Angela Merkel 4.0, eine Kanzlerin der Werte?

Merkel kann von der Kanzlerei nicht lassen. Das war vorhersehbar und das ist nicht gut für das Land und noch weniger gut für die Demokratie. Eine Bestandsaufnahme.

© Carsten Koall/Getty Images

Geltungssucht, Machtgier und schlicht und ergreifend eine große Abneigung gegen die Vorstellung, nach 12 Jahren im Kanzleramt in irgendeine private Öde zu fallen, müssen keinen Wähler auf dieser Welt veranlassen, einen ewigen Amtsinhaber wieder zu wählen. Insofern ist es abwegig, Merkel für ihren Egomanentrip 2017 erneut als Kanzlerin antreten zu wollen, zu schelten.

Wählerschelte ist angebracht, denn es drängt sich der Eindruck auf, dass womöglich eine Mehrheit der Wahlberechtigten nur Gewohnheit „wählt“, also in Wahrheit nicht wählt und nur für `“bloß keine Veränderung“, „bloß nicht nachdenken wollen“, „bloß nicht mitdenken“ votiert. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Bundesrepublik Deutschland – anders als andere westliche Demokratien – immer wieder ewige Regierungsherrschaften produziert.

Die vierte Reproduktion Merkels, wahrscheinlich wieder mit Ko-Kanzler Gabriel in einer Neuauflage der GroKo mit ein paar ausgetauschten Gesichtern, ist nach derzeitigem Stand die Aussicht für die kommende Legislaturperiode 2017/2021.

Merkel verkauft sich seit einiger Zeit als eine Kanzlerin der Werte. Mit gesprochenen Werteblasen, wie Merkel sie formelhaft absondert, wird man naturgemäß nicht zu einer Wertekanzlerin.

Wer bis eben, womöglich mit guten Gründen, für eine technisch hochwertig abgesicherte Atomenergie eintritt und sie dann opportunistisch knickt, um populistisch auf alternative Energie zu machen, wie Merkel es seit 2011 öffentlich vorgeführt hat. Wer sich gegen Multikulti und Einwanderung positioniert und dann populistisch auf Flüchtlingshelfer macht, wie Merkel es in den letzten Jahren zelebriert hat. Wer sich auch sonst, von gelegentlichen Worthülsen abgesehen, mit keiner konsistenten politischen Haltung und Vision und klaren Linien hervorgetan hat, sondern lediglich höchst opportunistisch und gerade völlig frei von Überzeugungen ganz hemmungslos auf die Politik des geringsten Widerstandes fixiert hat, kann auch dann nicht zu einer Wertekanzlerin werden, wenn die New York Times, die ihr eigenes mediales Versagen im Zusammenhang mit der Wahl des neuen US-Präsidenten Donald Trump nicht überwinden kann, etwas arg artifiziell von Merkel als letzter Hüterin der Weltwerte fabuliert.

Für ihre vierte, hoffentlich nicht stattfindende Kanzlerschaft, bietet Merkel wenig innovativ, wenig originell die hohle Vokabel „Digitalisierung 4.0“ als Aufhänger. Diese Vokabel bläht Merkel inhaltsleer auf. Jeder weiß, dass der technische Fortschritt passiert und zwar egal ob du Kommunist, Islamist, Isolationist, Feminist oder Kapitalist oder sonst was bist.

Wer von einer neuen, wie Merkel sagt, disruptiven Entwicklung der Digitalisierung spricht und damit Menschen anzockt und verängstigt, für die sich einzusetzen sie vorgibt, hat nicht einmal den status quo der Digitalisierung verstanden. Theoretisch wird das Internet demnächst vierzig Jahre alt, praktisch ist das World Wide Web vielleicht 20 Jahre alt, allerdings mit steinzeitlichen Anlaufjahren. Würde das Netz heute abgeschaltet, versänke die Menschheit in Chaos.

Die Entwicklung der Digitalisierung erfolgt einerseits kontinuierlich und andererseits in Schüben, in Qualitätssprüngen. Die Menschheit wächst rapide. Die Zahl unqualifizierte Arbeit Suchender wächst rapide. Das sind die Menschheitsprobleme, die sich um Klein-Merkels gerade proklamierte Schritt-für-Schritt-Politik, die sich als ziemlich teutonische Inselpolitik darstellt, nicht kümmern. Merkel gibt zwar vor, dass sie sich für eine deutsche Politik der Weltoffenheit, der Weltrettung, der Weltfürsorge einsetzte, nun muss man aber nicht über jedes hingehaltene, doch nur verbale Merkel-Stöckchen springen.

Die Momentanaufnahme des Weltfinanzgeschehens könnte man so beschreiben:

Merkel macht die Politik des Laufenlassens und des die Dinge sich selbst Überlassens. Sie hat es wahrscheinlich selber nicht einmal verstanden und glaubt womöglich auf ihre emotionslose Art an ihre eigenen Wunderkräfte. Tatsächlich aber lässt sie sich ihre Politik und damit auch ihre Wiederwahl von der Nullzinspolitik der wichtigsten Notenbanken der Welt finanzieren, in deren Folge die Kapitalmärkte billigstes Geld zur Verfügung stellen und eine aufgeblähte Nachfrage erzeugen.

Die Momentanaufnahme des Weltfinanzgeschehens könnte man auch so beschreiben: Die Weltmärkte haben die Schulden abgeschafft und zwar nicht nur die Zinsen, sondern auch die Tilgung. Es sei das Allheilmittel der Inflation, das sich um die Schulden kümmerte. Viele Länder, in die die deutsche Wirtschaft exportiert, leben in diesem Geldfieber und das ist vorübergehend für die deutsche Wirtschaft sehr nützlich. Will sagen, wenn die Finanzmärkte ihren nächsten zyklischen Abschwung erleben, könnte der ziemlich viel unangenehmer ausfallen, als es den Akteuren lieb ist. Jedenfalls ist Merkel die Profiteurin einer wirtschaftlichen Prosperität, für die sie weder etwas kann, noch dafür verantwortlich ist.

Der verbreitete Wählerirrtum, dass Merkels Politik des Nichtstuns der Grund für die eigene ökonomische und sonstige Zufriedenheit wäre, lässt Merkel 4.0, wie gesagt, nach dem aktuellen Stand der Dinge wahrscheinlich erscheinen. Allerdings: Merkels Politik des Wegduckens und des Unterlaufens löst kein einziges Problem. Im Gegenteil. Ihre Scheinlösungen sind lächerlich, aber man muss ihr zu Gute halten, dass sie diese, auf der von ihr angeblich nicht befahrenen Frauenschiene, gut verkauft.

Ein Beispiel: Die Türkei war, ist und wird auf lange Zeit nicht europatauglich sein. Statt sich in der hysterischen Türkeipolitik der Befürworter und der Gegner des EU-Beitritts der Türkei zu verlieren, flötete Merkel ihre Wabbel-oder Schwabbelnummer von der privilegierten Partnerschaft in den Raum. Nichts Halbes, nichts Ganzes, aber sich überall anbiedernd.

Die Realität: Die Türkei entwickelt sich, nicht mit Merkels kleinen Schritten, sondern mit sehr großen Schritten in eine brutale Diktatur und in Richtung Mittelalter zurück, allerdings mit westlichem Hightech, F16-Kampfflugzeugen und einem Nato-Pass ausgestattet.

Die Türkei soll Merkels verfehlte Einwanderungspolitik retten und das, obwohl allgemein beklagt wird, dass die Türkei selber eigene Ursachen für Flucht gesetzt hat und setzt, und obwohl bekannt ist, dass die Türkei eine eigene, von Merkel niemals qualifizierte oder quantifizierte türkische Innenpolitik in der Bundesrepublik betreibt.
Merkels Einwanderungspolitik, so man das Wort „Politik“ denn verwenden möchte, wird, was die Konsequenzen anbelangt, erst auf Sicht offenkundig werden. Die Gesellschaft wird zerfasern, sich in immer neue Parallelgesellschaften zerlegen, das BIP pro Kopf wird sinken und der Staat wird immer mehr zum Zankapfel konkurrierender Partikularinteressen.

Der Staat wird sich in Sachen Rente immer mehr selber zum Affen machen, der die Rentner enttäuschen wird. Das verniedlichen die Politiker aller Parteien. Solange es irgend geht, vollführt jeder seinen Eiertanz um die Rentenrealität herum und freut sich, wenn er bei der nächsten anstehenden Wahl wiedergewählt wird. Und die Rentner selbst wählen offenkundig Niemanden, der ihnen offen unbequeme Realitäten benennt. Demographie und Einwanderung von Menschen, die für Digitalisierung 4.0 mehrheitlich nicht gerüstet sind, setzen aber eindeutige Ursachen für einen Rentenabstieg der Zukunft.

Merkel ist keine Intellektuelle, sie liefert kein intellektuelles Gerüst ihrer Politik. Sie reißt die Dinge, nicht ungeschickt, einfach nur auf eine sehr flache Art an und so hat sie, gemeinsam mit der Union, die sich demnächst zu ihrem großen Merkel-Parteitag zusammenfinden wird, jetzt, im Weltmaßstab gesehen reichlich spät, die Digitalisierung 4.0 auf die Fahnen ihrer vierten Kanzlerschaft geschrieben.

Merkel versucht damit ein großes Fass aufzumachen, mit dem sie die Öffentlichkeit und die Medien beschäftigt, um so von den weit wichtigeren Politikfeldern, auf denen sie scheitert, nämlich Renten und Integration, abzulenken.

Merkels Digitalisierung 4.0 ist auf Wählertäuschung angelegt

Insofern ist Merkel 4.0 auf Wählertäuschung angelegt. Neue Technik ist natürlich erstmal faszinierend, alte Arbeitsplatzängste der „Verlierer“ sind die richtige Würze und Wirtschaft ist natürlich insgesamt immer ein gutes Thema, wenn es um die Essentialia, die jeden einzelnen betreffen geht. Die Formel „Digitalisierung“ der nächsten Stufe, grundschullehrerhaft erklärt mit Buchdruck, Dampfmaschine und Manufakturen ist Merkel pur. Was für eine schöne heile Welt. Und wir sollen alle beten, die Bibel wiederkennen und christliche Weihnachtslieder singen, so Merkels Aufforderung an die Bevölkerung bei vielen Gelegenheiten, obwohl jeder weiß, dass das Christentum aus den öffentlichen Räumen verschwindet oder heraus gedrängt wird und auch von Merkels Politik verraten.

Wenn der österreichische (grün-unabhängige) Präsidentschaftskandidat Van der Bellen zur Wahl schnell mal einen Trachtenjanker „anzieht“ und als echter Grüner plötzlich die Heimat entdeckt – respektive die dort, wo er die „Heimat“ vermutet, abzuschöpfenden Wähler entdeckt, dann ist das ein Beispiel für Politik einer solchen Machart, sich mit Werten, vor denen man sich eigentlich schüttelt, Machterhalt zu betreiben. Man sieht, der Merkels gibt es einige, aber Merkel treibt ihre Politik der nebulösen, undefinierten, aus den Zusammenhängen heraus gerissenen Einzelinteressen schon einigermaßen auf die Spitze. Immerhin: Damit hat sie es, lange von einer allgemeinen Unterschätzung ihrer Person lebend, überschätzt zu einer beinahe ewigen Kanzlerschaft gebracht.

Demokratie heißt Wechsel. Demokratie gibt es, um keine quasi verbeamteten Machtverhältnisse, Erbhöfe und stupiden Gewohnheiten entstehen zu lassen. Kluge Verfassungsgeber begrenzen deshalb die Amtszeiten des Regierungschefs auf beispielsweise acht Jahre wie in Amerika.

Die CDU ist zu einer duckmäuserischen dumpfen Kanzlerpartei geworden, unfähig personelle Alternativen zu entwickeln, die es natürlich in Hülle und Fülle gibt. Die Wähler haben das letzte Wort, aber sie scharen sich ebenfalls zu ängstlich und zu bequem hinter Merkel zusammen. Die Realität schert sich nicht um diese Ängstlichkeit und Bequemlichkeit.

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