Der Brexit lässt auch die Magazine Schleudern und Trudeln und erinnert uns einmal mehr: Jede Norm-Abweichung bringt die überregulierten Systeme unserer Zeit aus dem Takt, wie mehr erst echte, selbst verschuldete Großprobleme.
Für Chefredakteure ist es einfach, wenn sie – wie bei FOCUS und SPIEGEL vor eineinhalb Jahren geschehen – beschließen, das Erscheinen des Heftes von Montag auf Samstag vorzuziehen. Allerdings zeigt sich ein ums andere Mal, wie brutal eine Redaktion durch den damit vorgezogenen Redaktionsschluss in die Aktualitätsfalle läuft. Anders als die Sonntagszeitungen, die hier auch besprochen werden und die am Samstag ihre Spalten schließen, gelingt es weder Focus noch Spiegel, den Brexit noch mitzunehmen – Freitag ist ein für sie schon toter Tag.
Alternative Texte
Auf SPIEGEL Online lasen wir gestern, dass die Redaktion drei verschiedene Ausgaben vorbereitet hatte: eine für den Fall des Votums für den Brexit, eine für den Verbleib Großbritanniens in der EU und eine neutrale. Das ist an und für sich schon absurd: Ereignisse kann man nicht vorweg erfinden. Die Abläufe seien verändert worden, eine Teilauflage mit dem neutralen Titel zum Thema „Narzissmus“, etwa für die Leser im Ausland und die Abonnenten, sei vorab gedruckt worden, heißt es in der „Lage am Samstag“ von Susanne Beyer. Auf den Fachdiensten Turi und Horizont las sich das schon am Freitagabend geradezu heroisch: Brinkbäumer habe, nachdem bereits 350.000 Hefte gedruckt gewesen seien, die Druckmaschinen angehalten und mehr als ein Dutzend Seiten samt Titelblatt ausgetauscht. Das Szenario habe man vorher durchgespielt. Die Hauptauflage, 580.000 Hefte für den Einzelverkauf, sei dann mit dem Titel „Europa ist tot. Es lebe Europa?“ in Druck gegangen. Kosten: ein fünfstelliger Betrag. Und was passiert? An der Tankstelle im Rhein-Main-Gebiet, an der meine Frau samstagsmorgens den SPIEGEL kauft, gab es nur die Auslands- beziehungsweise Abo-Ausgabe. Als ich die Brexit-Ausgabe online kaufen wollte, war das neue Cover zwar abgebildet, aber noch der „neutrale“ Titel „Narzissmus“ ausgewiesen. Und eine SPIEGEL-ID mit der ich die Ausgabe nach Hinterlegung der entsprechenden Daten hätte kaufen können, erhielt ich auch nach mehreren Anläufen nicht. Wir mussten also mehrere Verkaufsstellen abklappern, um die aktualisierte Ausgabe zu erhalten. Wieviel Leser sind so heroisch?
Alles hätte so schön sein können: Vor zwei Wochen der zweisprachige Titel, der Appell an die Briten, zu bleiben, und die Sehnsucht, dass es so kommen werde. Und nun das Unvorstellbare. Der Liebesentzug. Drei Sätze aus der Titelgeschichte „Schwarzer Donnerstag“ fassen das Denken der Redaktion zusammen: „Großbritannien geht! Man muss das noch einmal schreiben, um das zu glauben. Der Brexit ist kein Stammtischthema mehr, sondern Realität.“ Hybris oder Blindheit? Insofern wundert nicht, dass Leitartikel „Britisches Exempel“ von Armin Mahler und der Essay „Willige und Fähige“ von Dirk Kurbjuweit deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.
Vor dem Brexit warnen, ist leicht, mit ihm umgehen aber, überfordert Journalisten wie Politiker
Dabei hätte es für die Meinungsartikel Anregung im eigenen Heft gegeben: das grandiose SPIEGEL-Gespräch von Ulrike Knöfel mit Georg Baselitz. Auf die Frage, wovor er Angst habe, antwortet der Künstler: „Ich habe Angst vor der Politik, die mir nicht behagt. Ich habe zwei Gesellschaftsordnungen hinter mir gelassen, den Nationalsozialismus, dann den Sozialismus beziehungsweise Kommunismus. Und die deutsche Neigung, sich einzumischen in das Leben der Menschen, ist im Moment wieder sehr groß – siehe das neue Kulturgutschutzgesetz.“ Das trifft es doch. Die Menschen sind genervt vom ewigen Hineinregieren. Und wenn jetzt Stimmen laut werden, dass man die EU auf die wichtigen Funktionen reduzieren solle, so frage ich mich, wer das umsetzen wird? Die Beamten, die damit ihre eigene Nichtigkeit beschließen? Die wohl kaum. Der EU-Apparat – Beamte und Parlamentarier gleichermaßen – ist darauf angelegt, immer weiter zu wachsen, immer neue Aufgaben an sich zu ziehen, seit 60 Jahren als Parkinsonsche Gesetze beschrieben. Man muss Erfolge in Form neu besetzter Themen vorzeigen, um sich zu legitimieren. Das gesamte System ist genauso ungesund wie die ständigen Wachstumspostulate an den Finanzmärkten.
Gar kein Brexit ist auch keine Lösung: Die aktuelle Ausgabe des FOCUS lässt das Thema links liegen und nervt in dieser Woche mit „Super-Organ Haut“ wieder mit einem Gesundheitstitel, weil die Chefredaktion sich offensichtlich damit überfordert fühlte, aus dem Stand gegen andere Presseorgane anzutreten. Dass der FOCUS eine Nachrichtenpflicht hat und den Lesern Orientierung geben soll, gilt wohl nicht mehr. Mag sein, dass der aktuelle Titel sich besser verkauft, aber ein Stück Reputation ist dahin.
Erstaunlich, dass auch Nachrichtenperlen gänzlich ignoriert werden, wie im Tagebuch die Bemerkung von Herausgeber Helmut Markwort, dass Sigmar Gabriel sich „mit größtmöglicher Diskretion“ mit Oskar Lafontaine getroffen habe.
Mit der Volkserziehung geht’s weiter – ob das gut geht?
Zurück zum SPIEGEL: Die SPD hat endlich ein Thema für ihren Suizid gefunden. Angeblich wollen Sigmar Gabriel und Barbara Hendricks nach einem Wahlsieg zur Klimarettung die Verschwendung von Lebensmitteln eindämmen und peilen eine fleischarme Gesellschaft an. Es ist jetzt schon abzusehen, dass der Klimaplan vor allem drei Komponenten haben wird: die Industrie verspricht Großtaten, die sie später nicht halten kann (siehe VW), die Politik setzt Ziele, die Bevölkerung zahlt die Zeche – und sei es mit dem staatlich verordneten Veggieday und der Lebensmittelpolizei als Müllschnüffler. Also Meine Stimme kriegt ihr nicht! (Zur staatlichen Einmischung siehe oben.)
Falls es in diesen Tagen jemanden interessiert: Der Narzissmus-Artikel enthält wenig Berichtenswertes. Zumindest habe ich es jetzt schwarz auf weiß: Franz Beckenbauer, Josef Ackermann, Sepp Blatter und Thomas Middelhoff sind Narzissten, sagt der SPIEGEL. Und ich auch. Ich habe den Narzissten-Test von Craig Malkin im Heft gemacht. Danach erfreue ich mich eines ganz und gar gesunden Narzissmus. Ach, was bin ich gut gelaunt! (siehe Auswertung zum Test)
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