Die Hamburger wollen jetzt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien Zünglein an der Waage spielen und die öffentliche Meinung beeinflussen. Es ist schriftlicher Größenwahn. Für die Story über den Nicht-Völkermord in Deutsch-Südwestafrika dagegen lohnt sich der SPIEGEL.
Die Journalisten gelten als die vierte Macht im Staate. Bei SPIEGEL-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer hat sich dies zu Größenwahn verstärkt. Die Hamburger wollen jetzt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien Zünglein an der Waage spielen und die öffentliche Meinung beeinflussen. Der aktuelle Spiegel erklärt zum Brexit den Briten in sieben zweisprachigen Beiträgen, dass sie die Deutschen doch nicht allein in der EU lassen dürfen. Im Leitartikel hat Brinkbäumer staatstragend selbst in die Tasten gegriffen, zusammen mit Florian Harms. Die Titelgeschichte „Lasst uns nicht allein“ von Peter Müller, Christoph Pauly und Christoph Scheuermann ist ein klischeereicher Parforceritt durch die ältere und jüngere Geschichte. Ein Gespräch mit Wolfgang Schäuble vor verblassender britischer Flagge (eine Montage der Bildredaktion). Das Wirtschaftsressort steuert die Rettung des Mini durch BMW als Kronzeugen für den Verbleib bei. Die klügste Betrachtung liefert der Australische Historiker Christopher Clark in seinem Essay „Vom Kampf um Identität“.
Nun muss fast jeder im Leben einmal die Erfahrung machen, dass weder Jammern noch Mitleidstour in einer Beziehungskrise etwas bringen. Entweder sind beide Partner zu grundsätzlichen und nachhaltigen Veränderungen willens und fähig. Oder man muss anerkennen, dass die gesamte Konstellation von Beginn an nie gepasst hat. Die bekanntlich pragmatischen und unsentimentalen Engländer – sie sind es, die den Austritt betreiben, nicht die Gesamtheit der Briten – lassen sich von dem deutschen Gewimmer sicherlich nicht beeindrucken. Dann lasst sie doch weiter von imperialen Zeiten träumen, in denen sie nach Belieben ihre Kolonien ausbeuteten! Kooperation war für sie immer nur Mittel zum Zweck, um den eigenen Machtanspruch zu mehren.
Kommt der Brexit, dann wird es spannend, wie die Europäer sich neu gruppieren und ohne die Störenfriede aus London arrangieren. Zudem: Was soll man von einer Nation halten, die ihre besten Fußballklubs an russische Oligarchen verhökert und ihre erfolgreiche TV-Serie Teletubbies dem nordkoreanischen Führer Kim Jong Un überlässt? Mir ist dieser Spiegelauftritt mit breiter Schleimspur jedenfalls peinlich.
Noch eine Schleimspur führt zum SPIEGEL-Gespräch von Rafael Buschmann und Jörg Krämer mit Bundestrainer Joachim Löw im Beitrag „Ich bin ein Weiterentwickler“.
Meine größte Enttäuschung im Heft: Willy Brandt, das Vorbild meiner Generation, hielt, wie Klaus Wiegrefe in seinem Beitrag „Ein bisschen Druck“ berichtet, bei den Amis die Hand auf. Und ich hatte ernsthaft gedacht, dass nach den Insider-Geschäften von Ex-Gewerkschafter Steinkühler mich nichts mehr erschüttern könnte.
Ein Stück über die deutsche Kolonialgeschichte ist lesenswert: Möglicherweise war, bei aller notwendigen Kritik am Vorgehen, das Vorgehen der Deutschen gegen die Hereros in Deutsch-Südwestafrika doch kein Völkermord. Sie sind in der Wüste nicht umgekommen, sondern einfach hindurch gelaufen, sagt die neuere Forschung und widerlegt die DDR-Propaganda, die allgemein als Schulwissen akzeptiert wird. Für dieses saubere Stück Zeitgeschichte lohnt sich der Spiegel.
Sven Böll beschreibt in dem Beitrag „Ein Zug nach nirgendwo“ den Moloch Deutsche Bahn, der sich immer noch an Auslandsaktivitäten und Diversifizierung ergötzt, die Hausaufgaben vor der eigenen Tür aber nicht auf die Reihe bekommt. Die klare Linie fehlt nicht nur dem Konzernmanagement, sondern auch dem Eigentümer. Die janusköpfige Rolle von Merkel-Intimus Roland Pofalla spart Böll allerdings aus. Als „Lobbyist“ wurde er der Öffentlichkeit angekündigt. Jetzt räumt er auf und bringt sich als möglicher Nachfolger in Stellung. Ist das der Grund, weshalb Verkehrsminister Dobrindt so gar keinen Ehrgeiz mit dem Staatsbetrieb an den Tag legt? Jedenfalls scheint Bahnchef Rüdiger Grube kurz vor dem Abschuss zu stehen.
Frank Dohmen, Christoph Pauly und Michaela Schießl beschreiben das Gift in der Ankündigung von Bayer, Monsanto übernehmen zu wollen. Nicht nur die Marke wird zukünftig leiden, sollte der Deal zustande kommen. Heute schon leidet ganz offensichtlich die Unternehmenskultur des Chemie- und Pharmariesen aus Leverkusen. Das Übernahmekarussell verspricht mehr als Nervenkitzel. Wer frisst und wer am Ende gefressen wird, steht noch lange nicht fest. Hochmut kommt vor dem Fall.
Spannendes lerne ich von Manfred Dworschaks im Beitrag „Plunder global“ über die Handelsplattform OpenBazaar, die sich zur originellen Alternative zu Ebay und Amazon entwickeln könnte, ein „radikal freier Markt“ – ohne Vermittler, ohne Provisionen, über eine eigene Software direkt von Anbieter zu Käufer. Die Handelswährung sind Bitcoins.
Aus dem Interview „Richtet euch doch selbst“ von Susanne Koelbl und Jan Puhl mit Yoweri Museveni, dem Staatschef von Uganda erfahre ich, dass es im dortigen Parlament neben einer Frauenquote eine Quote für die Jugend, eine Quote für die Arbeiter, eine Quote für Behinderte und eine Quote für die Armee gibt. Museveni beklagt die Besserwisserei und Arroganz der Europäer, legt den Finger in die kolonialen Wunden (ein unrühmliches Erbe nicht zuletzt Großbritanniens) und zeigt auf die Machenschaften der CIA.
Volker Weidermann hat im Feuilleton mit „Kleines Buch, jetzt groß“ die Nase vorn. Hans Falladas Erfolgsroman Kleiner Mann- was nun?, in der Neufassung des Aufbau-Verlags nun erstmals ohne die ungekürzt erschienen, lässt den SPIEGEL-Literaturchef darüber nachdenken, was Streichungen bewirken: „Es ist gut, dass wir nun die Urversion kennen, gleichzeitig staunt man aber, wie viel einem Buch weggenommen werden kann, ohne die Substanz zu beschädigen. Eine Lehre auch für unsere Zeit, in der jeder mittlere Kleinerfolgsautor mit Verlagswechsel droht, wenn ihm sein Lektor mal eine halbe Seite wegstreichen will, und deshalb Leser mit all den 800-Seiten-Romanen belästigt werden. Ein großes Kunstwerk kann durch Striche nicht getötet werden. Aber doch kleiner gemacht.“
Zum Schluss: Eine Dating Plattform für Orang-Utans soll bei den sehr wählerischen Primaten Ehen stiften und so den Zoo-Nachwuchs befördern. Marianne Holtkötter, Primatologin in der Stuttgarter Wilhelmina, hatte die Idee dazu. Wie zu lesen ist, soll das Video des Orang-Utan-Männchens Gempa aus Prag die Orang-Utan-Dame Sinta im Schwäbischen mächtig fasziniert haben. Ob aber allein äußerliche Merkmale, Bewegungen, Mimik und Gestik eine Lebensgemeinschaft dauerhaft begründen, ist noch zu erforschen. Vielleicht sind die Menschenaffen ja klüger als so mancher Mensch, der Waschbrettbauch, Dreitagebart, Kraftmeierei, blonde Haare und üppige Oberweite für beziehungsstiftend hält.
P.S. Lasst doch endlich die IS-PR sein!
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