DER SPIEGEL torkelt und erhält einen neuen Chefredakteur. Man spürt die Verunsicherung der Redaktion; fast möchte man den früher so Mächtigen und Selbstbewussten über die Köpfchen streicheln: Traut Euch. Was auch immer. Aber traut Euch.
Die zehnseitige Titelgeschichte „Die Jahrhundertfrage“ von Nicola Abé Katrin Elger und Fritz Schaap wartet mit zehn Thesen zur „Flüchtlingspolitik” auf von „Mehr Hilfe vor Ort“ über „Autonomie wiederherstellen“ und „Transitzentren“ bis „Rücknahmeabkommen“, um einige zu nennen. Alles nichts wirklich neu. Natürlich politisch korrekt bis zum abwinken, um ja nicht in die ZEIT-Falle zu tappen und irgendwie das Feuer der Refugee-Fraktion auf sich zu lenken, weil man notwendige Fragen zu direkt stellt wie die Hamburger Zeit-Frau in der „Sennotrettungsfrage”.
Nein, das passiert nicht, darf nicht passieren. So entsteht ein Beitrag, der nach allen Seiten nickt und brav ist wie ein ertappter Schüler, eine Schülerin, die vor versammelter Klasse nach Vokabeln abgefragt wird – bloß nichts falsch machen. Und trotzdem liest sich der Beitrag mit seinen vielen Kurzreportagen aus verschiedenen Krisengebieten gut. Kronzeugen für die Thesen sind der britische Wirtschaftswissenschaftler und Kritiker allzu einfacher Seelenlagen, Paul Collier, und Gerald Knaus, Gründer und Leiter der „Europäischen Stabilitätsinitiative“, der Gewissensberater vom Amt.
Wer das Emotionale, das über die Reportagen transportiert wird, außen vor lassen und nur den Kern der Thesen lesen will, der sei auf die letzten 94 Zeilen verwiesen. Dort findet man zusammengefasst die vorher ausgebreiteten Ansätze. Das Thema Einwanderungsgesetz wird mit der letzten der zehn Thesen am Rande gestreift. Auch hier spürt man: Bloß nichts falsch machen! Bloß keine Festlegung. Armer SPIEGEL. „Ein Plädoyer“ ist auf dem Titel angekündigt, auf großer, weißer Fläche. Ein Plädoyer aber findet man nicht. Der Inhalt bleibt so blaß wieder der Titel, so kleingedruckt, so an den Rand gedrückt. Früher war da Mut, gelegentlich auch Wut. Jetzt ist da nur Ducken.
In „Operation Retro“ verfolgen Michael Sauga und vier Kollegen die verzweifelten Zuckungen von Andrea Nahles und Olaf Scholz, die trotz voller Kassen Steuern und Beiträge erhöhen wollen, um die jüngsten Rentenversprechen abzusichern. Eine SPD, die versucht, sich neu zu erfinden und dabei inhaltlich um Jahrzehnte zurückfällt. Die Kuschel-SPD, die in Liebessehnsucht es jedem am Kamin warm machen will und dabei jeden Kompass zu verlieren scheint. Warum Deutschland die Türkei alimentieren soll, bleibt weiter das Geheimnis von Andrea Nahles, deren Partei weiter vor sich hin schrumpft.
In einem Gastbeitrag („Unbedingte Loyalität“) bespricht Martin Schulz die Biografie „Der tragische Kanzler“ von Peter Reichel über Hermann Müller, in der Weimarer Republik Fraktions- und SPD-Vorsitzender, Reichskanzler und Außenminister. Und natürlich zieht der Ex-Kanzlerkandidat und Ex-SPD-Vorsitzende die Parallelen zum Zustand der heutigen SPD. Etwa, wenn er das Schlusskapitel „Das Dilemma der SPD“ auf die Jetztzeit überträgt: das Ringen um Positionen, um die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen, die Zerrissenheit zwischen Verantwortung und Prinzipientreue. Überliefert ist das Lebensmotto Müllers: „So lange man schnaufen kann, muss man kämpfen“. Ob Schulz diese Botschaft bewusst herausstellt – für Andrea Nahles und Olaf Scholz?
In Washington hat Robert Mueller vorige Woche zwei Teilsiege errungen. Neben dem Stab um den Sonderermittler recherchiert auch ein Team des linksliberalen Thinktanks „Center for American Progress“ das Moskau-Projekt, wie es dort heißt. Christoph Scheuermann ließ sich von Teamleiter Max Bergmann auf den neuesten Stand der Recherche bringen und lässt die Spiegel-Leser in „Die Jagd“ daran teilhaben.
Pflichtlektüre für alle Journalisten ist das Spiegel-Gespräch von Isabell Hülsen und Britta Sandberg mit John Micklethwait, dem Chefredakteur des US-Medienkonzerns Bloomberg. Eine seiner Botschaften: „Der Druck auf uns Journalisten, Dinge zu erklären, wächst“. Eine andere: Die Dinge sortieren sich gerade in Richtung Qualität. Und besonders wichtig: Nichts für selbstverständlich halten.
Mit „Taxis der Lüfte“ gelingt Marcel Rosenbach und Simone Salden ein interessanter Beitrag über die Entwicklung von Passagierdrohnen, die angeblich bald mit dem herkömmlichen öffentlichen Nahverkehr konkurrieren. Wenn Konzerne wie Airbus, Daimler und Toyota investieren, sind das unübersehbare Signale. Auch Uber soll schon Businesspläne in der Schublade haben, um in das Geschäft einzusteigen. Und die Münchner CSU-Fraktion fordert jüngst von der Deutschen Bahn, auf dem Neubau des Bahnhofs entsprechende Landeplätze einzuplanen, damit Zahlungskräftige und -willige nicht mehr eine Stunde in der S-Bahn sitzen müssen, um vom Flughafen in die Innenstadt zu kommen. Aber wie realistisch ist das alles? Lösen Lufttaxis wirklich Mobilitätsprobleme? Oder schaffen Sie vielmehr weitere? Ein spannendes Thema, das ich mir gut als Titelgeschichte vorstellen kann. P.S.: Bei Lufttaxi fällt mir immer zuerst die Szene ziemlich am Anfang des Science-Fiction-Fantasy-Films „Das fünfte Element“ ein: Leeloo Minai Lekarariba-Laminai-Tchai Ekbat De Sebat (Milla Jovovich), das fünfte Element, landet orientierungslos im Lufttaxi von Korben Dallas (Bruce Willis), und beide entkommen mit einem schwindelerregenden Ritt durch dichten Luftverkehr auf mehreren Ebenen zwischen Häuserschluchten den Verfolgern.
Zuletzt noch ein Lob an Rafael Buschmann, Marc Hujer und Gerhard Pfeil, die mit dem Beitrag „Wie eine Traditionself“ einen verhaltenen Abgesang auf den führungsschwachen, aber mangels Alternativen angelblich unentbehrlichen Fußball-Bundestrainer Joachim Löw verfassten. Jetzt hat Löw die Chance, in den nächsten Spielen zu punkten. Bleibt abzuwarten, ob die Analysen, die Löw und Bierhoff dem DFB vorlegten, Anlass zum Aufbruch sind oder doch nur Papiertiger und Lippenbekenntnisse.
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Der Spiegel und all die anderen Systemmedien sind immer noch unschlagbar gut! Das Problem ist nur das viele die früher Spiegel, Welt Taz, FAZ, Stern und wie sie alle heißen, Trommelwirbel, ausgewandert sind. Das zweite Problem: Mittlerweile sind so viele arme und hilfbedürftige, von Nazis gejagte Flüchtlinge und Migranten in Deutschland die sich- auch deswegen aus ihrem Land geflüchtet sind – nichts sehnlicher wünschen würden den Spiegel, Welt, TAZ, FAZ, Stern usw. usf. gerne lesen würden, ihn aber wegen der komischen Sprache die dort verwendet wird nicht lesen können. Das Problem ist eigentlich ganz leicht zu lösen für Spiegel, Welt,… Mehr
Dieses Blatt gibt sich überhaupt nicht mehr kritisch und differenziert. Nur noch plumpe Propaganda. Absolut verzichtbar und hoffentlich bald weg vom Markt. Gibt nur noch ein noch hetzerisches Linksblatt: Die Süddeutsche.
Man liest den SPIEGEL und die Süddeutsche und findet keinen intelligenten Satz mehr darin. Was ist passiert?
Bei aller berechtigter Kritik an der Abhandlung des Titelthemas fehlt sowohl im Spiegel als auch hier bei Tichys die Benennung des Hauptproblems, das Bevölkerungswachstum in den Herkunftsländern der Migranten, ohne dessen Lösung alle anderen Maßnahmen Illusion sind oder sein werden.
Früher ,ja früher war der Spiegel noch ein Qualitätsmedium .
Seelig die Zeiten ,als er sich mit FJ Strauß feurige Gefechte lieferte .
Heute ? ,oh jej ! Eine Spiegelausgabe geschenkt zu bekommen ist fast schon eine Beleidigung ,steht man nicht auf Merkelschen Msochismus und linkssozialem Hypermoralgeschwurbel .
Information bekommt man bei unabhängigen ,siehe TE ,besser und nicht RotGrün eingefärbt .
Mit einem Triumvirat scheiterte bereits der „stern“ in den Achtzigern kläglich.
Vom Sturmgeschütz der Demokratie zum Sturmgeschütz der Demokratur. Was war ich froh ab 1989 den Spiegel lesen zu können und Montags war Spiegeltag. Heute würde ich diese Gazette nicht mal mit spitzen Fingern anfassen. Der Spiegel ist das Spiegelbild für den Niedergang unserer Kultur und Staates.
Der Sommer, der NIE endet, ist drei Wochen später zu Ende. Hoffentlich gibt’s noch bisschen Altweibersommer, ich jedenfalls habe noch nicht genug. Habe ich vom „Spiegel“ genug, nach ca fuffzig Jahren? Oder doch nie, ab jetzt gezählt drei Wochen? Geben wir der neuen Führungsriege noch ’ne Chance. Man soll bekanntlich niemals niemals sagen. Schaumermal.
Verstehe nach wie vor nicht, weshalb sich regelmäßig einer der TE-Autoren am Spiegel abarbeitet. Irgendwie muss in den Hinterköpfen einiger Journalisten noch eine Erinnerung an die einstige „Relevanz“ dieses spießigen Rechthaberblattes herumschwirren. Den Stil einer subjektiven Nacherzählung mit spontanen Ausflügen ins Filmgenre finde ich ebenfalls nicht überzeugend. Habe aus dem Artikel nichts mitgenommen und werde vergleichbare Beiträge künftig ganz meiden. TE, you can do better.
Ich persönlich bin TE dankbar für die wöchentliche Rezension des SPIEGEL. Immerhin war ich jahrelang treuer Leser, der sich ähnlich eines ehemaligen Lebensabschnittsgefährten immer noch für die Umtriebe der Verflossenen interessiert.
Und wie bei einer dahingegangenen Beziehung wartet man sehnsüchtig auf den Tag, an dem die Einsicht der ehemals Hofierten zurückkehren möge.
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und elendigen Qualen.
Vor 2 Jahren das Spiegel-Abo gekündigt. Das ist kein Journalismus mehr, für den man Geld ausgibt. Da machen es viele, auch im Netz, mittlerweile seriöser.
Ich denke in einem Jahr wird der Spiegel verdient da sein, wo die TAZ verdient angekommen ist.