Wer am Hof der Kanzlerin derselben widerspricht, kann nicht Recht haben. München ist außerhalb der Reichweite des Hauptstadtbüros, und das Nichtverstehen wächst mit dem Quadrat der Entfernung von Berlin-Mitte. Beobachtet Hans-Peter Canibol.
Eine der letzten SPIEGEL-Ausgaben vor der großen Schrumpfkur bietet eine Fülle lesenswerter Themen und Analysen. Es wäre schade, wenn sich das künftig ändern würde.
An vorderster Stelle steht für mich das Portrait „Die Ausnahmeerscheinung“ von Julia Amalia Heyer über den neuen französischen Politstar und Hoffnungsträger Emmanuel Macron, der in kurzer Zeit in Frankreich zum Hoffnungsträger wurde. Der Beitrag zeigt, wiewohl es möglich ist, innerhalb der bestehenden Parteistrukturen Anerkennung finden, auch wenn Politiker keine einfachen Lösungen versprechen. Über all die täglichen Aufgeregtheiten gerät genau das nur allzu oft aus dem Blickfeld.
Womit wir beim aktuellen Titel wären. „Rache ist Weißwurst“ erzählt die Geschichte gegenseitiger verletzter Eitelkeiten und einseitiger Ratlosigkeit. Man hätte auch texten können „Horst ratlos“. René Pfister und Ralf Neukirch identifizieren den bayerischen Ministerpräsidenten als denjenigen, der immer wieder aufläuft und je öfter es ihm passiert umso mehr verbeißt er sich. Die Wut ist viel mehr noch auf Kanzleramtsminister Peter Altmaier gerichtet, der in vorderster Front Energiewende und Flüchtlingspolitik verteidigt und nebenbei noch die grimmigen Bajuwaren auflaufen lässt. Was aber nicht nur an Seehofers Verhältnis zu Kanzlerin und der CDU liege, sondern auch im Machtkampf innerhalb der CSU um seine Nachfolge begründet sei. Worin nun aber genau die akute Gefahr für Deutschland aus diesen Scharmützeln liegt, wie es in der Unterzeile heißt, wird nicht weiter ausgeführt. Alles folgt der These: Wer am Hof der Kanzlerin derselben widerspricht kann nicht Recht haben. München ist außerhalb der Reichweite des Hauptstadtbüros, und das Nichtverstehen wächst mit dem Quadrat der Entfernung von Berlin-Mitte.
Sie liegt vielmehr darin – und das sind die Parallelen zu Frankreich –, dass Merkel genauso wenig wie Hollande den Bürgern erklärt, was sie mit dem Land vorhat, wie Matthieu von Rohr in seinem Leitartikel „Land der Streiks“ auf Frankreich bezogen schreibt.
Olaf Scholz träumt im SPIEGEL-Gespräch davon, dass die SPD der bedrängten Mittelschicht helfen müsse, wenngleich eigentlich kein Geld dafür da sei. Man wird das Gefühl nicht los, dass der SPIEGEL es sich auf die Fahne geschrieben hat, Scholz als Kanzleralternative für Gabriel aufzubauen. Und es ist die geistige Verkümmerung der SPD, die meint, immer nur mit Geldausgeben die Welt retten zu wollen. Eigenverantwortung oder Stärkung derselben? Fehlanzeige.
Dabei rechnet Christian Reiermann in „Begradigung des Bauches“ vor, dass es sehr viel mehr Spielraum gibt, um vor allem die Mittelschicht zu entlasten, als die angekündigten zwölf Milliarden Euro, die Finanzminister Schäuble im nächsten Jahr wie Sterntaler über das Wahlvolk verstreuen will.
Gregor Gysi weint sich über seinen tiefen Fall in die Bedeutungslosigkeit aus. „Er will doch nur reden“ titelt Marc Hujer. Auf dem Parteitag durfte Gysi genau das nicht: reden. Und vor dem Bundesverfassungsgericht ist er auch abgeblitzt. Die Auftritte in den Talkshows sind kein Trost mehr. Er, der kaum ein Mikrofon auslässt, verbringt inzwischen die leere Zeit in Zwiesprache mit Spiele-Apps auf dem Smartphone.
Sven Böll, Frank Dohmen, Alexander Jung, Christoph Pauly und Michael Sauga nehmen das Interesse chinesischer Unternehmen an Kuka zum Anlass, über die Unvereinbarkeit von freier Marktwirtschaft und Staatskapitalismus zu sinnieren. In „Ein bisschen Marktwirtschaft“ malen die Autoren das Menetekel der Preisentwicklung in der Stahlwirtschaft an die Wand. Die Frage ist allerdings, wie viele Marktbeschränkungen die globalisierte Wirtschaft verträgt, ohne den Motor abzuwürgen, was vor allem die deutschen Hochtechnologieunternehmen treffen würde. Davon einmal abgesehen, tun mir eher die Unternehmen leid, die an Heuschrecken wie KKR verscherbelt und ausgepresst oder von Hedgefonds drangsaliert werden. Kuka könnte unter den Chinesen expandieren und florieren. Wer glaubt denn ernsthaft, dass deren Roboter-Technologie geheim gehalten werden kann? Die Chinesen werden Industrie 4.0 mit und ohne deutsche Technologie umsetzen und ihre so erzeugten Produkten auf die Weltmärkte werfen.
In Indien wird die Bevölkerung mittels biometrischem Personalausweis in die Gegenwart katapultiert. Wieland Wagner berichtet in „Hundert Jahre Rückstand“ über die Chance, dadurch die Gesellschaft zu modernisieren, und über die Widerständedagagen. Eines wird deutlich: Allein durch biometrische Ausweise lässt sich eine Vision wie „Digital India“ nicht umsetzen, solange die Menschen noch in Slums wohnen und die Amtsdiener dicke Aktenstapel abarbeiten wie zu Kolonialzeiten.
Jürgen Dahlkamp berichtet in „Schmutz und Schmerz“ über den Bürgermeister von Panama, den das Schmuddelimage des Touristik-Paradieses bekümmert.
Lesenswert ist das Interview „Alles durch den grünen Filter“ von Susanne Amann und Simone Salden mit Paul Polman, dem Chef von Unilever über „nachhaltige“ Wirtschaft und die Macht der Kunden.
Bereichernd, weil abseits jeglicher Hysterie, fand ich das SPIEGEL-Gespräch mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über die Russlandpolitik der Allianz.
„Insel der Sehnsucht“ von Erich Föllath entlarvt den verbalen Müll, der sich in Putin-Interviews ansammelt. Zur Ergänzung empfehle ich das Gespräch von Christian Neefs „Bereit, alles niederzubrennen“ mit dem Moskauer Philosophen Alexander Zipko über den antiwestlichen russischen Patriotismus.
Neugierig macht „Mitschreiben ist alles“ von Volker Weidermann. Der Schriftsteller Ilja Trojanow hat über vier Jahre alle 80 olympischen Einzeldisziplinen ausprobiert, sich dabei immer wieder neu klennenlernet und seine Erfahrungen jetzt veröffentlicht. Das Buch „Meine Olympiade. Ein Amateur. Vier Jahre. Achtzig Disziplinen“ verspricht Lebensmut. „Er scheitert ständig und lacht darüber“, schreibt Weidermann.
Stefan Berg verschenkt in „Singende Säge des Klassenkampfs“ zum 90. Geburtstag von Hermann Kant ein großes Thema. Zu sehr überlagert ein ganz offensichtlich persönlich privates Interesse einen erweiterten Blick.
Rupert Neudeck hätte für sein Lebenswerk eine ausführlichere Würdigung verdient als einen halbseitigen Nachruf.
Ach ja: Die EM naht, und die SPIEGEL-Redaktion versucht sich an einer sportpolitischen Einordnung, die richtig daneben geht. Dass die Nationalmannschaft jetzt für die verlorene Ehre des DFB kämpfen müsse, ist ausgemachter Quatsch!
Zum Schluss: Trauen Sie keinem Foto! Auch nicht denen auf SPIEGEL ONLINE! Guido Kleinhubbert hat nämlich herausgefunden, dass mit inszenierten Fotos Stimmung gemacht wird. Danke für die Aufklärung. Aber: Neu ist das Phänomen nicht. Es ist allerhöchste Zeit, dass eingekaufte Bilder von Redaktionen genauso hinterfragt werden
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein