Wer mir sagt, was mir wichtig zu sein hat, ist ein Feind meiner Freiheit. Ich wähle selbst, was mir wichtig ist. Freiheit soll immer die Freiheit der Andersdenkenden sein, sagt man. Ich übersetze das so: Freiheit ist die Möglichkeit, ganz andere Dinge wichtig zu finden als der Mitmensch. In einem freien Land dürfen und können Menschen völlig unterschiedlicher Wichtigkeiten mit- und nebeneinander leben.
»Das ist mir wichtig!« – Ich würde behaupten, dass das der schönste Satz der deutschen Sprache ist. »Ich hatte keine Wahl« dagegen ist der schlimmste aller Sätze, in Hörweite gefolgt von »Ich ahnte ja nicht, dass das passieren würde«.
Wohlgemerkt, der schönste Satz ist nicht »das ist wichtig«, sondern, »das ist mir wichtig«. Ein Unterschied! »Das ist wichtig« liegt gefährlich nah bei jenem »ich hatte keine Wahl«. »Das ist mir wichtig« aber ist rebellisch. Man könnte länger formulieren: »Egal, was Mächtige, Meinungsstarke und meine Nachbarn für wichtig erklären, ich entscheide selbst, was mir wichtig ist.«
Sagen wir es gerade heraus: Es herrscht ein Krieg. Der Krieg, den wir hier meinen, geht nicht um Land, nicht um Öl, sondern um Wichtigkeit. Darum, was wir »Normalos« wichtig finden.
Krieg um Wichtigkeit
Politiker und PR-Firmen wollen uns Konsumenten und Wähler dazu bewegen, bestimmte Dinge als »wichtig« wahrzunehmen und andere als »unwichtig« zu ignorieren. Und sie nutzen jede Waffe, die ihnen in die Hände fällt.
Nehmen wir als Beispiel Facebook, diese zur Weltmacht angeschwollene Web-Applikation. Warum haben Politiker von Merkel bis Maas so ein nervöses Interesse an Facebook? Wegen der Daten? Weniger. Die Daten haben NSA und BND (hoffentlich) auch. Wegen des Umsatzes? Nein, wer Geld braucht, leiht sich welches. Es ist etwas anderes. Es ist die Macht der Wichtigkeit. Präziser: Facebook kann beeinflussen, was Menschen »wichtig« finden. Marketer und PR-Strategen werden dafür bezahlt, dass sie uns Dinge »wichtig« machen. Facebook hilft ihnen dabei. Gegen Geld, klar. Das Geld ist Facebook wichtig, wie den meisten anderen Unternehmen auch.
Im laufenden US-(Vor-)Wahlkampf wurde dem sozialen Netzwerk ein angeblicher »Anti-Conservative-Bias« zum Vorwurf gemacht. Facebook ist ja schon lange nicht mehr nur Verteiler von Familien- und Kätzchenfotos. Für immer mehr Menschen ist Facebook auch wichtigste (oder sogar einzige!) Nachrichtenquelle. Den Mitarbeitern von Facebook wurde nun vorgeworfen, bevorzugt solche Nachrichten als »Trend« auszuwählen, die eine »linke« Weltsicht nahelegen. (Sprich: Clinton toll, Trump nicht so toll.) Ob der Vorwurf nun stimmt oder nicht – Welche politische Neigung werden billige studentische Hilfskräfte aus den Geisteswissenschaften wohl haben? – entscheidend ist: Facebook kann beeinflussen, was seinen Milliarden von Usern »wichtig« ist. Und damit ist es aktive Partei im weltweiten Krieg um Wichtigkeit.
Facebook ist nicht das einzige kalifornische Unternehmen, das in den letzten Jahren kulturell wie finanziell in neue Höhen geklettert ist. Apple Inc. wurde (auch) dank des iPhones zum wertvollsten Konzern der Welt. Das iPhone aber ist, unter anderem, eine »Aufmerksamkeitsmaschine«. Das iPhone kann, so oft die Leute hinter den Apps es wollen, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und dann diese über Sekunden, Minuten oder sogar Stunden halten. Viele Male pro Tag. Wer unsere Aufmerksamkeit steuert, kann und wird beeinflussen, was wir wichtig finden. Das Piepen der iPhone-Apps hat dieselbe Funktion wie die riesigen Lettern der BILD-Zeitung: Aufmerksamkeit erzeugen – um im zweiten Schritt dann gefühlte Wichtigkeit zu generieren.
Die Aufmerksamkeit der Konsumenten ist eines der letzten wirklich begrenzten Güter. Alles ist multiplizierbar. Autos, Häuser, sogar Schafe sind vervielfältigbar. Aufmerksamkeit jedoch lässt sich zwar teilen, aber nicht vermehren. Kein 3-D-Drucker der Welt wird Ihre mögliche Gesamtmenge an Aufmerksamkeit multiplizieren.
Facebook verkauft Schürfrechte
Aufmerksamkeit selbst ist, genauso wie die von Facebook gesammelten Daten, noch kein Wert an sich. Sie ist nur Zwischenschritt. Wer die Aufmerksamkeit eines Publikums hat, der kann beeinflussen, was die Mitglieder dieses Publikums wichtig finden. Die Wichtigkeit ist das eigentliche Gold und Facebook verkauft gewissermaßen die Schürfrechte.
Alle öffentliche Debatte ist ein Ringen um Wichtigkeit. Nehmen wir als Beispiel die Debatten um Zigaretten und ihre Verbote. Jeder Tabak-Konsum ist eine mindestens implizite Entscheidung, den aktuellen Moment für wichtiger zu befinden als den eigenen Körper im Abstand von einigen Jahren. Doch spätestens, wenn man in der Gegenwart von Nichtrauchern den brennenden Tabak delektiert, entscheidet man durch sein Handeln, dass einem die eigene Lust wichtiger ist als die körperliche Unversehrtheit der genussgehemmten Mitmenschen. Nichtraucher aber, die an verrauchten Veranstaltungen teilnehmen, sind gezwungen, zwischen Unversehrtheit und Sozialleben zu entscheiden. Was ist ihnen »wichtiger«? Einige Länder haben in diese Entscheidung eingegriffen und öffentliches Rauchen (teil-)verboten. Neben den erwartbaren Protesten (Erwachsene sollen »frei« entscheiden dürfen, etc.) war ein Argument besonders spannend: Wer Rauchen verbietet oder teurer macht, schadet den Arbeitsplätzen in der Zigarettenindustrie, auch weil Leute sich das Rauchen nicht mehr leisten können. In anderen Worten: Arbeitsplätze sind »wichtiger« als allgemeine Lebenserwartung. Eine ehrliche, aber nicht unkontroverse Gewichtung.
Jede Polit-Talkshow in unserem geliebten freien Fernsehen ist ein Kampf um Wichtigkeit. Die Teilnehmer sprechen ja nicht miteinander, nicht wirklich. Eher wird die Heute-Show lustig sein, als dass wir bei Hart aber Fair hören: »Da haben Sie eindeutig Recht, ich werde also meinen Standpunkt revidieren!« Jeder Talkshow-Kombattant möchte via Gerede, Geschrei und Grimassen, uns, das Publikum überzeugen, dass seine Perspektive und die von ihm aufgezeigten Kontexte besonders »wichtig« sind. Damit sind Talkshows ein Konzentrat moderner Parteiendemokratie.
Talkshows als Konzentrat der Parteiendemokratie
Im täglichen politischen Streit fordert eine Partei: »Dies hat wichtig zu sein!« Die Gegenpartei hält dagegen: »Nein, jenes hat wichtig zu sein!« Und die Fanatiker brüllen: »Wer dies wichtig findet und jenes nicht, der hat sein Recht auf Würde, Meinungsfreiheit und körperliche Unversehrtheit verwirkt!« Dann ziehen sie los und brennen ab, was ihren Gegnern wichtig ist..
Manchmal, aber nicht immer, sind behauptete und gelebte Wichtigkeit deckungsgleich. Die NPD verbalisiert recht eindeutig, dass sie Ausländern gegenüber eher kritisch in der Sache eingestellt ist. Wenn Ausländer ins selbsterkläre NPD-Land ziehen, machen die Freunde jener Partei ihren Unmut auf recht ekelhafte Weise deutlich. Die Grünen, nach allgemeiner Verortung auf dem anderen Ende der politischen Skala angesiedelt, versichern dagegen gelegentlich, Deutschland zu hassen und zugleich nichts wichtiger zu finden als das Wohl neu ankommender Mitmenschen. Doch wenn es im eigenen Alltag darum geht, den Ökoriesling aus der Hand zu stellen und aus dem Wasserglas zu nippen, sehen wir manchen Jünger Joschkas zögern. Wenn Weltretter die eigenen Kinder quer durch die Stadt kutschieren zu einer Schule mit geringerem Migrantenanteil, ist es nicht nur der Benzinverbrauch, der einen stutzen lässt.
Wir könnten die Liste der öffentlichen Wichtigkeits-Debatten jede Woche fortschreiben: Ist mir der Mensch, der von Stammzellentherapie möglicherweise geheilt wird, mehr oder weniger wichtig als der Embryo, dem die Zellen entnommen wurden? Sind mir die Menschen, die dank genmodifizierter Pflanzen satt werden könnten, mehr oder weniger wichtig als mein Idealbild einer »natürlichen Natur«? Ist mir die universelle Freiheit, seine Meinung sagen zu dürfen, mehr oder weniger wichtig als der Wunsch gewisser Gruppen, ihr teils aus der Bronzezeit stammendes Weltbild nicht hinterfragt zu sehen? Öffentliche Debatte ist ein Seilziehen um gefühlte Wichtigkeit.
Wir treffen viel mehr Wichtigkeits-Entscheidungen, als uns bewusst ist. Wenn Sie am Abend das Licht anschalten, entscheiden Sie, dass Ihnen Helligkeit wichtiger ist als ein paar Cent mehr oder weniger auf der Stromrechnung – und als der Aufwand, den ein Kraftwerk treiben musste, um den verbrauchten Strom herzustellen. Wenn Sie Sozialpädagogik oder Was-mit-Medien studieren, statt etwa Ingenieurwissenschaften, entscheiden Sie, dass Ihnen die Arbeit am Menschen und »Selbstverwirklichung« wichtiger sind, als selbst aktiv eventuelle Pay-Gaps zu schließen, zumindest wenn Sie Frau sind. Wenn Sie sich den Double-Burger mit Extra-Speck gönnen, entscheiden Sie, dass Ihnen der Genuss an dem Abend wichtiger ist als die Herzgesundheit später.
Ein freier Mensch wählt seine Wichtigkeit selbst
Selbst entscheiden zu können, was einem wichtig ist, das ist innere Freiheit. Das dann auch in die Tat umsetzen zu können, das ist praktische Freiheit. Und wenn unsere gelebte Freiheit andere Wichtigkeiten wählt, als gewissen Leuten lieb ist, kann es passieren, dass wir uns jene zu Feinden machen.
Ein freier Mensch kann selbst entscheiden, ob er Fleisch oder Vegetarier is(s)t – sprich: Was ihm »wichtig« ist. Freie Bürger können selbst vereinbaren, ob ihnen die innere Sicherheit oder äußere Freundlichkeit wichtig(er) ist. Ein freies Land kann selbst darüber bestimmen, ob ihm freier Zugang zu einem größeren Binnenmarkt oder völlige Selbstbestimmung wichtig(er) ist.
In letzter Zeit nun knirscht es in Deutschland und Europa in Sachen »Freiheit« und »selbst gewählte Wichtigkeit«. Immer wieder haben Bürger das Gefühl, dass Politik ihnen »von oben herab« vorschreiben will, was sie wichtig zu finden haben.
Es ist eine Ironie (manche formulieren: Perversion), dass oft jene, die am lautesten von »Freiheit« reden, den Menschen durchaus mit Nachdruck empfehlen wollen, was für »wichtig« zu halten sei. Wir denken an Präsidenten Gauck, der viel von Freiheit redet, aber recht deutlich macht, was seiner gut bezahlten Meinung nach dem Volk wichtig zu sein hat. Wir könnten auch an einen der bereits erwähnten Zigarettenhersteller denken, der zu Beginn der Raucherkarriere seinen Kunden »Allezeit Freiheit« verspricht, dann aber via gewissen Tabakeigenschaften seinen Kunden ein (statistisch verkürztes) Leben lang die entsprechende Wichtigkeits-Entscheidungen abnimmt. Und Frau Merkel möchte uns das »freundliche Gesicht Deutschlands« wichtig machen. Es soll uns wichtiger sein als die praktischen und moralischen Probleme, die sich im Alltag durch Merkels Entscheidungen ergeben. Wann hat Frau Merkel uns abstimmen lassen, ob wir als Wähler mit dieser plötzlichen Wichtigkeits-Verschiebung einverstanden sind?
Ich schlage eine Dreiteilung vor: Ein Populist wird seine (behauptete) Wichtigkeit immer wieder nach öffentlicher Laune neu ausrichten. Nur ein Demokrat legt seine Wichtigkeit vor und lässt den Wähler entscheiden, ob dieser sie teilt. Deshalb ist es ein Erkennungszeichen des Vollblut-Demokraten, dass er auch mal Wahlen verliert, nicht (nur) aus wahlkämpferischer Unfähigkeit, sondern weil er zu seinen Werten stand, selbst wenn diese gerade nicht der allgemeinen Stimmung entsprachen. Ein Mensch mit diktatorischer Neigung wird Wege finden, seine eigene Wichtigkeit durchzusetzen, egal was Sie und ich wollen.
Wer das Wichtige vorschreibt, ist Feind der Freiheit
Wer mir sagt, was mir wichtig zu sein hat, ist ein Feind meiner Freiheit. Ich wähle selbst, was mir wichtig ist. Freiheit soll immer die Freiheit der Andersdenkenden sein, sagt man. Ich übersetze das so: Freiheit ist die Möglichkeit, ganz andere Dinge wichtig zu finden als der Mitmensch. In einem freien Land dürfen und können Menschen völlig unterschiedlicher Wichtigkeiten mit- und nebeneinander leben. In einem unfreien Land wird Druck ausgeübt, wichtig zu finden, was Regierung und regierungsnahe Vordenker für die korrekte Wichtigkeit befunden haben.
Es gibt zu viele Kräfte derzeit, die uns ihre Wichtigkeit aufkleben möchten. Religiöse Fanatiker wollen die eigene, teils menschenverachtende Weltsicht den strauchelnden Gläubigen aufdrücken. Milder, aber ebenfalls gefährlich, sind Polit-Erzieher, die unangenehm erfolgreich versuchen, Menschen mit »abweichender Wichtigkeit« ins gesellschaftliche Abseits zu bannen.
Gerade deshalb ist wichtig: Freiheit beginnt mit dem Wort »Nein«. Beispielsatz: »Nein, Frau Kanzlerin, liebe Grüne, liebe Nachrichtensprecher und Vordenker, ich lasse mir von euch nicht vorschreiben, was mir wichtig ist.«
Es kann sein, dass ich völlig die falschen Wichtigkeiten wähle. (Unwahrscheinlich, was bedeutet »falsch« hier überhaupt?) Es kann sein, dass ich bereuen werde, selbst entschieden zu haben, was mir wichtig ist. (Noch unwahrscheinlicher.) Es kann sein, dass sich meine Wichtigkeiten im Verlauf meines Leben ändern werden. (Das wiederum ist recht wahrscheinlich. Ich hoffe es! Seine Wichtigkeiten selbst neu zu bestimmen ist persönliches Wachstum!)
»Das Private ist politisch« sagte man in den 1970ern. »Das ist mir wichtig!«, ist ein so privater wie politischer Satz. Und er ist in Opposition zu vielen Wichtigkeits-Vorschreibern der 2010er.
Allen Alternativlosen, Nahrungspredigern und Bessermenschen sei hier entgegenschleudert: »Netter Versuch. Aber nur, weil es dir wichtig ist, muss es mir nicht wichtig sein. Was mir wichtig ist, entscheide ich selbst. Das nenne ich Freiheit. Das ist mir wichtig.«
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