Der treulose Kunde

Dass der politische Wind dreht, wundert nicht, Tempo und Ausmaß sehr wohl. Für Sie gelesen von Roland Tichy und Fritz Goergen.

Wenn für Alexander Graf Lambsdorff auf Seite eins der WELT AM SONNTAG „die Bundeskanzlerin und ihre Kollegen klar(machen), dass ihnen Europas Werte egal sind, wenn sie der Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel im Beitrittsprozess mit einer Türkei zustimmen, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit mit Füßen tritt,“ dann ist am Super-Sunday mehr passiert als Siege und Niederlagen bei Wahlen.

DIE ZEIT widmet dem Thema AfD mehr Platz als die WamS, aber im Tenor hat sich der Abstand der Bewertungen verringert.

ZEIT, Frontseite, Tina Hildebrandt, „Jetzt geht es erst richtig los“:

  • Irrtum1: Eine Mehrheit findet Merkels Flüchtlingspolitik gut.
  • Irrtum 2: Die SPD ist eine Volkspartei …
  • Irrtum 3: Die AfD ist ein Randphänomen.

ZEIT, Seite 3, Matthias Geis und Gero von Randow, „Keine Angst vor der AFD“: Sie schildern die Parteienszene in Europa und kommen zum Schluss: „Zwar sind 20 Prozent ein beunruhigendes Ergebnis für eine rechte Partei. Aber erst wenn die restlichen 80 Prozent sich nach ihr richten, wird es bedrohlich.“ Das klingt halb nach weiter ausgrenzen.

Ganz anders findet es Martin Machowecz auf ZEIT online „Zeit, mit sieben falschen Ratschlägen aufzuräumen, die Ihnen immer wieder begegnen werden – und die AfD doch nur stärker machen.“ Sein Fazit:
  • Alle sind ein bisschen schuld. Sachsen-Anhalts CDU ist schuld, weil ihr Ministerpräsident sich in der Flüchtlingskrise leise von der Kanzlerin distanziert hat – aber dann auch nicht so entschlossen, dass man gewusst hätte, wofür oder wogegen diese Partei jetzt ist.
  • Die SPD ist schuld, weil ihre Wahlkampagne behauptete, mit der SPD bekomme man einen Regierungswechsel und neue Politik, obwohl sie seit zehn Jahren regierte.
  • Grüne und Linke sind schuld, weil sie keine Idee hatten, welche Alternativen man in diesen Zeiten eigentlich anbieten möchte, und vielleicht haben manche Linke und Grüne auch zu oft AfD-Anhänger und Nazis in einen Topf geworfen.
  • Aber auch die Medien sind schuld, weil sie die AfD ein paar Mal zu oft behandelt haben wie den Leibhaftigen. Und sie damit auch ein bisschen zu wichtig genommen haben.
  • Über all diesen Befindlichkeiten haben alle Akteure sich selbst vergessen. Die AfD musste nicht einmal etwas beitragen, ihre bloße Anwesenheit hat dafür gesorgt, dass sich alles an ihr ausrichtete.
WamS, Frontseite, Kurzmeldung, „Linke wirbt um AfD-Wähler“: Sahra Wagenknecht hat sich schützend vor AfD-Wähler gestellt.
  • ‚Natürlich darf man nicht pauschal alle Menschen, die sich angesichts hoher Flüchtlingszahlen noch stärker um Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Wohnungen und steigende Mieten sorgen, in eine rassistische Ecke stellen. Das gilt auch für Wähler der AfD.‘
  • Nach den Ergebnissen bei den drei Landtagswahlen müsse die Linkspartei darüber nachdenken, warum sie zu ‚einem erheblichen Teil frühere Wähler verloren hat’“.

„Alternative für Antikapitalisten“: Die FAS, Frankfurter Allgemeine SONNTSGAZEITUNG, setzt sich mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der AfD auseinander und Ralf Bollmann staunt: Das ist ja gar nicht neo-liberal, sondern streckenweise schlicht antiliberal. Auch die Wähler sind nicht rechte Erzkapitalisten, sondern eher einfache Angestellte und Arbeiter. Den nächsten Schritt aber wagt der Autor nicht – festzustellen, dass sich hier eine neue Querfront mit den Linken öffnet. Aber Frauke Petry als Wiedergängerin der von der FAS so auffällig hofierten Sahra Wagenknecht und ihrer anti-modernen, anti-kapitalistischen und anti-amerikanischen Thesen: Das geht zu weit, wenn sich Geschichte wiederholt.

Was Ansgar Graw für die WamS aus Virginia von Donald Trumps Wahltour berichtet, „Auf Kalten KOHLEN“, sollten alle Politik- und Parteien-Deuter lesen: In der Hochburg der Demokraten, in Bergbau-County Buchanan, laufen die Leute, die sich von allen in Washington abgehängt fühlen, mit 70 Prozent zu Trump über. Das korrespondiert mit „Kein SIEG in Sigmaringen“: „Mit 33,7 Prozent der Stimmen gewann Andrea Bogner-Unden als erste Grünen-Kandidatin den Wahlkreis 70. Klaus Burger (CDU) kam auf 32,3 Prozent. Die SPD (6,8) holte nicht einmal halb so viel Stimmen wie die AfD, landete noch hinter der FDP. Fünftstärkste Kraft. Bitter. Verstörend, das Ende einer Volkspartei.“

Ungemach kündet Mariam Lau in der ZEIT den Grünen, „Da wächste kein Zopf“. Die Grünen sonnen sich im Sieg von Winfried Kretschmann, wollen aber um Gottes willen nichts von ihm lernen. Gerhard Schröder erklärt im ZEIT-Interview die Deutung, dass zwei Drittel für Merkels Flüchtlingspolitik gestimmt hätten zur Legende: „Die Leute haben Herrn Kretschmann gewählt, nicht Frau Merkel.“ Von ersten AfD-Hochschulgruppen berichtet Eva Thöne: „Rechte Gruppenarbeit“ – im Buch CHANCEN weit hinten.

„Der Testsieger“ überschreibt Daniel Erk seinen Bericht für die ZEIT aus Haßloch in Rheinland-Pfalz: „Haßloch ist Miniaturdeutschland.“ Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) beobacht sei 30 Jahren das Konsumverhalten der Haßlocher, weil sie der exakte demographische deutsche Durchschnitt sind. Produkte, die den Haßloch-Test nicht bestehen, kommen nicht auf den deutschen Markt. Im Landesurchschnitt kriegte die AFD 13,3, in Haßloch 18,8 Prozent.  Im Ort gibt es kein Flüchtlingsheim, Flüchtlinge sind dezentral untergebracht: „Die Krise findet nur im Fernsehen statt.“ Da verdient bei der FAS ein Beitrag von Friederike Haupt höchstes Lob. Sie beschreibt, wie der chinesische Künstler Ai Weiwei das Elend von Idomenia nebst einen weißen Flügel nutzt, um auf etwas aufmerksam zu machen, worauf bereits alle achten – nur eben noch nicht in Zusammenhang mit Ai WeiWei. Die Flüchtlinge können nur leider vor diesem Mann nicht flüchten.

„Einmal BMW, immer BMW: Das gilt heute nicht mehr. Die Loyalität der Verbraucher schwindet. Wie sich die Konzerne darauf einstellen und warum deren Strategie als Vorbild für die geschwächten Volksparteien dienen kann“ schreibt in der WamS Michael Gassmann in „Der treulose KUNDE“  – Auszüge:

  • Als tiefere Ursache und Treiber der neuen Treulosigkeit gilt die digitale Durchdringung des Alltags. Das jederzeit verfügbare Internet sorgt für extreme Transparenz und befreit gleichzeitig durch eine unendliche Vielzahl neuer Optionen von alten Zwängen mit verräterischen Bezeichnungen wie „Kundenbindung“ oder „Werbedruck“. Kehrseite der grenzenlosen Wahlfreiheit ist ein wachsendes Bedürfnis nach Orientierung.
  • Dieselben Einflüsse wirken Marken-Spezialisten zufolge in der politischen Kommunikation. In beiden Sphären wachse der Bedarf an Gewissheiten … „Früher war klar: Ich komme aus einer Bauern- oder aus eine Arbeiterfamilie, da war die Wahl bestimmter Parteien vorgezeichnet. Diese Eindeutigkeit hat sich überwiegend aufgelöst.“

Ja, alles hängt mit allem zusammen. Denken wir öfter darüber nach.

Im WamS-Editorial dieses mal Stefan Aust selbst: „Scheinbar ein Sieg der Kanzlerin, die auf eine europäische Lösung gesetzt hatte. In Wirklichkeit das Ergebnis der eigenmächtigen Schließung der Balkanroute durch Österreich und die Balkanstaaten. Eine Kontrolle der Grenzen, wie sie seit Monaten auch von deutschen Sicherheitsbehörden verlangt wurde, fand nur in Deutschland nicht statt. Die schmutzige Arbeit der Grenzsicherung mit Stacheldraht und hässlichen Fernsehbildern, die Merkel vermeiden wollte, übernahmen andere – und wurden dafür auch von der Kanzlerin kritisiert. Jetzt profitiert sie davon, und ihr Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier lässt keine Fernsehkamera aus, um zu erklären, wie genial seine Kanzlerin die Flüchtlingskrise gemeistert hat. Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich kaum noch.“

Der Titel daneben meint nicht diesen Aust-Text, könnte aber: In „Lizenz zum SCHLAFEN“ geht es um: „Angesichts von Krieg und Terror braucht die Politik leistungsfähige Sicherheitsbehörden. Die aber leiden unter Personalnot und Etat-Kürzungen. Und jetzt gibt es Gesetzespläne, die den Bundesnachrichtendienst schwächen würden.“

„Die Operation Asyl beginnt“, titelt die FAS und ist damit aktuell. Sie beschreibt nachrichtlich die Herausforderungen, die der Türkei-Deal abverlangt – hauptsächlich von Griechenland. Indirekt wird deutlich, dass sich Griechenland die ganze Zeit auf das Durchwinken und Weiterleiten von Flüchtlingen eingestellt hat und jetzt erstmals etwas mehr leisten muss – Bewertung der Asylanträge und Rückführung der Abgelehnten, und dazwischen menschenwürdige Beherbergung.

Und was sonst in der FAS? Eher lesenswert das Interview von Georg Meck mit dem gerade nach sieben Prozessjahren freigesprochenen Wendelin Wiedeking. Ein paar starke Zitate über das doch manchmal fragwürdige Agieren der Staatsanwälte und konstruierter Vorwürfe – da fehlt noch ein Blick auf die handelnden Personen in der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die sich mehrfach als eine Truppe von ideologisch fest verankerten Rächern der Enterbten dargeboten hat.

Im Feuilleton eine ganze Seite über Grippe. Wieder bleibt man etwas ratlos: Amüsant, wer derzeit an Infekten leidet; das tröstet alle im Leid Verbundenen; und Gott sei Dank fehlen die billige Tipps („Vitamin C einnehmen“) aus der Abteilung Hausmittel. Aber der Erkenntnisgewinn endet nach dem ersten Absatz.

So ziehen sich durch das Blatt einige Linien, die immer wieder verfolgt werden, und an immer wieder anderer Stelle etwas zum Generalthema beitragen. Etwa die durchaus einsichtsvolle Reportage über die AfD in Sachsen-Anhalt oder verschiedene Splitter zur Person Guido Westerwelle: Die „Häme-Bürger hätten Westerwelle ein bisschen etwas gutzumachen“. Das ist wohl formuliert, aber auch in der FAS etwas spät unternommen.

ICON, ein Spezial der WamS, von Seite 81 bis 180: Eine Explosion von Bildern. Im Feuilleton der ZEIT Fukuyama und anderes, das ich noch lesen werde. Aber heute eben der Fokus auf das Aktuelle. Wie sich der politische Wind dreht, wundert nicht, Tempo und Ausmaß sehr wohl.

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