich weiter. Dieses Land zu nehmen und durch ein diffuses empörungsbewegtes Pflichtgewebe zu ersetzen, das ist Raub.
Man könnte nostalgische Gründe ins Feld führen. Wie viel weltweit geschätzte Kultur und Geschichte gehen verloren und verkommen zu digitalen Geistern, wenn niemand mehr da ist, der sich mit eben dieser Kultur und Geschichte identifiziert, ja, identifizieren darf?
Doch ich möchte einen einfacheren, pragmatischen Grund anführen: Es wird nicht funktionieren. Es hat noch nie funktioniert.
Der Grundfehler aller sozialistischen Systeme ist die Annahme, dass Menschen bereit sind, sich langfristig auf Pflichten reduzieren zu lassen und an einer abstrakten Idee zu arbeiten. Es hat in der UdSSR nicht funktioniert. Es hat in DDR, Tschechien und all den anderen Ostblock-Staaten nicht funktioniert. Und es wird in Deutschland nicht funktionieren.
Für eine lebensfremde Gruppe in Berliner Zeitungshäusern und Sendeanstalten mag »Heimat« ein Ekel-Wort sein, doch reale Menschen sehnen sich nach einer Heimat. Einem Land, das sie schützt. Einer Gruppe, für die sie einstehen und die für sie einsteht.
Heimat von Merkel zurückerobern
Wenn Menschen keinen Einfluss mehr haben auf die Zukunft ihrer Stadt, entfremden sie sich von ihrer Stadt. Wieso sollte ich an der Stadtplanung mitwirken, wenn die ferne Regierung von heute auf morgen alle unsere Pläne zerstören kann? Eigentum und Verantwortung sind verzahnt. Wer als Bürger nicht mehr das Gefühl hat, sein Land »gehöre ihm«, wenigstens ein Stück weit, der wird keine Verantwortung fürs Land übernehmen. Merkel wollte, dass Deutschland die Verantwortung für die Probleme der Welt von Afrika bis Athen übernimmt. Merkels Erbe wird ein Land ohne Verantwortungsgefühl sein.
»Wir« sollen schaffen, aber wir wissen nicht, wer wir sind. Die merkelsche Pflichtrepublik wird scheitern. Sie scheitert bereits. Es ist mehr als Randnotiz, dass Merkel die Ankündigung ihrer nächsten Kandidatur weit nach 2017 verschoben hat. Die Luft ist raus aus dem Merkelzeppelin.
Wir müssen »wir« zurückerobern. Wir müssen »Deutschland« neu definieren. Ein Land muss mehr als ein Pflichtenkatalog sein. Wir müssen uns auf die Zeit nach Merkel vorbereiten, und fragen, was für ein Deutschlandbild wir von der nächsten Regierung erwarten.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein