Hat Ungarn eine neue Ukraine-Strategie?

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine waren die Beziehungen des Landes mit Ungarn gespannt. Jetzt aber bricht Tauwetter an: Ungarn bewegt sich auf Kiew zu, die Ukraine will ihrerseits Minderheitenrechte verbessern.

Screenprint: via twitter/Katalin Novák

Ungarns Staatspräsidentin Katalin Novák war am 23. August in Kiew, wo sie an einer Tagung der „Krim-Plattform” teilnahm. Das ist eine Initiative der ukrainischen Regierung, um die „Deokkupation der Krim” auf diplomatischem Wege voranzutreiben. Der präsidiale Erlass hierzu aus dem Jahr 2021 beschreibt die Plattform als „zentrales außenpolitisches Instrument zur Konsolidierung der internationalen Bemühungen zur De-Okkupation und Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine”.

Nováks Besuch war ein echtes Novum: Bislang waren die Staats- und/oder Regierungschefs fast aller „westlichen” Länder in Kiew erschienen, um ihre Solidarität angesichts der russischen Aggression auszudrücken, ausser jene Ungarns.

Sie hielt eine Rede, und postete Kernpunkte auf Twitter, die semantisch abwich vom bisherigen Sprachgebrauch der ungarischen Regierung. Die hatte bislang immer bekräftigt, „Frieden” zu wollen, davor einen baldigen Waffenstillstand, und die territoriale Integrität der Ukraine zu unterstützen, sowie die russische „Aggression” zu verurteilen. Sanktionen lehnt Ungarn ab, implementiert sie aber. Und das Land liefert keine Waffen an die Ukraine.

Kritiker rügten an diesen Positionen unter anderem, dass sie widersprüchlich seien, weil ein „rascher Waffenstillstand” faktisch Gebietsverluste bedeuten würde, also die territoriale Integrität der Ukraine gefährde.

Novák formulierte nun spürbar anders. Ungarn, und „Budapest als Hauptstadt” (also wohl als denkbarer Verhandlungsort), stünden immer zur Verfügung auf dem Weg zu einem „gerechten Frieden”, sagte sie. Diese Formel bedeutet im politischen Sprachgebrauch einen Frieden auf der Grundlage eines kompletten Rückzugs der russischen Truppen aus der Ukraine – mit anderen Worten, fast das Gegenteil des „raschen” Friedens, den Ungarn bisher forderte. Denn ein russischer Rückzug ist eigentlich nur als Ergebnis einer russischen Niederlage denkbar. Eine russische Niederlage ist von der ungarischen Regierung aber bislang als eher unwahrscheinlich gesehen worden.

Nach diesem Tonwechsel führte die ungarische Präsidentin mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Zelensky bilaterale Gesprächen, die auch zu konkreten Ergebnissen führten. Demnach schliesst sich Ungarn dem „ukrainischen Friedensplan” an, der einen kompletten Rückzug Russlands zur Vorraussetzung hat, auch aus der Krim. Zweitens wollen beide Länder ihre Beziehungen auf eine neue Grundlage stellen. Zu diesem Zweck soll ein gemeinsames Grundsatzdokument ausgearbeitet werden. Ungarn verspricht, sich aktiv für einen Beitritt der Ukraine in die EU und in die Nato zu engagieren. Die Ukraine verspricht ihrerseits, „sobald wie möglich” die rechtliche Lage der ungarischen Minderheit zu verbessern – ein ewiges Streitthema zwischen Kiew und Budapest.

Zeichen für einen politischen Wetterumschwung hatte es bereits seit einigen Wochen gegeben. Zunächst hatte Zsolt Németh, ein respektiertes Gründungsmitglied der ungarischen Regierungspartei Fidesz und Vorsitzender des aussenpolitischen Ausschusses im Parlament, auf der jährlichen „Sommeruniversität” der Partei im siebenbürgischen Tusnádfürdő am 19. Juli einen neuen Ton im Umgang mit dem Ukraine-Konflikt gefordert (Tichy berichtete). Ungarn, so warnte Németh, laufe Gefahr, bei der Herausbildung einer neuen Weltordnung als Folge des Ukraine-Krieges auf die „Verliererseite” zu geraten, wenn es weiterhin im Westen als russlandfreundlich identifziert werde. Zwei Tage später wurde dann die grosse jährliche Rede von Ministerpräsident Viktor Orbán auf dieser Veranstaltung mit Spannung erwartet: Was würde er diesmal zum Ukraine-Krieg sagen? Gar nichts. Er sprach das Thema nicht an.

Wenig später besuchte Zelensky am 2. August überraschend die Karpathoukraine, also jenen Teil des Landes, in dem die ungarischen Minderheit lebt. Dort schlug er bemerkenswert freundliche Töne an, traf ungarischstämmige Anwohner und Minderheitenvertreter, und besuchte eine ungarische Schule. Ungarische Beobachter werteten das als eine Geste: Wird die Ukraine den muttersprachlichen Unterricht für die ungarische Minderheit doch nicht, wie bisher geplant, schrittweise abschaffen?
Noch etwas hat sich geändert: Schon seit Wochen hat kein ukrainischer Regierungsvertreter etwas Grobes gesagt über Ungarns Regierung. Das war etwa im vergangenen jahr durchaus häufig der Fall.

All das – die Mahnung von Zsolt Németh, bezüglich der Ukraine anders zu kommunizieren, Orbáns jüngste Schweigsamkeit zum Thema, Zelenskys Besuch bei der ungarischen Minderheit und der Besuch der ungarischen Staatspräsidentin in Kiew – das zeugt von einem neuen Ton. Aber der alte ist daneben immer noch da: Am 24. August, einen Tag nach Nováks Besuch in Kiew, bekräftigte Kanzleramtsminister Gergely Gulyás Ungarns Wunsch nach einem sofortigen Waffenstillstand.

Seit ihrem Amtsantritt besetzt Katalin Novák Positionen, die etwas anders klingen als die von Viktor Orbán: Weniger kantig, mehr in Einklang mit der Semantik an in anderen EU-Ländern. Das ist freilich kein Gegensatz, sondern abgesprochen: Mit Orbán, Novák und auch Aussenminister Péter Szijjártó ist es Ungarn gelungen, drei international weithin sichtbare Akteure auf der Bühne der Diplomatie zu etablieren, de jeweils andere Akzente setzen. Das erweitert die Bandbreite der ungarischen Aussenpolitik – Orbán oder Szijjártó können Dinge sagen, die in Moskau zu gefallen vermögen, während Novák den Westen zu überzeugen versucht.

Wenn es jetzt aber tatsächlich zu einer neuen Grundsatzvereinbarung mit der Ukraine kommt über die Grundlagen der beiderseitigen Beziehungen, dann ist das mehr als nur Klangfarbe: Dann sind das neue Fakten.

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Kommentare ( 9 )

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stets_bemueht
1 Jahr her

Die EU hat etwa 13 Mrd Euro Corona- und sonstige Hilfen für Ungarn eingefroren. Auf Deutschland Einwohnerzahl hochgerechnet wären es ~ 110 Mrd, also sagen wir ein Sondervermögen oder ein halber Doppelwumms. Auf Deutschlands nominales BIP hochgerechnet wären es übrigens etwa 270 Mrd. Also fast Sondervermögen und Doppelwumms in einem Aufwasch.

Aber, siehe Deutschland in der Merkel- /Ampelzeit, wer die Ukraine zu eng an sich heranlässt, der wird mit Melnyk belohnt werden. Und wie pfleglich die Ukraine mit fremdsprachlichen Minderheiten umgeht, das können sich die Ungarn an einer Hand abzählen, wenn sie in den Donbass schauen.

John Sheridan
1 Jahr her

Tja, anscheinend wirkt hier eher die Erpressung des Selinki-Regimes. Kein günstiges russisches Gas mehr und erst recht nicht die OTP-Bank von der schwarzen Liste nehmen. Wer allen ernstes noch glaubt dass die durch völkerrechtlich bindenden Referendarien (Abstimmungen Krim&Donbass) „rückgängig“ gemacht werden, muss mit dem „Klammerbeutel gepudert sein“. Die Frage bleibt, wie der „Werte-Westen“ aus dem Ukraine-Desaster samt der Minsk 1&2 Lügen samt dem von den Briten vorangetriebenen ungültigen&korrumpierten „Den Haag Urteil“ gegen W. Putin wieder herauskommen will. Alles was um NordStream gerade „herumgestrickt“ wird deutet darauf hin dass die Ukraine samt der Restbevölkerung in absehbarer Zeit wie die berühmte heisse… Mehr

Autour
1 Jahr her

Ich sag es Mal so: Die Ukraine, ein Fantasiekonstrukt des Bolchewismus ohne die geringste historische Grundlage gehört zerschlagen Punkt aus! Die russisch sprachigen Gebiete gehen an Russland die ungarisch sprachigen an Ungarn und der Rest der sich halt gelb blau fühlt der kann dann ja Ukraine spielen. Er wird allerdings einen Stellenwert auf dem Niveau Moldaus haben! Und an all die Völkerechtler da draussen, ihr habt jeglichen Anspruch auf Beachtung verwirkt! So lange die Türken Zypern und Syrien besetzen dürfen, die Albaner Teile Serbiens loseisen dürfen, Bangalesen in Myanmar ein Gebietsanspruch angedichten dürfen können mir jegliche Völkerechtler gestohlen bleiben! Denn… Mehr

Manfred_Hbg
1 Jahr her
Antworten an  Autour

Zitat: „Denn all das zeigt nur eins es gibt kein Völkerrecht!“

> Das mag vllt schon so sein wie Sie sagen.

Doch wenn ich aber zum Beispiel in mein Haus(DE) aus dem Fenster gucke, dann interessiert mich zwar nicht unbedingt was auf der anderen Seite der Welt(zB Myanmar) geschieht, doch an dem was direkt vor meinen Fenster in meinen Vorgarten(zB Unkraine) geschieht bin ich dagegen sehr interessiert.

DiasporaDeutscher
1 Jahr her

Selten erlebt, dass in einen Tweet so das Gegenteil des tatsächlichen Inhalts hineininterpretiert wurde ?

Manfred_Hbg
1 Jahr her

Zitat: „Wird die Ukraine den muttersprachlichen Unterricht für die ungarische Minderheit doch nicht, wie bisher geplant, schrittweise abschaffen?“ > Nun, ich weiß nicht ob und wenn ja, welche Probleme es in der Ukraine mit der ungarischen Minderheit geben soll. Zumindest war meiner Meinung nach hiervon bisher medial nichts zu hören. Von daher und auch als jemand der hier Symphatien für beide Seiten hat(während den sog. Ostblock-Zeiten war ich auch sehr oft in Ungarn unterwegs und habe Land & Leute schätzen gelernt), würde ich sagen, dass es für Ungarn und die Ukraine gerade auch als direkte Nachbarn bestimmt nicht vom Nachteil… Mehr

Manfred_Hbg
1 Jahr her

Zitat: „Wird die Ukraine den muttersprachlichen Unterricht für die ungarische Minderheit doch nicht, wie bisher geplant, schrittweise abschaffen?“ > Nun, ich weiß nicht ob und wenn ja, welche Probleme es in der Ukraine mit der ungarischen Minderheit geben soll. Zumindest war meiner Meinung nach hiervon bisher medial nichts zu hören. Von daher und auch als jemand der hier Symphatien für beide Seiten hat(während den sog. Ostblock-Zeiten war ich auch sehr oft in Ungarn unterwegs und habe Land & Leute schätzen gelernt), würde ich sagen, dass es für Ungarn und die Ukraine gerade auch als direkte Nachbarn bestimmt nicht vom Nachteil… Mehr

Der Person
1 Jahr her

„Kritiker rügten an diesen Positionen unter anderem, dass sie widersprüchlich seien, weil ein „rascher Waffenstillstand” faktisch Gebietsverluste bedeuten würde, also die territoriale Integrität der Ukraine gefährde.“

Na und? Die Türkei hat seit knapp 50 Jahren Nordzypern besetzt und seit 7 Jahren Teile Nordsyriens. Auch die USA okkupiert noch syrischen Boden (und plündert dort Bodenschätze). Und das wird ganz offensichtlich akzeptiert im Wertewesten. Warum also sollte nicht auch die Ukraine Gebiete abtreten, zumal mit dem Kosovo ein Präzedenzfall geschaffen wurde?

Reinhard Schroeter
1 Jahr her

Mehr als Kreide wird man in Kiew nicht gefressen haben. Meinte man es denn ehrlich , würde man das unsägliche Sprachgesetz, welches sich in erster Line gegen die russische Minderheit in der Ukraine richtet, aber eben auch gegen die ungarische, sofort aufheben. Man tut es nicht. Frau Novak fühlt sich als Staatpäsidentin auch den in der Ukraine lebenden Ungarn verpflichtet und versucht mit Klugheit, Charme und Geschick deren Lebenumstände zu verbessern. Einer eleganten, gutaussehendem und ausserhewöhnlich klugen Frau , mit den gewohnten Grob-und Unflätigkeiten zu begegnen, wird man sich in Kiew ihr persönlich gegenúber nicht gewagt haben. Es kann aber… Mehr