Die SPIEGEL-Redaktion versucht , das politisch korrekte Fahrwasser zu keiner Zeit zu verlassen, was in hohem Maße angestrengt wirkt. Aber die politischen und gesellschaftlichen Interessen der Menschen in Deutschland – partei- und milieuübergreifend - haben sich weit davon entfernt und damit auch die SPIEGEL-Leser.
Das Thema der Woche konnte Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer nicht verfehlen, der das Heft mit einer Titelzeile versah, die mehr „verspricht“, als sie einlösen kann. Ja, es geht um die Geschehnisse rund um die Silvesternach in Köln. Beim Lesen der Titelgeschichte zeichnet sich deutlich ab, wie sich Deutschland schon im Verlauf des zurückliegenden Jahres verändert hat. Auf eine Art, die auch die SPIEGEL-Redaktion zwingt, über Geschehnisse anders zu schreiben, als man es in früheren Zeiten getan hätte. Die alten Feindmuster funktionieren nicht mehr, auch wenn Cord Schnibben in seinem Leitartikel versucht, noch einmal an alte Zeiten anzuknüpfen. Die politischen und gesellschaftlichen Interessen der Menschen in Deutschland – partei- und milieuübergreifend – haben sich weit davon entfernt und damit auch die der SPIEGEL-Leser.
So wirkt die Titelgeschichte trotz einiger interessanter Details und trotz des Versuchs, das Geschehen einzuordnen – was ich bei den letzten Ausgaben häufig vermisst habe – seltsam unentschieden. Die einzelnen Teile des Kaleidoskops wirken willkürlich zusammengesetzt – eine Gesamtaussage wird nicht sichtbar. Und gar nicht gelöst wird die Frage, was die eigentliche Essenz der Silvesternacht ist: Geht es um das Versagen der Sicherheitskräfte? Ist es ein Migrations- und Integrationsthema? Oder ist es der Umgang mit Frauen in unserer Gesellschaft? Die SPIEGEL-Redaktion versucht den Spagat, wobei der Versuch, das politisch korrekte Fahrwasser zu keiner Zeit zu verlassen, in hohem Maße angestrengt wirkt. Der Lichtblick der Titelstrecke ist der Essay „Misere und Machismo“, in dem sich Christiane Hoffmann mit den Gründen der Gewalt beschäftigt.
Auffallend ist, welche Fragestellungen ausgeklammert, nicht verfolgt werden. Wenn Politiker also härter durchgreifen wollen: Sind die angekündigten Mittel tauglich? Sind sie im Parlament mehrheitsfähig? Oder ist es nur weiße Salbe? Hat sich jemand mit einer Reihe von Flüchtlingen – Männern und Frauen – über deren Frauenbild unterhalten? In Deutschland gibt es hervorragende Max-Planck-Institute für Soziologie. Warum werden eigentlich deren Wissenschaftler von den Politikern und den Medien konsequent ignoriert? Auf Anfrage erhielt ich die Auskunft: Die Politiker hätten dort bisher noch keine Gutachten zum Thema Integration in Auftrag gegeben. Trifft es zu, dass für eine Integration der Zuwanderer, wie es beispielsweise im Ruhrgebiet bei den polnischen Katholiken Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall war, drei Generationen für die Integration zu veranschlagen sind? Von Niklas Luhmann wissen wir: Wenn ein gesellschaftliches System sich für jeden öffnet, wird die Zugehörigkeit wertlos. Das heißt, Neuankömmlinge wissen es nicht zu schätzen, wenn sie ohne jegliche Vorbedingung dazugehören. Gleichzeitig wird aber auch für die Altbürger die Mitgliedschaft entwertet.
Es gibt im Spiegel in dieser Woche durchaus Beiträge, die eine Lektüre lohnen. Etwa die bezaubernde, anrührende und auch wütend machende Geschichte „Elena stirbt nicht“ von Vivian Pasquet über ein Risikobaby mit Doppelbehinderung, das trotz geringer Lebenschancen zur Welt gebracht wird, gegen die Vorstellungskraft und den Willen der Ärzte der Uniklinik Frankfurt überlebt und mit seinem Lächeln seine Eltern beglückt.
Christoph Scheuermann macht in „Nazitante“ mit seiner Besprechung des Buches von Gina Ford über Babyerziehung richtig neugierig.
Holger Stark zeichnet in „Der Weltsozialarbeiter“ ein Portrait von Barack Obama, über den er die These aufstellt, dass der ungeliebte Präsident die USA stärker geprägt habe als alle seine Vorgänger seit Ronald Reagan.
Lehrreich finde ich das Interview „Das Pferd laufen lassen“ von Joachim Kronsbein und Klaus Brinkbäumer mit dem estnischen Dirigenten Andris Nelsons, mit dem sich zumindest für mich als gelegentlichem Opern- und Konzertgänger eine völlig unbekannte Welt öffnete.
Und zum Schluss: Was soll die PR für Mein Kampf?
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