Die polnischen Grenzschützer befürchten einen »größeren Zwischenfall«, den die weißrussischen Kräfte möglicherweise bei Kuźnica Bialostocka provozieren wollen, »möglichst mit Schüssen und Verletzten«. Am Mittag kam deshalb ein Krisenstab unter Präsident Andrzej Duda zu einer Krisensitzung zusammen. Der stellvertretende Außenminister Piotr Wawrzyk führte »Medienberichte« an, nach denen es bei Kuźnica den Versuch eines massenhaften Grenzübertritts gegeben habe.
Kolportiert wird nun, dass der große Migrantentreck entlang einer großen Autostraße zur Grenze, der in einigen Videos zu sehen war, das tat, um einen ordentlichen Grenzübergang zu benutzen. Das wäre vielleicht keine ungewöhnliche Idee, wenn man unterstellt, dass die Migranten über internetfähige Telefone verfügen und insofern über die Zeitläufte informiert sind. Vielleicht wollten sie nicht mehr als illegale Zuwanderer in die EU gelangen, sondern die Bedingungen der polnischen Seite erfüllen und an einem Grenzübergang ordentlich einreisen. Aber diese Sache war schon mit dem Flug nach Weißrussland anders entschieden. Jeder, der diese Reise antritt, macht sich zu einer Geisel im hybriden Grenzkonflikt Lukaschenkos.
Daneben veröffentlichte auch das Verteidigungsministerium Videos, auf denen Migranten sich mit Spaten, kleinen Baumstämmen und Bolzenschneidern an einem polnischen Grenzzaun zu schaffen machen. Die polnischen Grenzer reagieren offenbar mit Pfefferspray – ein ziemlich moderates Mittel, das die Arbeiten kaum zu stören scheint.
Auch weitere Videos zeigen den Charakter des Konflikts an der Grenze. Teilweise wurden schon Breschen in den Zaun geschlagen, die die polnischen Soldaten im Schildkrötenmodus schützen mussten. Der Hubschrauber im Video versucht, die Migranten zu vertreiben. Er übertönt dabei kaum ihre Rufe – offenbar »German« oder »Germany«. Ihr Ziel ist damit eindeutig benannt. Man sieht, wie viele polnische Soldaten hier versammelt sind, um die Grenze zu sichern. Laut Angaben der polnischen Regierung sind an diesem Tag und dieser Stelle keine Migranten nach Polen gelangt.
Polen hat zusätzliche Soldaten in die Region verlegt. Mehr als 12.000 Soldaten sind inzwischen in Grenznähe stationiert, zusätzlich Anti-Terror-Einheiten. Auch Litauen will weitere Truppen in seine Grenzregion zu Weißrussland verlegen, um sich gegen ähnliche Vorfälle zu wappnen.
Letzten Endes sollen Putin und Erdogan hinter den Schleuserflügen stecken, wie der Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft Heiko Teggatz nun gegenüber Bild sagte. Die Migranten werden demnach auch über Moskau und mit Hilfe der russischen Aeroflot und der Turkish Airlines geschleust. Inzwischen könnten laut Schätzungen 8.000 bis 22.000 Migranten in Weißrussland sein. Das Dreieck der Kooperation mit Russland und der Türkei wird umso plausibler, da der weißrussische Präsident gerade erst den Bund seines Landes mit Russland durch eine Unterschrift bekräftigt hat. Dass Erdogan hilfreich zur Seite steht, dürfte sich verstehen.
Reaktionen: Von KGE bis ADM – eine Fußnote
Was ist nun die Reaktion der EU, der deutschen Politik, der künftigen Koalitionäre auf das brisante Geschehen? Die EU-Kommission drängt angeblich auf einen Frontex-Einsatz, der die Durchsetzungskraft der polnischen Soldaten aber wohl kaum maßgeblich verstärken wird. Das ist auch gar nicht die Absicht der Kommission. Vielmehr könne Frontex zusammen mit der Asylagentur EASO und Europol die Registrierung ankommender Migranten übernehmen. Daneben arbeitet die EU an einer gemeinsamen Reaktion.
Da war Katrin Göring-Eckardt (KGE) schneller. Namens der grünen Partei verkündete sie, dass die Polen, erstens, ihre Grenzen gefälligst öffnen dürften und »menschenunwürdige« Zurückweisungen an der Grenze vermeiden sollten. Zweitens forderte Göring-Eckardt ein »Ja zur Solidarität«. Das ist der Habeck-Plan der Verteilung der Migranten in der EU in einer Nussschale. Göring-Eckardts Worte werden insofern nicht mehr bewirken als Habecks Idee. Allerdings drehen sich die Koalitionsverhandlungen auch um heikle Fragen wie die staatliche Alimentierung von Migranten – eine Front, an der die Grünen einen ordentlichen Aufschlag verlangen.
All das erinnert nicht nur an die Migrationskrise vom letzten Jahr, als Erdogan am Evros schon einmal versuchte, die Schengen-Zone mit Migranten zu überrennen. Es erinnert auch an den September 2015, als schon einmal Tausende »Flüchtlinge« Richtung Deutschland marschierten. Insofern fassen drei Bild-Schlagzeilen diesen 8. November 2021 treffend zusammen: