Die Therapie mit der großen Geldspritze hat in Griechenland versagt. Der Streit über den verschleppten Grexit darf die weit wichtigere Frage nicht verdrängen, wie Griechenland in Zukunft, Grexit hin oder her, geholfen werden kann.
Wenn eine Maßnahme nicht den gewünschten Erfolg zeitigt, ist es üblich, die Maßnahme zu überdenken und sie zu modifizieren oder eine andere Strategie zu überlegen. Wenn etwa ein Arzt einen Grippepatienten, der immer wieder bei ihm vorstellig wird, immer wieder ein Antibiotikum verschreibt, das ohne Wirkung bleibt, dann wird er irgendwann mal hoffentlich skeptisch und testet, ob überhaupt Bakterien im Spiel sind. Eine virale Grippe kann kein Arzt mit Penicillin verjagen.
Die Therapeuten der Euro-Krise, die 2010 am Beispiel des in Zahlungsnöte geratenen Griechenlands sichtbar wurde, die aber viel älter ist und auf einen Konstruktionsfehler bei Gründung der Euro-Union zurück geht, doktern seither mit dem Instrumentarium der großen Geldspritzen herum. Griechenland ist aktuell zum wiederholten Mal das Hauptsorgenkind des Euro-Bundes. Zwischendurch waren auch Italien, Spanien, Portugal und Irland und latent Frankreich dem Gespenst der Überschuldung sehr nahe gekommen.
Die Spaltung Europas
Der Euro-Bund ist gespalten in den wirtschaftlich starken sogenannten Euro-Norden und den schwächelnden Euro-Süden. Diese Tatsache gibt der Bundesrepublik, ob es dem einen oder anderen passt oder missfällt, besonderes Gewicht und verleiht ihr auch eine besondere Verantwortung. Die Regierung Merkel kommt dieser Verantwortung in überaus generöser Weise in der Rolle des primus inter pares nach. Und doch ist es jenseits aller monetären Aspekte politisch ein untragbarer Zustand (der mit fortschreitender Dauer keine Besserung erfährt), wenn in einer Währungsunion, die Teil einer auf Bundesstaatlichkeitswerdung angelegten größeren Staatenunion ist, ökonomische und finanzielle Asymmetrien herrschen und das Geschehen auf längere Sicht bestimmen. Und Griechenlands Krise könnte sich zu einer Staatskrise ausweiten.
Nicht nur in Griechenland. Will sagen: Die Menschen in den Euro-Nehmerländern sind unzufrieden und wollen sich nicht wie Ausgehaltene fühlen (müssen). Während umgekehrt die Menschen in den Euro-Geberländern nicht akzeptieren wollen, dass sie auf Dauer die Mängel fehlender Weltmarkttauglichkeit der griechischen Volkswirtschaft oder anderer Volkswirtschaften im schwächeren Euro-Süden mit ihren Steuergeldern ausgleichen müssen. Überdies führt die Praxis der Transferunion zu einer auf beiden Seiten zu beobachtende Benachteiligung der sozial schwächeren Schichten und sorgt damit für ein weit verbreitetes Ungerechtigkeitsgefühl.
Zu billiges Geld zeitigt Verwerfungen
Die Niedrigzinspolitik der EZB, essentieller Bestandteil der geldpolitischen Fördermaßnahmen des Euro-Südens, entwertet das Sparkonto des kleinen Mannes in der Bundesrepublik. Gleichzeitig, um nur eine andere der Negativwirkungen der Niedrigzinspolitik herauszugreifen, beschleunigt das billige Geld die Immobiliennachfrage so aus dem Rahmen herausfallend, dass es in diesem Bereich eine eklatante, gefährliche Inflation gibt, denn um nichts anderes handelt es sich bei dem derzeitigen Preisanstieg der Immobilien. In Folge des Preisanstieges der Immobilien und des billigen Geldes steigen die Mieten des kleinen Mannes und dies trotz der ebenfalls stimulierten Bautätigkeit.
Zu billiges Geld zeitigt Verwerfungen und zu allem Überfluss ist die Crashgefahr auf dem Immobilienmarkt keineswegs irreal: nicht heute und nicht morgen, aber womöglich in absehbarer Zeit. Diese Gefahr einer Immobilienblase, die im Angesicht der entgrenzten Vermehrung des Geldes durch die EZB zu einer gesamtwirtschaftlichen Größe geworden ist, schwebt als Damoklesschwert über der Eurozone und darüber hinaus.
Billigzinsen entwerten jedoch nicht nur die Sparguthaben des kleinen Mannes, sondern auch die Lebensversicherungen des nicht ganz so kleinen Mannes. Sie beeinträchtigen Stiftungen, weil das einmal gestifteten Kapital die Renditen nicht mehr abwirft, mit dem der meist ad Infinitum angelegte Stiftungszweck verfolgt werden soll. Und in den Nehmerländern der Euroförderung wie Griechenland, kommen die Fördermaßnahmen, die den Staat finanziell am Laufen halten sollen und die gleichzeitig die Wirtschaft runderneuern und ankurbeln sollen, in viel zu geringem Maße unten bei den Menschen an.
Viel zu große Teile der Griechenlandförderung bleiben in Griechenland oben, also im Apparat eines ineffizienten Systems hängen.
Die Schulden der, im Weltmaßstab gesehen unbedeutenden, griechischen Volkswirtschaft, die auch in Europa und im Euroraum eine ganz untergeordnete Rolle spielt, belaufen sich auf 320 Milliarden Euro. Dunkelziffer unbekannt. Das ist für ein Land mit gut 10, 5 Millionen Einwohnern, von denen die Jüngeren und die am besten ausgebildeten Menschen das Land in Scharen verlassen und dessen Volkswirtschaft Verlust produziert und weiteren Geldnachschub dringend benötigt, ein ungesund hoher Betrag. Der Schuldenstand Griechenlands hat sich trotz eines subventionierten Niedrigzinses, trotz erheblicher Schuldenerlasse und Schuldenerleichterungen, (siehe Schuldenschnitt 2012) per Saldo nicht verbessert.
Und: der Schuldenstand von 320 Milliarden Euro ist geschönt. Wären Griechenland nicht im Verlauf der letzten fünf Jahre Schulden in vielfältiger Form erlassen worden, alles unter dem Dach der Nothilfe der Rettung des Euro und der Aufrechterhaltung der Ewigkeit des Euro-Bundes, wären Griechenlands Schulden noch erheblich höher. Auf den Weltfinanzmärkten ist jeder Tag und erst recht jede Woche oder jeder Monat eine Ewigkeit. In diesem Sinne ist die Zahl von 320 Milliarden Euro, die seit Monaten als Konstante im öffentlichen Diskurs gehandelt wird, ganz unrealistisch, weil die griechische Volkswirtschaft jeden Tag neue Verluste anhäuft. Im Übrigen stellt sich die Frage, in welchem Umfang Griechenland eigentlich von Mario Draghis billionenschweren Aufkauf von Schrottanleihen, der seit Anfang März des Jahres läuft und schließlich extra für Länder wie Griechenland erfunden wurde, bisher profitiert hat.
Verwirrung im großen Rettungskonzert
Der Einfallsreichtum der Regierungen der Euroländer, der EZB und des IWF immer mehr Verwirrung in das große Rettungskonzert zu bringen, ist grenzenlos und es gibt nur noch einige Expertenteams, die überhaupt durchblicken, wenn sie offenbar auch zu unterschiedlichen oder sehr weichen, kaum belastbaren Ergebnissen kommen. So ist der Unterschied zwischen einer Schenkung und einem Kredit in Sachen Griechenlandhilfe zu einer Frage der Tageslaune und des zufälligen Gustos geworden. Aber es gilt nun Mal: Ein Kredit, der zins- und tilgungsfrei gestellt und dessen Fälligkeit auf den St. Nimmerleinstag verschoben ist, ist kein Kredit mehr, sondern eine Schenkung, die ein durchschnittliches Finanzamt bei Privatpersonen wohl kaum schenkungssteuerfrei durchgehen lassen würde. Zu Recht, denn das wirtschaftlich gewollte Ergebnis eines Kredits ohne Zins, ohne Tilgung und ohne ernsthaften Rückzahlungswillen ist eine Schenkung.
Ähnlich verhält es sich auch, wenn die Fälligkeit um Jahrzehnte nach vorne verschoben wird in der Gewissheit, dass der Substanzwert des Kredits am Fälligkeitstag durch Inflation zum weit überwiegenden Teil verbraucht ist. So verhält es sich bei den beiden großen sogenannten Hilfspaketen für Griechenland im Jahr 2010 und 2012, wo Griechenland in Summe knapp 220 Milliarden Euro kreditiert und zusätzlich Schulden erlassen wurden.
So wurden 2012 die privaten Gläubiger Griechenlands, überwiegend also die großen Bankhäuser, die sich an der Staatenfinanzierung beteiligt hatten, zu einem Teilerlass ihrer Forderung gegen Griechenland genötigt, also zu einemSchuldenschnitt zu Gunsten Griechenlands, bei dem es um etwa 37 Milliarden Euro ging. Wenn man aber nun nicht genau weiß, wie die Banken ihrerseits im Zuge der Euro-Krise mit unverdienter Liquidität gedüngt wurden, dann kennt man womöglich nur die halbe Geschichte des großen Bankenverzichts, was automatisch bedeutet, dass das wahre Ausmaß der Griechenlandhilfe für den Bürger und den Steuerzahler nicht verifizierbar ist.
Weiß zum Beispiel im deutschen Finanzministerium auch nur irgendwer halbwegs solide, wie es um den Schuldner Griechenland tatsächlich steht? Nein, das weiß offensichtlich niemand. Ebenso offensichtlich ist, dass die griechische Regierung über die eigenen Verhältnisse ebenfalls nur sehr ungenügend im Bilde ist. Man hat den Eindruck, dass in Griechenland gemauschelt wird. Aber es wird wohl weniger gemauschelt als noch viel mehr geschlampt.
Die griechische Krise ist hausgemacht und hat System
Eines steht nach fünfjähriger Rettungserfahrung fest: Das Zuschütten Griechenlands mit Geld, teils aus den Staatskassen der Eurogeberländer, teils durch Verbürgung der Eurogeberländer gegenüber den Investoren des Weltfinanzmarktes für griechische Neukredite, hat die Griechenlandkrise nicht zu lindern vermocht. Die griechische Wirtschaft liegt darnieder, die griechische Finanzverwaltung kommt nicht in die Gänge, die überbordende Bürokratie Griechenlands ist nicht gebändigt, die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, die Korruption ist nicht besiegt, das Kapital flüchtet, Auslandsinvestitionen sind rar, die jungen Qualifizierten wandern, wie schon dargelegt, aus. Und: Eine sehr wohlhabende Geldelite sahnt ohne Gegenleistung Geld aus dem notorischen Chaos ab.
Die griechische Gesellschaft ist erregt und bis zum Zerreißen angespannt und permanent werden die falschen Schuldigen gesucht: Die Schuld hätte Berlin, Brüssel oder die jeweilige Vorgängerregierung in Athen.
Die Tatsache, dass die griechische Krise hausgemacht ist und seit Jahrzehnten System hat, wird verdrängt. Griechenland steht heute um Einiges schlechter da als zu Beginn der Krise. Prima facie hat die Therapie mit der großen Geldspritze versagt. Und immer besseres Geld immer schlechterem hinterher zu werfen, ist den Steuerzahlern der Geberländer nicht zuzumuten und ihnen ist auch nicht zuzumuten, sich jahrein jahraus immer dieselben Beschwichtigungen anhören zu müssen, wie zum Beispiel das Mantra, dass der Rettungsaufwand garantiert demnächst oder irgendwann Früchte zeitigte, weil schließlich sicher gestellt wäre, dass in Griechenland und anderen schwachen Euro-Ländern die ausbedungenen Reformen, Reformen, Reformen verlässlich und überprüfbar durchgeführt würden.
„Ich scheiß Dich zu mit Geld“
Jean-Claude Juncker stellte kürzlich sein 300 Milliardenschweres Konjunktur-Ankurbelungspaket für Europa vor. Und Mario Draghi schier unendliches Billionenprogramm läuft, auch wenn es kaum noch jemand zur Kenntnis nimmt. Die EZB wird auf gut deutsch bis 2016 für insgesamt 1,14 Billionen Euro marode Staatsanleihen aufkaufen, um so klamme Staaten mit Geld und Geldnachschub zu versorgen.
Draghis Billionenkonzept, womöglich als Placebo-Effekt konzipiert, mag dem EZB-Chef in den Sinn gekommen sein, nachdem er sich zur Entspannung den deutschen Kultfilm „Kir Royal“ von Helmut Dietl mit Franz-Xaver Kroetz als Klatschreporter „Baby Schimmerlos“ angeschaut hat.
Da sagt der schwerreiche Klebolinhersteller (Mario Adorf) aus Düsseldorf zu dem Journalisten, den er korrumpieren will, siegessicher: „Ich scheiß dich zu mit meinem Geld.“ Und zwar mit immer mehr Geld. Und irgendwann – nimmst du es.
Und in der Tat handelt es sich um eine Art „Zuscheißen mit Geld“, was die EZB im Konzert der Retterei zur höchsten Finanzkunst erklärt hat. Aber lässt sich die Wirtschaft, lassen sich die Finanzmärkte damit korrumpieren? Die EZB akkumuliert Haftung für Staaten wie Griechenland, von denen nichts oder nur eingeschränkt etwas zu holen ist. Durch ihre Garantie macht sie fiktiv aus Schuldnerstaaten wie Griechenland, die sich überhaupt kein Geld mehr leihen können oder nur noch gegen horrenden Risikoaufschlag, quasi Triple-A-Länder, die für einen nahe Null Zins das Geld in vollen Zügen auf den Weltfinanzmärkten aufnehmen können. Die EZB vermehrt die Geldmenge fiktiv, so könnte man es ausdrücken, die dann als quasi reales Geld in den schwachen Euro-Ländern auftaucht. Das Risiko von Draghis Gelddruckerei, wie dieser Vorgang etwas verfälschend genannt wird, liegt von vorne herein darin, dass die fiktiven Geldmengen durch keine Realwirtschaft, insbesondere nicht durch die Realwirtschaften Griechenlands und der anderen geförderten Länder gedeckt sind.
Der strapazierte Vergleich mit dem Placebo-Effekt in der Medizin, den das Billionenkonstrukt auslösen soll, ist vollkommen unsinnig. Der medizinische Placebo basiert auf einem Irrtum des Patienten. Der glaubt nämlich, dass er ein wirksames medizinisches Medikament einnähme, obwohl ihm nur ein als Tablette kaschiertes Zückerli gegeben wird. So können Selbstheilungskräfte begünstigt werden. Bei Draghis Billionending verhält es sich jedoch diametral anders. Da wissen die Euro-Schwächlinge, dass ihnen milliardenschwere Geldspritzen verabreicht werden, mit denen diese Länder ihre Malaise in Erwartung immer neuer Spritzen ungestört fortführen können. Das „Zuscheißen“ der Pleitestaaten mit Geld bekämpft nicht die Ursache der Pleite, sondern es perpetuiert und vergrößert das Missmanagement, die Korruption, die Erbhöfe, den systematischen Betrug und die Wettbewerbsverzerrungen, die für die unbestrittenen Krisen der betroffenen Volkswirtschaften verantwortlich sind. Alle Programme, die seit 2010 zur Griechenlandrettung aufgelegt wurden, haben eines gemein: Sie regnen, wie Draghis Billionen, aus einem fiktiven Himmel Geld über Griechenland ab.
Bleibt nur der Grexit
Und damit kommt man zum Grexit, der von vielen, so auch von der Autorin, seit Jahren mit Engelszungen empfohlen wurde, vor allem im Interesse der Mehrheit der Menschen in Griechenland, aber auch im Interesse der Eurostaaten und der EU. Der von der Politik seit Jahren leichtfertig verschleppte Grexit muss ein wohl vorbereiteter Coup über Nacht mit möglichst großem Überraschungseffekt zu dem konkreten Zeitpunkt sein und über Nacht funktionieren, wie die Autorin es schon vor drei Jahren vorgeschlagen hat.
Oder wie es Hans-Werner Sinn jetzt ausdrückte, der Grexit muss an einem Wochenende erledigt sein. An allen möglichen berufenen und nicht berufenen Orten wird über die Stunde Null einer neuen griechischen Währung und über die Szenarien der dann einsetzenden Fördermaßnahmen diskutiert. Die neue Währung sollte vielleicht nicht wieder Drachme heißen, sondern um sich abzusetzen, aber auch Stärke zu zeigen, vielleicht „Zeus“ heißen. Das würde griechischen Stolz aktivieren und könnte eine psychodynamische Wertschöpfung eigener Art sein.
Wenn die griechische Wirtschaft wieder, befreit von der Starkwährung namens Euro, mit einer eigenen Währung loslegen kann, sind die Wettbewerbschancen der Hellenen über Nacht qualitativ andere und bessere, als sie es im Euroverbund je waren oder im Euroverbund auf absehbare Zeit sein können. Ein moderiertes Lohnniveau, einen gewissen Verzicht auf importierten Luxus wird es geben, aber Zuversicht, die auf einer funktionierenden Volkswirtschaft basiert, wird auch entstehen. Wer die Psychologie in der Wirtschaft ernst nimmt oder für das Entscheidende hält, muss den Grexit mit anschließenden zeitlich limitierten Transferleistungen bevorzugen. Allerdings dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht fortgesetzt werden. Unkontrollierte Geldströme nach Griechenland, für die es nicht einmal den geringsten Dank von griechischer Seite gibt, darf es ab sofort nicht mehr geben. Ein Methodenwechsel in der Griechenlandförderung muss so oder so bis zum Grexit und danach ersonnen werden.
Wie dieser Methodenwechsel konkret aussehen könnte, lesen Sie morgen in Teil 2 Griechenland: „Graswurzelgeld statt Helikoptergeld“