„Eine absehbare Tat“

Staatsanwälte, Richter und Politiker verstecken sich gerne hinter den Buchstaben des Rechtswege-Staates, weil sie das davor schützt, Verantwortung zu übernehmen. Journalisten nennen die Verantwortungsflucht und fordern Verantwortung viel zu selten.

An die 10 Seiten widmet die WeLT AM SONNTAG dem Berliner Attentat und seinem Attentäter: vor allem auch dem Politik- und Institutionen-Versagen. Das ist dem Thema angemessen. Chefredakteur Ulf Poschardt:

„Gut fünf Jahre wütete der 24-jährige Tunesier Anis Amri in Europa, landete in italienischen Knästen, griff Vollzugsbeamte und Mithäftlinge an, randalierte. 2015 kam er nach Deutschland, wo er mit Drogen handelte, an Waffen heranzukommen versuchte und Anschläge plante. All das tat er unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden.

Was zeigt das? Dass wir noch nicht verstanden haben, mit welcher Bedrohung wir konfrontiert sind.“

Poschardt verweist auf Heribert Prantl, der die Anordnung der Abschiebung für notwendig und dem geltenden Recht entsprechend erklärt hat. Womit auch schon klar ist, was von der Forderung nach neuen Gesetzen und der Ankündigung von Kanzlerin und Innenminister zu halten ist, ob es neue Gesetze brauche, prüfe man. Ablenkungsmanöver, nichts als Placebos. Neue Gesetze oder die Debatte um sie sollen das Handeln von Politik und Justiz nicht verbessern, sondern ihr Nicht-Handeln ersetzen – für jene Weile, die verstreicht, bis die nächste Sau durchs Mediendorf getrieben wird.

Die Titelstory der WamS„Eine absehbare Tat“– liest sich wie das Drehbuch zu einem Kassenschlager von Hollywood-Thriller. „Gut 20 Stunden“ nach dem Anschlag erfuhren die Behördern den Namen des Täters aus der „Duldungsbescheinigung der zuständigen Ausländerbehörde im Handschuhfach“ des Trucks. Die WamS zitiert einen Verfassungsschützer: „Unser Albtraum ist wahr geworden“. Denn die Schützer kannten Amri, befürchteten „dass er einen Anschlag plante … wussten nur nicht, wann und wo und mit welchen Mitteln.“

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Wolfgang Herles hat es hier geschrieben: „In Deutschland ist eine Mentalität zuhause, die mit der Globalisierung nicht Schritt halten kann. Das hat das umnachtete helle Deutschland mit dem radikalen Islam gemein.“ Die WamS weiß zu berichten: „Etwa 600 Gefährder vom Kaliber des Anis Amri sind in Deutschland ‚unter Wind'“ – Behördenjargon für unter Beobachtung. Wenn die so beobachtet werden wie der in Mailand Getötete, dann gute Nacht.

Wären deutsche Polizisten auf Amri getroffen, hätte der wohl mehrere Polizisten verwundet, wenn nicht getötet und wäre selbst weiter auf der Flucht. Nicht weil deutsche Polizisten nicht schießen können, sondern weil sie Angst haben müssen, anschließend von Politikern öffentlich dafür kritisiert zu werden und mit Ermittlungsverfahren überzogen, weil sie den mehrfachen Mörder nicht unverletzt oder zumindestens wenig verletzt festnahmen – eine Chance, die ihnen dieser Mann nicht gelassen hätte.

Helmar Büchel von der WamS hat die Eltern des Attentäters im Städtchen bei Tunis besucht, eine der vielen Hochburgen radikaler Salafisten im Maghreb. Er konnte dort den echten Personalausweis ihres Sohnes fotografieren. Büchel: „Jede deutsche Behörde hätte den Ausweis ebenfalls bekommen können, hätte sie jemanden zur Familie des verdächtigen Islamisten geschickt. Amri hätte dann ohne Schwierigkeiten nach Tunesien ausgewiesen werden können. Aber niemand suchte den direkten Kontakt zur Familie.“

Der Schweizer Psychoanalytiker und Philosoph Carlo Strenger, der in Israel lebt, sagt im Interview: „Terror geht meist nicht, wie oft von links behauptet wird, von sozial Benachteiligten aus. Das ist empirisch einfach falsch. Die Attentate in New York, London oder Madrid wurden von Kindern der oberen Mittelklasse verübt, die gut ausgebildet waren.“

Auf das Interview mit Horst Seehofer mit seiner Kernaussage „Die OBERGRENZE kommt“ gab Herles vorab die Antwort: „Jemand bietet sich als Selbstmordattentäter an und wird nicht abgeschoben und nicht eingesperrt, obwohl es die Rechtslage hergibt und verlangt (Prantl beschreibt es genau). Solange dies die Praxis des Rechtsstaats ist, brauchen wir nicht über Burkaverbote und Obergrenzen diskutieren. Aus Kontrollverlust wird Staatsversagen. Wie naiv, wie pflichtvergessen, wie stumpfsinnig bürokratisch dürfen Innenminister, Staatsanwälte, Richter sein?“

Auch bei Seehofer nichts als Ablenkungsmanöver, stark wirken sollende Sprüche, mit denen CSU-Wähler vom Wechsel zur AfD abgehalten werden sollen. Passt zum Text von Robin Alexander – „Gesammeltes SCHWEIGEN“ (Gestammeltes Schweigen wäre übrigens der pfiffigere Titel gewesen). Die Kanzlerin hält sich aus allem raus. Ihre ungenauen Formulierungen sind samt und sonders Nebelkerzen:

„Denn wer jetzt eine intensivere Prüfung der Flüchtlinge an den Grenzen fordert, bekommt die Frage gestellt: Warum wurde im vergangenen Herbst monatelang gar nicht mehr geprüft? Diese Frage ist das Dilemma, das die Bundeskanzlerin so seltsam sprachlos macht. Für das Jahr der Bundestagswahl bedeutet das vor allem eins: Es wird völlig unkalkulierbar. Jeder Terroranschlag und jeder Übergriff eines einzelnen Flüchtlings wird die Union auf den alten Streit zurückwerfen.“

Im Kommentar „Lektionen für den Rechtsstaat“ sagt Torsten Krauel: „Zu sagen, man könne so viele ‚Gefährder‘ nicht alle überwachen, ist Prinzipienreiterei. Ebenso Prinzipienreiterei ist es, nun alle Flüchtlinge oder Muslime unter Generalverdacht zu stellen.“

Staatsanwälte, Richter und Politiker verstecken sich gerne hinter den Buchstaben des Rechtswege-Staates, weil sie das davor schützt, Verantwortung zu übernehmen. Journalisten machen das Spiel viel zu oft mit, anstatt die Verantwortungsflucht beim Namen zu nennen und Verantwortung zu fordern.

Dazu fällt mir je länger, je mehr auf: Wer alle Migranten Flüchtlinge nennt, hat den Grundstein zur Verallgemeinerung mehr gelegt als jene, die alle Einwanderer unter Verdacht stellen. Wer „die Muslime“ und „den Islam“ gegen jeden Zusammenhang mit IS und Co. pauschal exkulpiert, hat einen anderen Grundstein zur Verallgemeinerung mehr gelegt als jene, die alle Moslems unter Verdacht stellen. Einige meiner linken Freunde reichen zur Zeit einen englischen Artikel weiter, in dem dargelegt wird, dass der Mörder aus Tunesien gar kein Flüchtling war. Leute, aber durch das Tor Asylantrag ist er reingekommen. Wer alle Migranten Flüchtlinge nennt, kriegt dann auch die Übeltäter als Flüchtlinge vorgehalten, die gar keine sind.

In der Bayernbeilage wird von hochgiftigen Altlasten aus ehemaligen Hausmülldeponien berichtet. Jede Gemeinde hatte bis in die Sechziger-Jahre ihre „Bürgermeisterkippe“ in irgendeinem Loch, etwa aus dem Kiesabbau. So kommt mir der Umgang von Politik und Institutionen mit der Migrationswelle vor, die doch unter Garantie nur Pause macht. Die Probleme irgendwo in öffentlichen Löchern begraben. Kopf in den Sand stecken, wird schon vorbei gehen.

Dass alles vermarktbar ist, lesen wir im Kulturteil: „Assessment für ASSASSINEN“, die Verfilmung des Computerspiels „Assassin’s Creed“ ist der Blockbuster zu Weihnachten. Dazu passt die Rezension von Eckhard Fuhr der Neuverfilmung von Karl May: „Als Winnetou hört, dass Old Shatterhands Vater bei einem Streik im Kampf gegen das Militär gefallen sei, erklärt er ihn umstandlos zum Apachen.“ Die Parallelen zur Gegenwart in Old Europe erkennen Sie bitte selbst. Oder fragen Sie zu Risiken und Nebenwirkungen ihren Abgeordneten oder Haupstadtkorrespondenten.

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