Auf dem Cover wird uns William Shakespeare als Terror-Experte verkauft. Man kann sich so richtig vorstellen, wie Grafik und Coverredaktion mit Autor und Literaturchef Volker Weidermann verhandelt haben – solange, bis das „Weltphantom“ zum Terror-Experten mutierte.
Anders als in früheren Zeiten kann der SPIEGEL sich nicht mehr auf eine hinreichend große Anzahl Stammleser verlassen, die das Magazin Woche für Woche sicher durch die wirtschaftliche Unbill führen. Verstärkten früher die Titel des SPIEGELs das Lebensgefühl und das Gesellschafts- und Politikverständnis der Leser, so hat inzwischen eine Boulevardisierung auf dem Cover um sich gegriffen, die ihre Fänge nach neuen Zielgruppen auswerfen soll.
Die These – nicht durchhaltbar
Im Gegensatz zu den Boulevardmedien kann es sich der SPIEGEL dann allerdings nicht leisten, eine zugespitzte These inhaltlich durchzuhalten. Der Anspruch der Kernleserschaft steht dagegen. Das ist auch in dieser Woche das Dilemma. Auf dem Cover wird uns William Shakespeare als Terror-Experte verkauft. Da sollen die die Käuferlampen anspringen. Man kann sich so richtig vorstellen, wie Grafik und Coverredaktion mit Autor und Literaturchef Volker Weidermann verhandelt haben – solange, bis aus dem „Weltphantom“ (Überschrift der Titelgeschichte „Das Weltphantom“) durch Shakespeares radikale Figuren der Terror-Experte wurde. Der konnte sich mit der Unterzeile anfreunden „Macht, Mord und Moral: Die erstaunliche Welt des William Shakespeare“. Denn das ist es, worum es im Beitrag wirklich geht.
Und es ist durchaus ein Verdienst Weidermanns, dem breiten Publikum die Aktualität des meistverkauften Schriftstellers und meistgespielten Dramatikers der Welt, der vor 400 Jahren starb, jenseits des eigenen Theaterbesuchs zugänglich zu machen. Der Beitrag legt Muster und Charaktere offen, die sich seit dem Mittelalter nicht grundlegend gewandelt haben, zeigt, wie Texte sowohl im Kontext der damaligen als auch der heutigen Zeit aus unterschiedlicher kultureller Sicht gelesen und verstanden werden können. Jedem Stammtisch-Kulturbeflissenen sei die Doppelseite „Shakespeares größte Hits“ ans Herz gelegt. Nutzwertig beschreibt Wolfgang Höbel die wichtigsten Dramen. Hamlet, Romeo und Julia, Richard III., Othello und König Lear werden auf ihre Essenz reduziert erzählt, ergänzt durch Informationen zu den Vorbildern des Stoffes, was den „Ewigkeitswert“ ausmacht und wer die berühmtesten Fans waren.
Aktuelle Enttäuschung
Wer jenseits großer Charakteren und Lebensfragen aus der beginnenden Renaissance den Blick auf die im SPIEGEL behandelten aktuellen Ereignisse richtet, wird diese Ausgabe enttäuscht zur Seite legen. Am interessantesten ist noch die Gesamtschau der Verschiebungen in den Politischen Parteien. Michael Sauga analysiert im Leitartikel die Gefahren der „Kenia-Republik“, wenn die Parteien der Mitte CDU, SPD und Grüne gemeinsam regieren. Professionell und unromantisch agieren inzwischen die Grünen. Das zeigen Jan Friedmann, Annett Meiritz, Ruben Rehage und Britta Stuff in dem Beitrag „Die Firma“. Melanie Amann und Pavel Lokshin schreiben über die Jugend der AfD, die sich gerade mit Putin verbündet hat.
Spannend zu lesen ist die Wissenschaftsgeschichte „Schön verstrahlt“ von Manfred Dworschak über die (Aus-) Wirkungen von Radioaktivität – ein Thema, das die Leser 50 Plus seit der „Naherfahrung“ durch Tschernobyl begleitet hat, jüngeren Lesern weniger zugänglich sein dürfte (Fukushima liegt räumlich zu weit weg). Studien zeigen, dass geringe Dosen möglicherweise sogar Heilungsprozesse in Gang setzen können.
Nils Minkmar arbeitet sich mit seiner Besprechung „Der Ich-Roman“ an Thilo Sarrazins neuem Buch „Wunschdenken“ ab. Der Text selbst ist brillant geschrieben, seziert seidenweich und perfide zugleich die Thesen. Doch wozu? Genau betrachtet ist es eine Nicht-Story. Schließlich ist Sarrazin aus Sicht des Spiegels doch einer, der schon durch ist: Böse nämlich. Das Gegenteil wäre die Nachricht gewesen – Sarrazins Fleißarbeit zu loben, seine nüchternen Thesen, seinen unsentimentalen Blick auf die Politik. Aber böse muss bleiben, was gut nicht sein, das ist die Frage. Nur nicht verstören, nur nicht das eigene Weltbild hinterfragen, in dem Politik immer gut ist.
Der Ich-Spiegel
Ein zweiter Trend, der sich in den letzten Heften beobachten lässt, ist die Einbeziehung der persönlichen Perspektive einzelner Autoren. Lange ist es her, dass Stories des SPIEGEL anonym waren. Die Nennung der Autoren war ein erster Schritt. Immer häufiger verbalisieren Redakteure eigene Erfahrungen, Werte, Sichtweisen. Das macht die Reaktion anfassbar, häufig ist es ein Gewinn, etwa der „Einwurf“ von Stefan Berg darüber, wie privates Umfeld und Medien Helmut Kohl instrumentalisieren. Kein Gewinn ist die Schilderung des Testosteronselbstversuchs von Uwe Buse, geschildert in „Für immer jung“. Spannender fand ich da schon, wie Jochen-Martin Gutsch in „Komm, o Schlaf“ die Leser zum Erwerb von Schlafkompetenz animieren will. Diese radikal subjektive Sichtweise ist eben nicht immer hilfreich, sondern oft genug kleinkariert und albern – die Welt jedenfalls spielt sich jenseits der kleinen SPIEGEL-Ichs ab. Der SPIEGEL verzichtet damit auf Allgemein-Bedeutung und reduziert seine Auflage durch Aufgabe der Relevanz.
Denn auch Chefredakteur Klaus Brinkbäumer hat sich nach Medienberichten für einige Wochen zu einer Denkpause zurückgezogen. Alles dieses erfahren wir und nehmen Anteil. Wußten wir, wann Rudi Augstein Urlaub machte oder auf Entzug war? Man möchte es nicht wissen. Die radikale Ich-isierung durchzieht aller Hierarchien. Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse sprichwörtlich auf dem Tisch. Martin Wolf nutzt die Gelegenheit, um sich anlässlich des Obama-Besuchs unter dem Titel „Unterm Schwanz“ mit einer Nicht-Story über Hannover auszutoben.
Zum Schluss: Shakespeare ist bis heute ein Meister darin, das Publikum zu unterhalten – da kann sich die SPIEGEL-Redaktion einiges abschauen. Jenseits des Dramatikers verpasst man diese Woche nicht viel, wenn man das Heft nicht liest.
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