Der große Frust der Freien Liebe

 

Freie Liebe ist ein tückischer Begriff. Einerseits wird vorgegaukelt, man könne Sex und Liebe vollkommen trennen, andererseits wird vorgegaukelt, als erreichte man auf der höchsten Glücksebene die Vereinigung von Sex und Liebe. Im realen Leben wird es in der Regel allerdings so sein, dass eine exzessiv gelebte freie Liebe eine Liebe im Haifischbecken ist, in dem es am Ende nur Jäger und Gejagte, Leidende, Herrschende, Triumphierende, regelrecht Auffressende und Gefressene gibt. Das jedenfalls ist die zu beobachtende Phänomenologie der Freie-Liebe-Sekten, die es in den letzten Jahrzehnten gab, in kleinen Kommune-Zirkeln der 68er-Bewegung, in vielen WGs, in der Otto-Mühl-Kommune, an der 15000 Menschen als Gast oder fester Bewohner teilnahmen oder auch, muss man heute wohl sagen, in Institutionen wie der Odenwaldschule, wo die „freie Liebe“ zwanghaft wurde, zum System wurde. Auch hier war das Diktat der Freien Liebe, der wortlose Druck, dass jeder, der nicht mitmacht, ein freudloser Spielverderber sei, mit dem irgendetwas nicht stimmte, also die Ideologie der Grund, weshalb es für die Opfer so schwer war und anhaltend ist sich zu wehren und in der Öffentlichkeit überhaupt auf Sympathie zu stoßen.

Und da der Begriff der freien Liebe auch suggeriert, dass es keinerlei Tabus in Sachen Liebespraktiken gibt, dass erlaubt ist, was gefällt, ohne die Antwort darauf zu geben, wem denn nun was gefällt, werden die Gewinnertypen, die Liebesgurus, die Möchtegern-Sexprotze nach mehr greifen, als ihnen zusteht. Und sie werden ihre Opfer womöglich mitreißen, wenn die sich selber unter das Diktat der freien Liebe stellen. Freie Liebe kippt schnell in das diametrale Gegenteil. Von Sex, Peace and Love war der Schritt in der jüngeren Geschichte regelmäßig nicht weit zu Drogen, Missbrauch, sexuellem Missbrauch an Kindern, Mord, zur Versektung und zu Sklaverei. Hört sich dramatisch an, ist aber in der noch jungen Geschichte der Freie Liebe keine seltene Entwicklung. Auch frustrierte, gebrochene, vereinzelte Menschen, die ein paar Exzesse freier Liebe mit ihrem Lebensglück bezahlten, waren und sind keine Seltenheit in dieser Gesellschaft. Menschen, die im Intimbereich, körperlich, aber auch ganz unblutig seelisch traumatisiert wurden, haben allzu oft Verletzungen, die sie nicht auf die Freie Liebe zurück führen, weil sie sich immer noch dem Diktat beugen nicht der Spießer, nicht der Spielverderber gewesen zu sein. Das wäre der unsichtbare große Frust der Freien Liebe, der große Frust, den die Freie Liebe in viel zu viele Gesichter geschrieben hat. Die freie Liebe ist einerseits ein Gebot manch einer Sekte gewesen und andererseits ist die freie Liebe auch in der Empfindungslage des Mainstream mitten in der Gesellschaft angekommen. Und das hat auch einen Grund: Menschen sind, wie gesagt, an kaum einer anderen Valenz so leicht und so intensiv berührbar, anfixbar und verletzbar wie an ihrer sexuellen Valenz. Dort sind sie anschaltbar und abschaltbar. Und dort sind sie manipulierbar.

Liebe zieht nicht mehr. Sexualität verbindet nicht mehr

Die nachfolgenden Generationen, altersmäßig herunter bis zu den heute Zwanzigjährigen haben sich in der durchversingelten Welt eingerichtet und leben in der Überzeugung den Spieß umgedreht zu haben. Für sie, besonders auch für die jüngeren Frauen, ist das höchste Glück eine geradezu verabsolutierte Form von Autonomie, in der sie die Glückseligkeit zu finden glauben. Autonomie vom Partner und selbst Autonomie, von den noch nicht einmal gezeugten potenziell eigenen Kindern, von den eigenen Eltern sowieso, und Autonomie vom anderen Elternteil des eigenen Kindes ohnehin und ein, auch wirtschaftlich gesehen, individuell verantwortlich geführtes Leben. Das sind die ideologischen Fallen der Zeit. Eine Gesellschaft, die die individuelle, die familiäre Bindung unter Generalverdacht stellt, eine Gesellschaft, die sich in Wahrheit entsexualisiert, eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen mit immer mehr Menschen sexuelle Kontakte haben, in der aber gleichzeitig die Sexfrequenz zurück geht, verliert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das ist ganz aktuell von entscheidender Bedeutung.

Die Freie Liebe hat die Menschen stumpf gemacht. In der wunderschönen bunten Welt ist Beliebigkeit eingekehrt. Die Liebe zieht nicht mehr. Sexualität verbindet nicht mehr. Eine absolute Coolnis ist angesagt, aber sie ist als Schutz auch nötig. Niemand traut sich Wünsche oder gar Forderungen zu erheben. Und offenbar ist Niemandem bewusst, dass dies immer noch ein Diktat der freien Liebe ist, ein Diktat der Ideologie, die die Gesellschaft in den sechziger Jahren eroberte. Es wird geredet und geredet und geredet, und die Menschen steigern sich gleichzeitig in das Gefühl hinein, dass sie sich perfekt in ihrem auf Nichts-und Niemanden-Angewiesensein eingerichtet hätten. Die große Traumprinz/Traumprinzessin-Sucherei ist zu einem nervösen Volkssport geworden, der in grauenvollsten TV-Shows zelebriert wird, und der die Konten der Datingagenturen füllt. Allerdings steht von vorne herein fest, dass auf dem Parkett der Freien Liebe kein Date eine realistische Chance hat. Jeder Datingpartner erscheint mit seiner Datingfassade zum Treffen 1, während er weiß, dass er noch zwanzig weitere Dates abzuarbeiten hat. Jeder Dater wartet auf den großen Knall, den er selber verunmöglicht und den er auch selber nicht mehr hören könnte. Diese innere Auflösung der Gesellschaft macht sie unfähig sich mit den Herausforderungen von außen auseinander zu setzen.

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