Einladung an „Kriegsverbrecher” Netanyahu: Wie Orbán ICC und EU vorführt

Kaum hatte der Internationale Strafgerichtshof (ICC) einen Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsidenten Netanyahu erlassen, schon lud Viktor Orbán ihn nach Ungarn ein. Ein genialer Streich.

IMAGO
Viktor Orban und Benjamin Netanyahu am 19. Juli 2018 in Jerusalem

„Zynisch” nannte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC), einen Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant auszustellen. Der Gerichtshof mische sich „aus politischen Gründen in einen laufenden Konflikt ein”, sagte Orbán in seinem wöchentlichen Radiointerview am Freitag. Ungarn habe daher keine andere Wahl, als sich dem entgegenzustellen: Die Regierung werde den Haftbefehl nicht implementieren.

Um das so richtig deutlich zu machen, lud Orbán Netanjahu gleich nach Ungarn ein. Er garantiere seine Sicherheit während des Aufenthalts.

🎙️ Speaking on Kossuth Radio’s "Good Morning, Hungary!" program, PM Orbán called the ICC’s arrest warrant against Netanyahu a "brazen and cynical" decision.

⚖️ "This is interference in a conflict… pic.twitter.com/BqCRW1lho4

— Zoltan Kovacs (@zoltanspox) November 22, 2024

Netanjahu zeigte sich erfreut. Über die israelische Botschaft – auf Anfrage des Nachrichtenportals telex.hu – ließ er mitteilen, Ungarn stelle sich mit dieser Entscheidung „auf die richtige Seite der Geschichte” und unterstütze damit „das Recht demokratischer Staaten, sich gegen Terror zur Wehr zu setzen”. Nach Angaben der Botschaft will Netanjahu der Einladung bald Folge leisten.

Politisch ist es ein typischer Paukenschlag Marke Orbán: Mit einer einfachen, provokanten Entscheidung beherrscht er einmal wieder die Schlagzeilen, und macht etwas sichtbar, was seit Jahren spürbar ist: Den Sinn- und Bedeutungsverlust internationaler Organisationen, die den Wesenskern der westlichen „regelbasierten Weltordnung” ausmachen. Denn was passiert, wenn Ungarn, immerhin ein Mitglied des ICC, dessen Weisungen nicht umsetzt? Nichts. Ein Bericht dürfte verfasst werden. Vor kurzem war Russlands Präsident Putin, gegen den ebenfalls ein ICC-Haftbefehl in Kraft ist, zu Besuch in der Mongolei. Nichts geschah.

Der ICC, dessen meiste Richter aus nicht-westlichen Ländern stammen, muss sich schon länger Ideologie-Vorwürfe gefallen lassen. Die Anklage gegen Netanjahu („Verbrechen gegen die Menschlichkeit”) kann auch als juristischer Vorstoß gegen die „westliche Weltordnung” gewertet werden: Eine Verurteilung Israels ist auch eine Verurteilung des wichtigsten geopolitischen Bündnispartners des Westens im Nahen Osten.

Spannend und politisch brisant ist ein anderer Aspekt: Josep Borrell, der „Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik”, war ebenso schnell am Ball und erklärte bereits am Donnerstag, der Haftbefehl gegen Netanjahu sei „bindend für alle 27 EU-Mitglieder”. Da nur individuelle Staaten, nicht aber die EU dem ICC angehören, mag dieses Vorpreschen verwundern, allerdings gibt es seit 2011 eine „gemeinsame Position” der EU zum ICC, unterschrieben auch von Ungarn, in der eine größtmögliche Unterstützung der EU und ihrer Mitglieder für den ICC festgeschrieben ist.

Daraus ergibt sich potenzielles Ungemach für Ungarn: Die EU-Vereinbarungen zum ICC (es gibt davon eine Menge) gehören zum gemeinsamen „Aquis” der EU-Regeln, die für alle Mitglieder gelten. Ohne weiteres kann man sich vorstellen, dass im Falle eines problemlosen Netanjahu-Besuchs in Ungarn die EU-Institutionen daraus einen weiteren juristischen Strick für Orbán zu knüpfen versuchen.

Nebenbei gesagt: Die Auslieferung oder Nichtauslieferung von Tatverdächtigen an den ICC ist oft an politische Opportunität gebunden. 2001 lieferte Serbien den gestürzten Diktator Milosevic aus, weil es der Reform-Regierung unter Zoran Đinđić nutzte, und Milliarden-Hilfen der EU davon abhingen.

Auch die öffentliche Demütigung des ICC durch Orbán ist politisch motiviert. Zwar liegt auch gegen Putin ein Haftbefehl vor, aber das bewog Orbán nicht, ihn demonstrativ einzuladen. Im Falle Netanjahus aber lockt großer politischer Nutzen.
Im Idealfall wird daraus nämlich ein weiterer Streit zwischen der EU und Ungarn, diesmal aber so, dass die EU es sich gefallen lassen muss, dafür kritisiert zu werden, dass sie inzwischen Positionen vertritt, die ihrer wachsenden muslimischen Bevölkerung zu gefallen vermögen, aber – oder vielmehr, weil – diese Positionen antisemitische Konnotationen in sich tragen. Ungarn, von der West-EU so gern und so oft des Antisemitismus bezichtigt, stünde als einziger Verfechter Israels in Europa da.

Das würde auch im kommenden Wahlkampf (2025/6) gut aussehen.

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