Vereinigtes Königreich: Folgt nun der Durchgriff auf die bürgerlichen Freiheiten?

Die britischen Unruhen könnten schneller enden als gedacht. Doch die Folgen für die Redefreiheit könnten einschneidend sein. Online-Plattformen sollen zunehmend nach „Hass“ durchkämmt werden. Dazu feiert auch eine Desinformations-Einheit aus der Covid-Ära ihre verfrühte Auferstehung.

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Southport disorder. An anti-immigration protester (right) speaks to police officers in North Finchley, London. Picture date: Wednesday August 7, 2024. See PA story POLICE Southport. Photo credit should read: PA Wire URN:77090995

In diesen Tagen wird immer wieder der Satz des Journalisten Andrew Marr zitiert, der nach dem deutlichen Labour-Wahlsieg vom 4. Juli in etwa gesagt hatte, das Vereinigte Königreich werde „ein Hort der Stabilität in einer polarisierten Welt“ sein. Diese Einschätzung scheint sich schon nach einem Monat erledigt zu haben. England, Wales und Nordirland sind zu Brennpunkten der europäischen Politik geworden. Länder wie Australien, Indien, Kenia, Nigeria, Schweden und die Vereinigten Arabischen Emirate haben Reisewarnungen für Großbritannien herausgegeben, dazu noch die ehemalige Kronkolonie Hong Kong.

Und derweil rückt auch der Freitagabend näher. Es ist jener Abend der Woche, an dem Keir Starmer laut einem öffentlichen Bekenntnis vor den jüngsten Wahlen nichts tun will, was mit seiner Arbeit, also seinem Amt als Premierminister des Vereinigten Königreichs zusammenhängt. In der aktuellen Lage ist es eher eine riskante Wette, ob Starmer das möglich sein wird. Aber vielleicht könnte bis dahin alles ruhig geworden sein, dank einer Koalition aus Polizei, Gegenprotest mit offenem Visier und den inzwischen bekannt gewordenen „Muslim-Patrouillen“, die eher mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und einer Waffe in der Hand anzutreffen sind.

Am Mittwoch fand die Mehrzahl der für den Abend vorausgesagten Proteste jedenfalls nicht statt. Andere sagen, die Nachricht von 100 möglichen Unruheherden sei eher eine offiziell verbreitete Desinformation gewesen, die dazu diente, einen späteren Erfolg der Polizei oder auch der Gegner zu inszenieren. Der Antifa-Aktivist Nick Lowles gab offen zu, dass die 100 drohenden Unruheherde eine reine Erfindung waren (andere hatten ohnehin nur von 30 Orten gesprochen). Ziel war demnach die Übermittlung einer „antirassistischen Botschaft an Millionen Haushalte“, auch dank der Medien.

Befürchtet wird dennoch, dass sich die Gewalt gegen „Flüchtlingshotels“ fortsetzen könnte. Die Labour-Regierung will auch deshalb weg von solchen Einrichtungen. Allgemein ist eine starke Aufstockung der Asylbehörde um mehr als 1.000 Sachbearbeiter geplant, um den Rückstau an Asylfällen aufzulösen und die Antragsteller so auch aus den öffentlichen Heimen und Hotels zu bekommen.

So werden Labour die „Kosten des Asylsystems … deutlich reduzieren, ohne dass die Zahl der Menschen, die nach Großbritannien kommen, um Asyl zu beantragen, unbedingt stark sinken muss“, wie die Financial Times einigermaßen korrekt zusammenfasst. Zudem könnte der Regierung ein natürlicher Rückgang der legalen Zuwanderung in den Schoß fallen, der eventuell durch Visa-Verschärfungen der konservativen Vorgängerregierung bewirkt wird. Erwartet wird eine Halbierung der jährlichen Nettozuwanderung auf 350.000 Personen bis zum Jahr 2030. Bis dahin müssen noch einige Jahre vergehen, das „Gesamtsystem“ könnte also noch unter weiteren Druck kommen, zumal der Innendruck inzwischen auch erheblich gewachsen ist.

Polizei und Gegendemonstranten planten Medien-Coup

Der Commissioner der Londoner Polizei, Mark Rowley, sprach von einer gemeinsamen „Machtdemonstration“ (show of force) zusammen mit gewissen „Gemeinschaften“. Die Parolen der inszenierten Gegenproteste waren allerdings nicht immer friedlich. In London wurde ein Wortführer gefilmt, der über die Protestler sagte: „Es sind ekelerregende Nazi-Faschisten, und wir müssen ihnen allen die Hälse durchschneiden und sie alle loswerden.“ Die Menge wusste nichts Besseres zu tun als zu jubeln. Wie sich herausstellte, war der Redner der Labour-Stadtrat Ricky Jones, der inzwischen verhaftet und von seiner Partei suspendiert wurde.

Die Machtdemonstration setzt sich auch an den Gerichten fort: Zwei weitere Delinquenten, die an der Spitze der Proteste gestanden hätten, wurden wegen Gewalttaten zu jeweils gut zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Es handelt sich um den 43-jährigen Gasinstallateur John O’Malley aus Southport und den pensionierten Schweißer William Nelson Morgan (69) aus Liverpool, wie die Daily Mail schreibt.

Der Richter wird mit den Worten zitiert: „Wogegen sie protestierten, bleibt für viele ein Rätsel.“ Am Donnerstag sollen dutzende weitere Demonstranten vor Gericht gestellt werden. Morgan gehörte zu einer Gruppe, aus der heraus Mülltonnen angezündet, Geschäfte und andere Gebäude beschädigt und Feuerwerksraketen auf die Polizei geworfen wurden.

O’Malley hatte sich am Protest vor der Southporter Moschee beteiligt. Der Richter sagte zu ihm: „Sie gehörten zu einer Gruppe, die sich offensichtlich rassistischer und religiös intoleranter Äußerungen bediente und ganz bewusst vor einer Moschee demonstrierte, und Sie waren ein aktiver und beharrlicher Teilnehmer.“ Zuvor war der 18-jährige James Nelson aus Bolton zu zwei Monaten verurteilt worden.

Nicht verstummt sind allerdings die Vorwürfe, dass es sich beim neuen Premierminister um eine Figur namens „two-tier Keir“ handele, zu Deutsch also: Keir mit der Zwei-Klassen-Justiz. Bebildert wird das gerne auch mit dem halben Kniefall, den Starmer im Jahr 2020 in seinem Büro inszenierte und an die Weltpresse übermittelte. Er stand damals auf der Seite der oft randalierenden, raubenden, plündernden und brandstiftenden BLM-Proteste, weil sie angeblich eine gerechte Sache waren. Wer oder was sagt ihm, dass die Sache der heutigen Protestler – die selbst Richter nicht zu verstehen vorgeben – nicht im Kern gerecht war, während nur ihre Wut übermäßige Dimensionen annahm.

Generalstaatsanwalt kündigt Online-Überwachung an

Neben den Urteilen über Gewalttaten, die sicher gerechtfertigt sind, aber durch die Präsentation trotzdem an Schauprozesse erinnern, bleibt aber vor allem das geplante Durchgreifen online interessant für die Weiterentwicklung der britischen Demokratie. Viele sprechen von Zensur und befürchten eine Beschränkung der Redefreiheit, eines der Pfeiler, auf denen die parlamentarische Tradition des Königreichs ruht.

Der Nachfolger von Keir Starmer als Leiter der britischen Staatsanwaltschaft, Stephen Parkinson, erklärte im Fernsehsender Sky News, wie die (nicht ganz so) neue Gedankenkontrolle durch staatliche Behörden funktionieren wird. Und das soll so gehen: Wann immer die britische Polizei, die dafür Beamte abgestellt hat, beleidigende Äußerungen findet, die zu rassisch oder religiös grundiertem Hass auch nur beitragen könnten, werden diese Daten der Staatsanwaltschaft übergeben. Ein Retweet oder offenbar das Teilen eines Memes oder sonstigen Bildes kann ausreichen.

Nicht neu ist all dies, insofern es den Racial and Religious Hatred Act schon seit 2006 gibt. Das „Hass-Gesetz“ wurde paradoxerweise in Folge der terroristischen Angriffe vom 11. September 2001 geschrieben. Eines der größten Terror-Attentate radikaler Muslime hat also letztlich dazu geführt, dass der Islam und ethnische Minderheiten in Großbritannien heute in besonderer Weise geschützt sind. Die Regierung stellt sich auf den Standpunkt, sie könne natürlich „öffentlich zugängliche Inhalte überwachen, die die öffentliche Sicherheit gefährden“. Was offline illegal sei, das sei das auch online. Überwacht würden nur Trends, nicht Individuen.

Desinformations-Einheit aus der Covid-Ära wiederbelebt

Wie der Telegraph erfahren hat, wurde zu dieser Überwachung nun sogar ein Instrument aus der Covid-Ära wiederbelebt. Die damalige Counter Disinformation Unit (CDU) heißt nun National Security Online Information Team (NSOIT). Die Einheit besitzt den sogenannten „trusted flagger status“ auf verschiedenen Plattformen und kann so direkt auf die Löschung von Posts hinwirken. Das sind also die „hingegebenen Beamten“, von denen Parkinson spricht.

Dabei hatten Abgeordnete vor einigen Monaten eine unabhängige Untersuchung zur Aktivität der „CDU“ in der Corona-Zeit gefordert. Die Einheit hatte auch kritische Forscher wie Carl Heneghan oder Aktivisten wie Molly Kingley (für offene Schulen) ins Visier genommen. Auch Big Brother Watch, eine Initiative für den Erhalt bürgerlicher Freiheiten, kritisierte den Einsatz einer der „undurchsichtigsten Regierungsstellen“ abseits der Geheimdienste. Die Dienstleistungen des neubenannten „Online Information Teams“ gehen weit über die Sicherstellung der nationalen Sicherheit hinaus, so Silkie Carlo von Big Brother Watch. Es gehe um die Einschränkung der Redefreiheit.

Doch schon führte die Regierung Gespräche mit großen Social-Media-Konzernen, nämlich X, Youtube, Meta (Facebook, Instagram), Google und TikTok. Im nächsten Jahr soll der Online Safety Act in Kraft treten, zu dem diese Gespräche im Grunde das Vorgeplänkel sind: informelle Selbstverpflichtungen, die nächstes Jahr dann durch das neue Gesetz festgezurrt werden.

Zemmour: Polit-mediale Eliten wollen den Schrei der Völker nicht hören

Der Journalist und Buchautor Douglas Murray befürchtet im Spectator, dass die britische Politik wiederum nichts aus diesen neuen Unruhen lernen wird. Schon 2011 hatte es im Grunde in denselben Städten – vor allem im nördlichen Rostgürtel des Landes – Proteste aus ganz anderem Anlass gegeben. Die Arbeitslosenzahlen in Sunderland, Hartlepool oder Leeds seien seitdem nicht gesunken, sondern sogar leicht gestiegen. Doch eine Diskussion darüber findet (noch) nicht statt und wird vielleicht ausbleiben, wenn man sieht, wie sehr sich die Beiträge Keir Starmers auf das Durchgreifen konzentriert haben. Ein einfacher Weg zur Befriedung der Bürger wird also bewusst nicht begangen, dafür mögliche Einschränkungen der Redefreiheit und jedenfalls eine Überwachung der Online-Plattformen umgesetzt.

Am Donnerstag schrieb der französische Politiker Éric Zemmour auf X: „Der Schrei der Völker, die nicht sterben wollen, ist für die politisch-medialen Eliten unerträglich, denn er klingt wie ein Vorwurf in ihren Ohren. Sie wollen ihre Fehler nicht korrigieren, sondern nur verhindern, dass man sie ausspricht.“

— Eric Zemmour (@ZemmourEric) August 8, 2024


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