Sitten sind verhandelbar, Anstand nicht

Dieses Land braucht eine Leitkultur wie jede entwickelte Gesellschaft eine hat und eine braucht.

© Nicolas Lambert/AFP/Getty Images

Sitte und Anstand ist ein gern genutztes, aber eigentlich nicht kongruentes Wortpaar. „Streng genommen“, so schreibt die geschätzte Kollegin Brigitte Haertel in der neuen Ausgabe von „theo – das katholische Magazin“, „gehören die Begriffe gar nicht zusammen: Sitten sind verhandelbar, Anstand nicht.“

Und eben das ist es, was wir jeden Tag sehen, hören, fühlen: die Sitten haben sich verändert mit der Zeit, haben größeren Spielraum und weitere Grenzen rausverhandelt mit einer diesbezüglich lockerer gewordenen Gesellschaft. Es geht mehr, es geht anderes als früher, unsere „Leitkultur“ ist deutlich dehnbarer geworden. Immer aber finden die veränderten Sitten ihre Grenzen im wirklichen Anstand, der eben mehr ist als ein bisschen gutes Benehmen, wirklicher Anstand komme, so Haertel im eingangs erwähnten Essay, „aus einer inneren Haltung, die mit Echtheit, mit dem Gewissen und ja! mit Moral zu tun hat.“

Vielen Zeitgenossen hat sich dieser Unterschied nicht erschlossen oder sie leugnen ihn nach Kräften. Die Haltung „ich rede und schreibe, wie ich immer schon geredet und geschrieben habe“ ist vielleicht kompatibel mit den neuen Sitten in den sozialen Medien, aber sprachlicher Unflat bleibt in den überwiegenden Fällen eben Unflat und deswegen unanständig. Die designierte Vorsitzende der SPD, Andrea Nahles, hat die für sie vielleicht sogar erstaunliche Erfahrung gemacht, dass man eben nicht reden kann, wie einem der eiflerische Schnabel gewachsen ist. „Und ab morgen kriegen sie in die Fresse“, „Bätschi, Bätschi“ und ähnliche erlesene rhetorische Perlen der neuen Frontfrau mögen sich vielleicht im Augenblick gut „versenden“, sind aber in Wahrheit in den Augen der meisten Bürger dieses Landes erfreulicherweise auch heute noch schlicht schlechter Stil. Auch und gerade Sprache hat etwas mit Würde und Benehmen zu tun. Es mag ja bei Politikern (übrigens ähnlich wie bei Sportlern auch) aus der Mode gekommen sein, die von anderen zugemessene Vorbildfunktion auch wirklich annehmen zu wollen und damit dann auch ausfüllen zu können. Aber wer sich im öffentlichen Raum bewegt, wird aller neuen Sitten zum Trotz dennoch als Vorbild gesehen, im guten wie im schlechten Sinne. Das scheint nicht verhandelbar zu sein und das macht Mut!

Die Haltung „wo ich bin, ist vorne“ ist eben keine noch zu tolerierende neue Sitte, sondern schlichter und meistens unerträglicher Chauvinismus und Egoismus. Es ist eine neue „Sitte“, dass an Unfallorten nicht mehr geholfen, sondern gegafft wird. Ärzte und Polizisten wie auch das oft sogar ehrenamtliche Personal der Hilfsorganisationen an Unfall-und Einsatzorten werden behindert, beschimpft, bespuckt und geschlagen. Es geht um das „ich“, das sehen will, aus der ersten Reihe gaffen, filmen, wie im Heimkino ganz vorne dabei. Rettungsdienste und Polizei führen inzwischen so selbstverständlich wie ihre übliche Ausrüstung große Sichtschutzplanen bei jedem Einsatz mit. Ihr Freunde des Unfall- und Einsatz-Spektakels: diese neue Sitte ist eben nicht verhandelbar, mit Bürgern dieses Landes ebenso wenig wie mit solchen aus einem anderen Kulturkreis, wo man vielleicht nicht gewohnt ist, sich unmittelbar für durch einen Unfall Verletzte einzusetzen, sondern dies eher  professionellen Diensten überlässt. In einer solidarischen Gesellschaft wie der Unsrigen hat vorurteilsfreie Hilfeleistung etwas mit Gewissen und Moral zu tun und eben das ist Anstand, siehe oben!

Nur weil der Begriff der „Leitkultur“ von Falschen und im falschen Zusammenhang gebraucht wurde, ist er noch nicht falsch. Vor allem aber sollten wir uns von Falschen nicht ins Boxhorn jagen lassen: dieses Land braucht eine Leitkultur wie jede entwickelte Gesellschaft eine hat und eine braucht. Oder wie der Nicht-mehr so-Jungstar der CDU, Jens Spahn, es ausdrückt: „die Vermittlung von Anstand und Tugenden muss Teil einer Leitkultur an Deutschlands Schulen sein. Mindestens genauso wichtig wie Fakten über Geschichte und Gesellschaft ist die Frage, ob wir jungen Menschen vermitteln, wie wir zusammenleben wollen. Da geht es um Anstand, Werte, Tugenden.“ Leitkulturen müssen weiterentwickelt werden, weil Sitten und Gebräuche sich mit den Zeitläuften eben auch ändern, weil Sitten „verhandelbar“ sind. Die Hoffnung allerdings, dass eine neue Große Koalition sich hier zu großen neuen Ufern aufschwingt, sollten wir schnell fahren lassen. Vielleicht aber auch ganz tröstlich: eine solche Initiative muss ohnehin aus der Mitte der Gesellschaft kommen oder sie kommt nicht!

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Kommentare ( 34 )

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Hadrian17
6 Jahre her

Wege zurück zur Zivilisation: Kapitel 2 Alles Wirksame ist einfach. 1. Man reihe die grundgesetzlich garantierte „Religionsfreiheit“ unter den Vorbehaltskatalog des Art. 18 des GG ein: „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art 18 Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“ Damit ist das Thema… Mehr

GermanMichel
6 Jahre her

Menschen ohne Sitte und Anstand sind in gewisser Hinsicht weiser und lebensklüger als solche mit. Sie erkennen noch die fundamentalen Regeln des menschlichen (und tierischen) Daseins: Wenn ich dein Territorium übernehme ist das gut für mich, schlecht für dich. Wenn ich deine Frauen kriege (du aber nicht meine) ist das gut für mich, schlecht für dich. wenn du, der Klügere (aber auch schwächere und ängstlichere) mit Sitte und Anstand, gegenüber meiner Primitivität und Aggression immer nachgibst, ist das gut für mich, schlecht für dich. Primitive und Tiere wissen dass es nur um das WAS geht (Erfolg oder Niederlage, Leben oder… Mehr

Sonni
6 Jahre her

Viel zu oft in den letzten Jahren beherrscht mich das Gefühl, dass der Mensch von Grund auf schlecht ist. Einige sind nur etwas besser erzogen als andere.

Doris die kleine Raupe Nimmersatt
6 Jahre her

Es gehört in viel zu vielen Kreisen heute zur guten Sitte keinen Anstand mehr zu haben.

schwarzseher
6 Jahre her

Meist sind es linke Kreise, siehe Antifa und deren Sympatisanten. Beispielhaft war auch der Hinweis in der Apotheker Zeitung, wonach man “ Rechte “ daran erkennt, daß die Eltern unauffällig, freundlich und hilfsbereit sind und ihre Kinder gute Manieren haben, adrett gekleidet und frisiert sind. Der Verfall von Sitten und ehemaligen Tugenden (nach Lafontaine Sekundärtugenden ) sind dagegen typisch für eine dekadente Wohlstandsgesllschaft im Niedergang. Das kann man in jeder Großstadt beobachten, wo es als chique gilt, in möglichst löchrigen Hosen und mit möglichst strufelpeterichen Haaren ( siehe Halayi ) rumzulaufen oder auf hochoffiziellen Veranstaltungen unter dem Jackett nur ein… Mehr

fischer ingrid
6 Jahre her

Was ist heute Sitte und Anstand? Wenn ich die Debatten im “hohen Haus“ verfolge, dann ist den Altparteien ein Sittenverfall von historischem Ausmaß zu attestieren. Wie kann man sämtliche Beiträge einer demokratisch gewählten Partei als faschistisch dämonisieren? Wäre es nicht sinnvoller, einen Dialog mit diesen immerhin 6 Millionen Wählern zu beginnen, um am Ende übereinstimmend festzustellen, dass Deutschland seine Identität auf jeden Fall behalten wird.

Die Zahnfee
6 Jahre her

Wir brauchen keine Leitkultur, weil wir eine haben. Sie ist über Jahrhunderte ganz natürlich gewachsen und wird vorrangig in der Familie vermittelt. Kinder erleben, ob die Eltern „vorbildlich“ mit anderen umgehen oder ob sie nur theoretische Sätze aufzählen. Für die Familie bleibt immer weniger Zeit, um nachvollziehbare Werte weiterzugeben. Kulturfremde nehmen sich zwar mehr Zeit für die Familie, vermitteln aber andere Werte, die teils Gegenwerte zu unserer Leitkultur sind, wie zum Beispiel Verachtung und Treppchen-Denken. Wenn jeder respektvoll mit dem anderen umgeht, funktioniert Gemeinschaft und Teamarbeit. Auch wenn es in den 50ern noch sehr karg war, schufen die vielen Frauen… Mehr

Jürgen M. Backhaus
6 Jahre her

Eine Vokabel, der mir in diesem Kontext von Anstand und Sitte zu fehlen scheint, lautet Doppelmoral. Im Bundestag wurde diese Woche der Antrag diskutiert, das Tragen der Vollverschleierung/Burka im öffentlichen Raum zu untersagen. Zu hören bekam man von den politisch korrekten Verteidigern der Religionsfreiheit allerlei Beschwichtigungen. Man wisse wie kontraproduktiv für die Integration dieses Textil sei, und frauenfeindlich sei diese Art von Kleidung sowieso, aber ein Verbot ginge gar nicht. Also Leitkultur Fehlanzeige? Dass es zu Anstand und Sitte im neudeutschen Milieu islamische Alternativen und Erweiterungen gibt, bis hin zur Scharia, daran scheiden sich die Geister, das GG stünde aber… Mehr

Corinne Henker
6 Jahre her
Antworten an  Jürgen M. Backhaus

Ich stimme Ihnen vollumfänglich zu. Die im GG verankerte Bekenntnisfreiheit kann nicht bedeuten, dass jeder Quatsch toleriert werden muss, solange er mit „Religion“ begründet wird. Wünschenswert wäre eine Rechtssprechung, die die anderen im GG verankerten Rechte (z.B. Gleichberechtigung der Geschlechter, Meinungsfreiheit, Diskriminierungsverbot) eindeutig ÜBER religiösen Befindlichkeiten ansiedelt, also Religionsfreiheit grundsätzlich nur im Rahmen des GG und aller anderen deutschen Gesetze gestattet. Letztlich sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichtes aber immer nur so gut wie die dort entscheidenden Richter (z.B. Gender-Ideologin S. Baer).

Baucis
6 Jahre her

Einspruch, verehrter Autor. Wenn die den Anstand oder bestimmte Sitten ausmachenden Begriffe polititisch und gesellschaftlich kontaminiert oder torpediert werden – verbal oder durch Verhaltensweisen – wird sich in der Gesellschaft schwerlich eine Initiative behaupten können.

Sabine K.
6 Jahre her

Ein sehr guter Text! Gerade das Beispiel von Frau Nahles war sehr einleuchtend. Wahrscheinlich dachte sie, mit ihren frechen Sprüchen die kleinen „primitiven“ SPD-Wähler der Arbeiterschaft/Unterschicht anzusprechen und zu begeistern. Aber das ist wohl nach hinten losgegangen. Es ist so, wie Sie schreiben: Auch von einer SPD-Granden erwartet man – quer durch die Gesellschaft – ein gewisses vorbildhaftes Auftreten und staatsmännisches Benehmen.
Angenehme Erscheinungen sind hingegen Politiker, die andere nicht beleidigen, sich gewählt ausdrücken und auch Gegnern gegenüber höflich bleiben. Gutes Beispiel dafür ist Österreichs junger Sebastian Kurz.

Ulv Hjort
6 Jahre her
Antworten an  Sabine K.

Meiner meinung nach sind die Østerreicher sowieso die besseren deutschen.

Hapi
6 Jahre her

Es war ein langer Weg… auf dem (wegen dem, und für das) Millionen gestorben sind. Wollen wir uns das während ein paar Jahren wieder nehmen lassen? Zitat: Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Wer nicht hören will, muss fühlen!
Tut mir leid, aber die Dursetzung staatlicher (demoraktischer) Gewalt, braucht manchmal einfach nur Gewalt !!

Albrecht Croy
6 Jahre her
Antworten an  Hapi

Könnten Sie das freundlicherweise erläutern? Dieser Beitrag ist sehr befremdlich.