Erdoganopel: Knickt Europa vor Erdogan ein?

Die Erdogansche Politik steht in krassem Widerspruch zur Forderungen der Türkei, EU-Mitglied zu werden. Jetzt löschte die EU auf ihrer Website die Ankündigung eines von ihr subventionierten Sinfonieorchesters, das den Völkermord an den Armeniern zum Thema macht. Erdogan hatte interveniert: Es gibt den türkischen Völkermord nicht, die Vokabel „Genozid“ sei eine Beleidigung.

Die westliche Welt mit ihrer Führungsmacht Amerika an der Spitze hat alle global ökonomischen Machtmittel in der Hand. Sie hat alle geostrategischen Werkzeuge in ihrem Besitz. Sie ist mit den Großmächten China und dem im Westen notorisch im Vergleich zu China unterschätzten Indien bestens vernetzt und auch der Konflikt des Westens mit dem russischen Präsidenten Putin ist eine höchst peinliche und artifizielle Extravaganz, die sich einige westliche Führer gern leisten, die sie aber jederzeit aufzugeben in der Lage wären.

Der Westen kommt ohne die Türkei zurecht

Wer ist dagegen Erdogan? Was ist dagegen die Türkei? Ist die Türkei, wenn Erdogan es denn gern so hätte, wirtschaftlich und militärisch für den Westen problemlos verzichtbar? Sie ist verzichtbar. Alles Gerede von der geostrategischen Lage und von der Brückenfunktion zwischen Okzident und Orient ist abgestandene lauwarme Luft aus vergangenen Zeiten. Erdogan nicht verärgern, weil man seine Türkei, die ja nun wirklich nicht gleichzusetzen ist mit Erdogan, die Erdogan aber derzeit auch mit Hilfe des kuschenden Westens eisern im Griff hat, bräuchte, für die Lage vor Ort und überhaupt für fast alles auf dieser Welt, ist nur mit einer schief gelaufenen Gruppendynamik in den westlichen Führungsetagen zu erklären, wo sich die Regierungen viel zu häufig auf irgendwelchen Supermeetings treffen, statt an den heimischen Präsidenten- und Kanzlerschreibtischen zu arbeiten und sich um ihre Bürger zu kümmern.

Mal eine Videokonferenz einlegen und zeigen, dass man die viel beschworenen neuen Kommunikationstechniken zu nutzen weiß, nicht soviel an Erdogan denken, schön fleißig sein und schwups verschwinden die falschen Gedanken bei den Merkels und Co., wenn sie die Erdogan-Türkei in ihren Blick nehmen.

Gerade verlangt Erdogan von der Schweiz, dass sie ein harmloses kritisches Bild aus einer Ausstellung in Genf entfernt. Haben die wackeren Eidgenossen sofort den türkischen Botschafter einbestellt und ihm sehr laut und öffentlich mitgeteilt, dass sie sich Erdogans Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten und in das Grundrecht der Pressefreiheit verbitten? Nein. Gerade sind ein deutscher, ein amerikanischer, eine niederländische Journalistin an der türkischen Grenze festgehalten oder abgewiesen worden, ohne stichhaltige Begründung.

Haben die amerikanische oder die niederländische oder die deutsche Regierung Erdogan dafür gehörig abgemahnt? Nein, natürlich nicht. Am Tag vor dem Böhmermanngedicht zur Person Erdogan hatten Erdogans Bodyguards, die in dieser Hinsicht häufiger auffallen, gezielt US-amerikanische Journalisten und Kurden, die von ihrem Demonstrationsrecht in Amerika Gebrauch machten, be- und abgedrängt – dies mit physischer Gewalt, während ihr Chef Erdogan gleichzeitig in Washington von seinem freien Rederecht Gebrauch machte. Gab es offenen diplomatischen Druck aus dem Westen? Nein.

Ja, wer die Zeit rückwärts verfolgt, hat seine wahre Freude an den Erdoganschen Aktivitäten gegen die Pressefreiheit in der Türkei und außerhalb der Türkei. Aber wir brauchen die Türkei nicht für die Zuwanderer, für die alle Deutschen sich einzusetzen hätten, sondern gegen die Einwanderer, deren Zuzug jetzt auch Merkel auf den Geist geht. Wir brauchen die Türkei gegen Russland, gegen den islamistischen Terror und gegen und gegen. Und für und für. Und wir brauchen die Erdogantürkei und deswegen machen wir uns auch klein mit Hut und gehorchen Erdogan, wenn er befiehlt, besagten türkischen Völkermord gegen die christlichen Armenier zu beschweigen. In der Türkei selber gibt’s eins hinter die Löffel für jeden, der den türkischen Völkermord thematisiert.

Wer Völkermord in Wahrheit gerade nicht ernst nimmt, verletzt posthum die Interessen auch derer, die durch Völkermord starben und routinemäßig mit vielen schönen Wörtern in den Sonntagsreden bedacht werden. Was Erdogan persönlich gefällt, ist kein Gebot im Westen, und was ihm persönlich missfällt, ist kein Verbot im Westen. Beides ist für den Westen völlig irrelevant. Der Westen predigt Demokratie, tut aber faktisch alles zu deren Unterdrückung in der Türkei.

Erdogan holt aus dem Westen raus, was rauszuholen ist

Beispiel Merkel: Sie stachelt in ihrer schief liegenden und journalistisch noch nicht vollständig analysierten Ermächtigung der Mainzer Staatsanwaltschaft zur Aufnahme des Ermittlungsverfahrens gemäß § 103 StGB gegen den Satiriker Jan Böhmermann die türkischstämmigen Deutschen an, sich mit Erdogan zu solidarisieren und Böhmermanns Gedicht, das Erdogan als Angriff auf alle Türken und Muslime ansieht, als Angriff auf sich selber auch tatsächlich wahrzunehmen und sich so ebenfalls gegen die deutsche Pressefreiheit zu engagieren.

Türkischstämmige Deutsche sind in allen Zusammenhängen Deutsche zu nennen. Nur wenn es für die Türkei und gegen Deutschland geht, werden sie von Merkel und Co. nicht routinemäßig weiterhin als Deutsche gesehen, sondern als Deutsche mit türkischen Sonderinteressen, auf die im Kontext besondere Rücksicht zu nehmen wäre. Zugleich fördert Merkel Integrationsprobleme, indem sie türkischstämmige Deutsche in eine Identifikation mit der Türkei und eine Entidentifizierung mit Deutschland treibt, in die sich manche türkischstämmige Deutsche allerdings auch treiben lassen. Und das liegt wiederum daran, dass Erdogan schon seit Jahren routiniert nach Deutschland hineinregiert und ein rechts spezielles Verhältnis zu den Deutschen mit türkischen Wurzeln unterhält und auch zu den muslimischen Institutionen.

Der Druck der westlichen Nomenklatura, Erdogan wohlwollend unangetastet zu lassen, ist immens und auch der Druck der westlichen Medien. Bei aller punktueller Erdogankritik ist die Erdogan-Beschönerei derart überwiegend, dass die Realität der Erdoganschen Grundwerteprobleme völlig aus dem öffentlichen Blick verschwunden ist.

Der Vorsitzende der Grünen Cem Özdemir hat seinen Durchblick in der Türkeipolitik behalten und positioniert sich und damit die grüne Partei erfreulich unaufgeregt kritisch gegenüber der Türkei, wo Kritik geboten ist. Özdemir weist klar und unmissverständlich auf den türkischen Völkermord gegen die Armenier hin und will diesen auch der türkischen Bevölkerung ins Gedächtnis bringen.

Übrigens: Merkel sprach in ihrer Begründung zu der oben erwähnten Ermächtigung von der Allianz mit der Türkei innerhalb der Nato. Hat die Türkei mit (türkischen) Nato-Waffen einen russischen Kampfjet vom Himmel geholt? Verwendet die Türkei (türkische) Nato-Waffen in ihrem Bürgerkrieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung? Welche höchst eigenen Interessen verfolgt die Erdogan-Türkei in Syrien und im Konflikt der Region?

Um auf den Anfang zurück zu kommen: Erdogan holt aus dem Westen raus, was rauszuholen ist. Das muss er zwar nicht tun, aber es ist ihm am wenigsten anzulasten, angesichts der Tatsache, dass der Westen seine höfischen Diener und seinen höfischen Knicks höchst freiwillig und höchst ehrerbietig apportiert.

Obama hat unlängst, offenbar aus gegebenem Anlass, die Pressefreiheit in der Türkei abgemahnt und sich prompt einen Rüffel von Erdogan eingefangen. Wer ist denn nun der mächtigste Mann der Welt?

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