Was Nordkorea wirklich will

Welche Ziele verfolgt Nordkorea? Welche Interessen verfolgen seine Nachbarländer China, Japan und Südkorea? Hat China wirklich einen maßgeblichen Einfluss auf den nordkoreanischen Staat?

© STR/AFP/Getty Images

Während der japanischen Kolonialherrschaft propagierte die japanische Kolonialregierung in Korea eine gemeinsame Abstammungslinie und eine angebliche „Blutreinheit“ der Japaner und Koreaner, wobei die Koreaner dem Volk Yamato (Japaner) in der Hierarchie des Kaiserreiches Japan untergeordnet waren. Gleichzeitig forcierte die japanische Kolonialregierung in Korea eine Assimilierungspolitik, bei der unter anderem koreanische Namen in japanische Namen umgeändert wurden. Parallel zu der japanischen Assimilierungspolitik wurde ein völkisch geprägter koreanischer Nationalismus entfacht. Einer der Vordenker des koreanischen Nationalismus war Shin Chae-ho, der heute sowohl in Nord- als auch in Südkorea verehrt wird.

Das einflussreichste Werk von Shin Chae-ho war „die antike Geschichte von Korea“ (Joseon Sanggosa). In diesem Buch schrieb Shin die Geschichte Koreas von den Anfängen bis zum Untergang des mit Goguryeo verbündeten südkoreanischen Königreiches Baekje neu. In seiner Geschichtsschreibung, in deren Zentrum nunmehr das koreanische Volk stand, hob Shin die legendäre Geschichte des koreanischen Stammesvaters Dangun hevor. In dem mystischen Königreich „Dangun Joseon“, welches von dem Halbgott Dangun erschaffen worden sei, sah Shin den Ursprung der koreanischen Nation. Somit stand seine Korea-zentrierte Geschichtsschreibung im scharfen Kontrast zu der traditionellen Vorstellung der konfuzianischen Historiker Koreas, bei der China im Zentrum der Welt stand und das vom Chinesen Gija gegründeten Königreich „Gija Joseon“ die erste Dynastie auf koreanischem Boden darstellte.

Gleichzeitig lokalisierte Shin die kriegerischen Wurzeln des koreanischen Volkes in dem koreanischen Großreich Goguryeo, das Anfang des 7. Jh. die chinesische Invasion der Sui-Dynastie erfolgreich abwehrte und von Shih als den gemeinsamen Stolz des koreanischen Volkes angesehen wurde. Für Shin stand die koreanische Geschichte daher für einen stetigen Kampf gegen ausländische Invasoren, an dessen Anfang das Reich Goguryeo angesehen wurde. Das nationalistische Geschichtsverständnis des Shin Chae-ho hat einen weitrechenden Einfluss auf das historische Selbstverständnis und die nationale Identität der Süd- wie Nordkoreaner. Beide Staaten übernahmen weitgehend seine Geschichtsschreibung und machten das legendäre Reich „Dangun Joseon“ zum Startpunkt der offiziellen nationalen Geschichte Koreas.

Nationalismus im Süden und Kimilsungismus im Norden 

Nach der bedingungslosen Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg wurde im Norden unter der Aufsicht der Sowjets ein kommunistischer Staat errichtet und im Süden ein von den USA unterstützter kapitalistischer Staat. Nach dem Koreakrieg 1950-1953, wodurch die Teilung der Halbinsel zementiert wurde, erlebte der Nationalismus ein erneutes Aufblühen in den beiden koreanischen Staaten.

Die Theorie der „Blutreinheit“ der Koreaner, die ehemals von der japanischen Kolonialregierung im Zusammenhang mit der gemeinsamen Abstammungslinie der Japaner und Koreaner propagiert worden war, wurde dem Korea-Experten und Direktor der Abteilung für Internationale Studien der Dongseo University, Brian Myers, zufolge nach Ende des Zweiten Weltkriegs von koreanischen Nationalisten „koreanisiert“, um „Stolz in einem moralisch überlegenen koreanischen Volk zu fördern“.

Laut Kim Sok-soo, Professor an der Kyungpook National University in Südkorea,  diente der Nationalismus bezüglich der sogenannten „Blutreinheit“ als ein mächtiges Werkzeug der südkoreanischen Regierung in Zeiten der ideologischen Wirren nach dem Koreakrieg. Dieser Nationalismus führte in der südkoreanischen Bevölkerung auch zum Sympathisieren mit den Nordkoreanern und aufgrund der Stationierung US-Truppen in Südkorea zu einem ausgeprägten Anti-Amerikanismus.

So bemerkte Brian Myers nach der Versenkung der südkoreanischen Korvette Cheonan durch ein nordkoreanisches Torpedo im Jahr 2010, bei der 46 südkoreanische Marine-Soldaten ums Leben kamen, eine fehlende breite öffentliche Entrüstung in der südkoreanischen Gesellschaft. Myers führte die Ursache des fehlenden öffentlichen Aufschreis darauf zurück, dass die Identitifkation der Südkoreaner mit dem koreanischen Volk viel stärker ausgeprägter sei als deren Identitifkation mit der Republik Korea (Südkorea). Dies sei der Grund dafür, warum sich so wenige Südkoreaner von diesem Torpedo-Angriff durch die Nordkoreaner persönlich betroffen fühlen. Im Gegensatz dazu würden aber die Nordkoreaner viel stärker ihren Staat mit dem koreanischen Volk allgemein gleichsetzen.

Eine Untersuchung bei den Erstsemestern der südkoreanischen Kadetten an der Korea Military Academy (KMA) im Jahr 2004 ergab, dass 34 Prozent der erfragten Kadetten ausgerechnet die USA als den größten Feind ansahen – also noch vor Nordkorea, das „nur“ von 33 Prozent der frischen Kadetten als Hauptfeind betrachtet wurde.

Nördlich des 38. Breitengrades der koreanischen Halbinsel wurde der Nationalismus mit der Betonung eines angeblich reinblutigen koreanischen Volkes auch hochgehalten.

So vertrat Brian Myers die Ansicht, dass der nordkoreanische Staat nicht die letzte Bastion des marxistischen Leninismus oder des Konfuzianismus sei. Vielmehr werde Nordkorea von einem Nationalismus geleitet, welcher besagt, dass Koreaner „reiner als alle anderen“ seien. Der damalige Oberste Parteiführer Nordkoreas, Kim Jong-il, soll gesagt haben, dass Koreaner ein homogenes Volk seien und daher mit brüderlicher Liebe gefüllt seien.

Eine der zentralen Ideologien der PdAK und des nordkoreanischen Staates, welche vom Staatsgründer Kim Il-sung entworfen wurde, wird als „Juche-Ideologie“  bezeichnet (im Westen auch bekannt als Kimilsungismus). Seit 2009 ist die sogenannte Sŏn’gun-Politik („Militär zuerst!“) zusätzlich zur Juche-Ideologie Leitlinie der nordkoreanischen Politik, wonach den nordkoreanischen Militärs der absolute Vorrang zugestanden wird.

Im Gegensatz zum klassischen Marxismus-Leninismus stellt der nordkoreanische  Kimilsungismus die Interessen der eigenen Nation über denen der internationalen kommunistischen Bewegung. Die drei Prinzipien des Kimilsungismus sind die politische Souveränität, wirtschaftliche Selbstversorgung und militärische Eigenständigkeit. Demnach hat der Staat die Aufgabe, politische, wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit zu gewährleisten.

Überdies wird eine besondere Rolle Koreas angenommen, welches im Mittelpunkt der Welt stehe. 1986 initialisierte Nordkorea den Leitgedanken „koreanisches Volk zuerst“. Nach der Wende im kommunistischen Ost-Block 1989 betonte Nordkorea umso mehr die Notwendigkeit zur Förderung des Geistes „koreanisches Volk zuerst“.

Im Rahmen der kimilsungsischen Juche-Ideologie entstand in Nordkorea auch die sogenannte Juche-Geschichtswissenschaft. Zu den zentralen Bestandteilen der  Juche-Geschichtswissenschaft gehört die Festlegung des ehemals mystischen Reiches „Dangun Joseon“ als der Anfang der koreanischen Nation, während die Bedeutung des vom Chinesen Gija gegründeten „Gija Joseon“ zunächst heruntergespielt, deren Existenz dann seit 1993 komplett geleugnet wird.

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Gleichzeitig wird in der neuen Geschichtsschreibung seit 1993 das Königreich Goguryeo in der Zeit der Teilung der koreanischen Halbinsel, welches die chinesische Invasion der Sui-Dynastie erfolgreich abwehren konnte, als den einzigen repräsentativen Staat für Gesamt-Korea dieser Epoche hervorgehoben. Die Bedeutung des Königreiches Silla hingegen, welches mit der Unterstützung der chinesischen Truppen der Tang-Dynastie schließlich als Sieger hervorging und Korea weitgehend einigen konnte, wurde aufgrund seiner Unterwürfigkeit gegenüber Tang-China heruntergespielt.

Somit steht das nordkoreanische Geschichtsverständnis und seine Sicht auf China im starken Kontrast zu dem traditionellen Weltbild Sadaejuui der Koreaner zur Zeit der Silla- Goryeo- und Joseon-Dynastien. „Sadae“ bedeutet wörtlich: „Dem Großen dienen“. „Sadaejuui“  bezeichnet eine traditionelle realpolitische Außenpolitik Koreas, bei der das koreanische Königreich die Überlegenheit einer Großmacht anerkennt und ihr als Vasall andient. Sadaejuui wird daher inbesondere mit der absoluten Ergebenheit gegenüber China (oder denjenigen Dynastien, die China beherrscht haben) seit der Silla-Dynastie assoziiert, bei der Korea seine Rolle als Vasall-Staat im sino-zentrischen Weltbild der Konfuzianer akzeptierte. Das Prinzip des Sadaejuui wird heute von der Leitideologie in Nordkorea verworfen.

Was Nordkorea tatsächlich antreibt

Die gesamte westliche Welt rätselt über die andauernden Provokationen seitens der nordkoreanischen Führung und die fehlende Durchsetzungsfähigkeit Chinas, Nordkorea zur Räson zu bringen.

Dabei handelt Nordkorea nichts anderes als nach seinen offiziellen Ideologien, um einerseits mit nationalistisch-martistischen Tönen in Richtung USA und Japan der nationalistisch gesinnten Bevökerung nationale Selbstständigkeit und Kühnheit zu demonstrieren (Juche) und von inneren wirtschaftlichen Problemen abzulenken, und andererseits die Militärs bei Laune zu halten (Sŏn’gun).

Echte Taten hinter all den Kriegsdrohungen der nordkoreanischen Führung werden freilich nicht kommen. Auch die nordkoreanische Führung dürfte darüber bestens im Bilde sein, dass die um Jahrzehnte im technischen Rückstand befindenden nordkoreanischen Streitkräfte gegen die vereinte Macht Südkoreas, Japans, der USA und weiterer US-Verbündete wie Australien nicht gewinnen können.

Offiziell ist China gemäß Artikel 2 des chinesisch-nordkoreanischen Freundschaftsvertrags, der noch mindestens bis 2021 läuft, dazu verpflichtet, Nordkorea im Falle eines Angriffs durch Dritte unverzügerlich militärische und andere Hilfen zu leisten. Doch ist es Auslegungssache, was unter „militärischen Hilfsleitungen“ zu verstehen ist. Eine automatische Pflicht Chinas zum Eintritt in den Krieg auf der Seite Nordkoreas, falls Nordkorea vom Dritten angegriffen wird, besteht indes nicht. Darüber hinaus sind die chinesischen Unterstützungen für Nordkorea mit der Voraussetzung  verbunden, dass sich Nordkorea erstens um eine friedliche Lösung bemüht hat und zweitens Nordkorea den Krieg nicht selbst losgetreten hat. Ohnehin haben aber die zwischenstaatlichen Verträge in kommunistisch regierten Ländern nicht die gleiche rechtliche Bindungskraft wie in einem angelsächsischen Rechtsstaat.

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Kommentare ( 10 )

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Will Anders
7 Jahre her

Sehr interessant, vor allem der geschichtliche Teil, hen you yisi. Die Geschichte spielt in Ostasien eine viel größere Rolle als im Westen. Man kann die gegenwärtige Situation auch mal unter militärischen Aspekten betrachten, denn Washington hat in der Geschichte häufig jede Vernunft zugunsten der puren Kriegslust vergessen, wie zuletzt unter dem Friedensnobelpreisträger Obama, der sieben wehr-, harm- und bedeutungslose Länder vergewaltigte. Warum sollte nicht auch Nordkorea mit Friedensbotschaften Made in USA überbracht per B-52 oder ballistische Missiles beglückt werden? Also angenommen, Trump oder der nächste US-Präsident Zuckerberg entscheidet, das nordkoreanische Nukleararsenal zu zerstören und es gelingt ihm auch. Im allernächsten… Mehr

Andreas Schneider
7 Jahre her

Herrn Zhus Beiträge sind nie leichte Kost, und beim besten Willen kann ich auch nach der Lektüre dieses Artikels nicht behaupten, jede Einzelheit tatsächlich verinnerlicht zu haben und wiedergeben zu können. In jedem Fall aber hebt sich diese Analyse wohltuend vom Alltagsgeschrei der Unzahl „Experten“ in Medienhäusern ab – zumal dort die Trump-Hysterie im Vorfeld jeder „Beurteilung“ steht. Besten Dank!

xandru
7 Jahre her

Hat es unsere Kultur verlernt, sich zu wehren? Deutschland ganz sicher.

Aber die Alliierten der Weltkriege? Sie kultivieren zu Recht das Gedenken; sind doch viele gestorben für den zweimaligen Wahnsinn der Deutschen.

Und denen wollen wir besserwisserisch Vorschriften machen? Wir, die wir seit 1945 keine andere Verantwortung mehr für unsere eigene Freiheit übernommen haben als beim großen Bruder unter den Rock zu krabbeln?

xandru
7 Jahre her

Unsere Lösung wären wohl Wattebällchen, Stuhlkreise, Lichterketten und Namentanzen auf Koreanisch – also vorauseilende Unterwerfung.

Leider gebärden wir uns seit der Wiedervereinigung, als wären wir die Führung einer Großmacht Europa. Dabei sind wir auf dem direkten Weg zum Entwicklungsland: MINT, PISA, Platz 51 im Sicherheitsranking…

Thax
7 Jahre her

Wow, selten so einen interessanten Artikel gelesen. Danke !!

Seneca
7 Jahre her

Überdauern als Ziel aller Politik: Kim erscheint so viel rationaler als unsere angeblich so rationale AM !

Steuerzahler
7 Jahre her

Ich denke, das die Partei der Arbeit Koreas (PdAK) mit der Familiendynastie Kim an deren Spitze von „Befreiern“ wie im Irak, in Libyen und in Syrien in Ruhe gelassen werden möchte. Um mehr geht es nicht. Zumindest nicht für Nordkorea.

Tubus
7 Jahre her

Respekt für diesen tiefschürfenden Artikel, der allerdings eher Ratlosigkeit befördert, als dass er Handlungsptionen aufzeigt. Er ignoriert die Adenauersche Weisheit, dass politische Fragen sich im Kern auf einfache Fragen reduzieren lassen bzw. reduziert werden müssen um handeln zu können. Macht man diesen Versuch, zeigt sich der grundlegende Widerspruch zwischen dem chinesischen Machtanspruch und den amerikanischen geopolitischen Interessen. In diesem Spannungsfeld sortieren sich die Interessen der lokalen Mitspieler. Dabei ist die wachsende Wirtschaftsmacht China in der Offensive und die schwächelnden USA sind in der Defensive. Niemand hat dabei Interesse an einem katastrophalen Konflikt, obwohl bei Machtversiebungen dieses Risiko immer besteht. Die… Mehr

HighTower
7 Jahre her

Mir schwirrt der Kopf ob der vielen fremden Namen für Kaiser, Könige, Vasallen und Reiche, sehr viele interessante Informationen, Vielen Dank für den historischen Exkurs.

Rheinschwimmer
7 Jahre her

Besten Dank, Herr Zu, für diesen hochinformativen Beitrag zur Geschichte und Politik Koreas in Vergangenheit und Gegenwart. Wer die Vergangenheit nicht kennt, Mächtekonstellationen, Geopolitik, Rivalitäten, Bündnisse, Kriege und deren Folgen, Siege und Niederlagen, Feinde und Verbündete, Interessen und die Strategien in Ausübung von Macht und Einflüssen, Abhänigkeiten und Bestrebungen Abhänigkeiten wieder zu beenden, hat nicht die mindesten Voraussetzungen dafür zu verstehen, was Geschichte ist und was Geschichte bedeutet. Wenn die aktuelle Kanzlerin bekennt, sie habe z.B. nicht die mindeste Ahnung in Hinblick auf die Aussenpolitik von Otto von Bismarck, dem Begründer des zweiten deutschen Reiches, ist das ein Armutszeichen sondergleichen… Mehr