Setzen Sie sich mit den Schriften, Filmen und Ideen von Denkern auseinander, die alle Ihre Begriffe zertrümmern, wieder und wieder. Lernen Sie, sich zu hinterfragen. Entwickeln Sie neue Antworten für alte Fragen.
Es ist eine Zeit drohender Zensur, eine Zeit wirtschaftlicher Attacken auf kritische Medien, eine Zeit der Diffamierung von Selbstdenkern auf der einen Seite, und regierungsfreundlichen Milliardenmedien auf der anderen.
Die vergangenen Tage haben bei einigen Liberalen und Konservativen echte Angst ausgelöst. Ich selbst bin etwas eingeschüchtert. Reden wir also von einem einfachen Thema, einem Thema, das niemanden aufregen wird: Antisemitismus, seine Ursachen und mögliche Lösungen.
Darum geht’s.
Wenn Sie drei Antisemiten fragen, was diese »gegen Juden« haben, und wieso, wird man ihnen dreißig Antworten geben. Die wenigsten Antworten werden geradeheraus sein, zumindest von Deutschen nicht.
Doch lassen Sie uns erst festmachen, was ich meine, wenn ich »Antisemitismus« sage. Meine Arbeitsdefinition: Antisemitismus ist eine Abneigung gegen einzelne, viele oder alle Juden, die dem Vergleich mit der Einstellung zu anderen Menschen nicht standhält.
Wenn Sie also Israel kritisieren für etwas, das Sie bei nichtjüdischen Staaten »durchgehen ließen«, dann ist das möglicherweise antisemitisch. (Oder wenn Sie Verteidigungsschläge als Aggression darstellen.) Wenn Sie ein Problem mit jüdischen Bankern haben, aber katholische oder arabische Banker ignorieren, ist das möglicherweise antisemitisch. Wenn Sie jüdische Politiker mit Filmmonstern vergleichen – you get the concept.
Kurz: »Antisemitismus« bedeutet, Juden zu hassen, weil sie Juden sind, und wird oft von durchscheinenden, wenig tragfähigen »Gründen« begleitet, die den eigenen Hass vor sich und anderen legitimieren sollen.
Falsche Begründungen
Was wurde nicht alles an Ursachen für Antisemitismus angegeben! Juden würden aus Neid gehasst, weil sie so reich seien. (Dafür gibt es zu viele arme Juden.) Sie wurden im Dritten Reich gehasst, weil sie angeblich sozialer Bodensatz seien. (Was nun, reich oder arm?) Sie wurden gehasst, weil sie so gebildet und schöngeistig seien – und weil sie angeblich die »deutsche Kultur« zersetzten. (Wieder: Was denn, entweder oder?!)
Man könnte diese so unappetitliche wie hilflose Liste lang fortsetzen. Lassen wir es.
Eine meiner Denkregeln lautet: »Wenn alles und sein Gegenteil (einigen Leuten) richtig klingen könnte, wurde wahrscheinlich die Frage nicht verstanden.«
Die These
Die Zeit drängt, lassen Sie mich Ihnen meine eigene These vorlegen. Die These hat zwei Teile.
1. Antisemitismus wird nicht von »den Juden« getriggert, sondern von jüdischer Denktradition.
2. Antisemitismus ist eigentlich kein Hass auf »die Juden«, sondern der auf Juden projizierte Hass auf sich selbst.
Begründung
Stellen Sie sich im Kopf einmal die Frage, welche Berufe Sie als »klassisch jüdisch« betrachten würden. Niemand schaut Ihnen in den Kopf (Maas arbeitet dran, glaube ich, aber noch ist er nicht so weit), also denken Sie frei!
Ich bin mutig und liste einige Klischee-Berufe: Jurist, Arzt, Comedian, Physiker, Philosoph, Banker, Kolumnist.
Gehen wir einmal davon aus, dass diese Liste einige Kongruenz mit der Liste in Ihrem Kopf aufweist: Was haben diese Berufe gemeinsam? Gibt es einen vereinigenden Faktor?
Hier ist mein Vorschlag: Alle diese Berufe analysieren Situationen, hinterfragen den Status Quo, versuchen, Widersprüche aufzulösen und oft stellen sie ganz neue Thesen auf. Ein Jurist analysiert rechtliche Situationen. Ein Arzt sucht nach den Fehlern im »System« seines Patienten, um sie zu reparieren. Ein Comedian sucht nach den kleinen und großen Widersprüchen in unserem Alltag – wir lachen mit ihm und darin beginnen wir, unsere eigenen Widersprüche aufzulösen. Deshalb fühlt sich Lachen so gut an, Humor ist ja bekanntlich die beste Medizin. Ein Physiker betrachtet die Thesen seiner Kollegen über das Universum, und versucht, neue, bessere, widerspruchsärmere Thesen aufzustellen. Ein Philosoph versucht, die großen Fragen und Widersprüche des Menschseins zu verstehen, und manchmal auch zu lösen. Ein Banker, man muss es sagen, arbeitet am großen Geldsystem, und manchmal, ja, nutzt er dessen Widersprüche zum Vorteil seiner Kunden. Und ein Kolumnist seziert Tag für Tag die Widersprüche im Geschwafel der politischen Klasse, und hofft, sie irgendwann aufzulösen (die Widersprüche, nicht die politische Klasse).
Bereits in der Yeshiva, der jüdischen Religionsschule, werden Texte aus Tora und Talmud analysiert und besprochen, in lauten, lebendigen Streitgesprächen. Die Debatte um Begriffe ist jüdische Denktradition. Die Analyse von Problemen, das Hinterfragen bestehender Denkweisen und das Auflösen von Widersprüchen, oft durch neue Ideen und Thesen, ist Grundlage allen wissenschaftlichen Fortschritts.
Und zugleich ist diese Denktradition der Grund, warum einige Menschen so sehr am »Jüdischen« knabbern. Sie ertragen die Tradition des ständigen Hinterfragens und Neudenkens nicht.
Das Leiden
Sich selbst zu hinterfragen kann weh tun. Für einen »Gerne-Denker« dagegen gibt es kaum eine größere Freude, als die, dass all seine Thesen von einer neuen, überraschenden These erschüttert werden.
Der Philosoph Otto Neurath (Sie fragen sich jetzt, ob er jüdisch war – warum?) formulierte die hervorragende Metapher: »Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.«
Neurath meinte die Philosophie. Er gehörte zum Wiener Kreis, der ganz wesentlich mit formte, wie wir heute über Sprache denken. Doch was er sagt, das gilt für allen menschlichen Fortschritt: Wir bauen am Schiff (sprich: unseren Überzeugungen von der Welt), während wir auf eben diesem Schiff fahren. Der Umbau bei voller Fahrt macht vielen Menschen große Angst. Mit Sprengstoffgürteln oder »Kritik« kämpfen sie gegen die Hinterfragung ihrer Konzepte.
Ideologie und Starrsinn
Betrachten wir die Kreise, in denen Sie Antisemitismus erwarten würden. Diese Kreise haben eine Gemeinsamkeit: Die Menschen dort haben Angst, ihre Begriffe hinterfragt zu sehen.
Ideologen praktisch aller Richtungen neigen zu Antisemitismus. Einzelne Religionsgründer auch. Ideologienahe religiöse Strömungen können antisemitisch sein (habe ich das vorsichtig genug gesagt?), ich brauche Ihnen keine Beispiele zu nennen. Wenig fürchtet der religiöse Schienendenker mehr als die Hinterfragung seiner grundlegenden Weltbegriffe. Totalitäre politische Systeme entwickeln besonders schnell Antisemitismus. Nicht einmal Juden selbst sind davor gefeit, sogar Marx oder Paulus wurde Antisemitismus vorgeworfen.
Erster Test
Jede These muss getestet werden. Ich schlage Ihnen also für meine These die Probe vor:
Gehen Sie im Kopf einige Gruppen von Menschen durch, bei denen Sie Antisemitismus erlebt haben. Würden Sie zustimmen, dass dies zwar Menschen mit höchst unterschiedlichen Bildungs- und Sozialgeschichten sind, aber praktisch immer mit geschlossenem, ideologieartigen Weltbild, häufig gepaart mit aggressiver Angst vorm Hinterfragtwerden?
(Oder andersherum: Haben Sie je einen weltoffenen, sich fröhlich selbst hinterfragenden Antisemiten erlebt, der damit leben kann, auch mal komplett falsch zu liegen, in allem?)
Lassen Sie Ihre Begriffe zertrümmern
»Die Juden« sind Opfer des Antisemitismus, aber nicht ihr Auslöser. Der praktische Antisemit fühlt sich vielmehr bedroht von der dauernden Hinterfragung, wie sie in jüdischer Denktradition praktiziert wird. Der Hass gegen »die Juden« ist in Wahrheit die Angst, dass die eigenen Begriffe und Konzepte falsch sein könnten. Manche sagen, Antisemiten seien Arschlöcher und Vollidioten. Ich widerspreche nicht, möchte nur genauer formulieren wollen: Antisemiten sind Menschen, die wirklich, wirklich nicht nachdenken wollen.
Wie kommen wir nun heraus? Ich kann es nur für das Individuum beantworten: Setzen Sie sich mit den Schriften, Filmen und Ideen von Denkern auseinander, die alle Ihre Begriffe zertrümmern, wieder und wieder. Lernen Sie, sich zu hinterfragen. Entwickeln Sie neue Antworten für alte Fragen.
Die Angst vor »Juden« ist in Wahrheit eine Angst vorm Hinterfragtwerden. Doch sich selbst zu hinterfragen, alte Ideologien aufzugeben und bessere Ideen zu entwickeln, das ist unsere einzige Art, als Mensch und Gesellschaft voranzukommen.
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