Türkei: Erdoğan gewinnt weitere fünf Jahre – Angriffe auf Oppositionelle?

Der Wahlsonntag in der Türkei brachte ähnliche Ergebnisse wie die erste Runde vor 14 Tagen. Wo Russland über die „Kontinuität“ jubelt, glaubt Olaf Scholz an frischen Wind zwischen Ankara und Berlin. Bei Erdoğan weiß man noch nicht, wie lange er das Land regieren will.

IMAGO / ITAR-TASS
Der wiedergewählte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nach seiner Rede vor dem Präsidentenpalast, Ankara, Türkei, 29. Mai 2023

Nach Auszählung von über 99 Prozent der Stimmen lag der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) bei 52 Prozent und sein Herausforderer Kılıçdaroğlu bei knapp 48 Prozent. Der Abstand zwischen den beiden ist also seit der ersten Runde etwas kleiner geworden. Vor zwei Wochen hatten noch knapp fünf Prozentpunkte die beiden Kandidaten getrennt, jetzt nur noch vier. Die Unterstützung des Nationalpopulisten Sinan Oğan hat Erdoğan also nicht unbedingt etwas genutzt. Die verzeichnete Wahlbeteiligung lag mit 85 Prozent wiederum sehr hoch (erste Runde: 87 Prozent). Angeblich soll es vereinzelt zu Angriffen auf Wahlhelfer gekommen sein, wie dpa mit Verweis auf CHP-Politiker berichtet.

Am Abend erklärte sich Erdoğan zum Sieger der Wahl: „Unsere Nation hat uns für weitere fünf Jahre die Verantwortung übertragen, dieses Land zu regieren.“ Dabei stand er auf dem Dach eines Wahlkampfbusses im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, sang zunächst ein Wahlkampflied. Ein offenbar mobilisierendes Thema vergaß er nicht zu erwähnen: „Kann LGBT die AKP oder unser Parteienbündnis infiltrieren? Die Familie ist uns heilig.“

"We will not let the #LGBT forces win!" pic.twitter.com/FEHMbxO2CS

— Freedom Truth Honor ?? (@FreedomHonor666) May 28, 2023

Später folgte ein noch gewichtigerer Satz: „Wir werden bis zum Grab zusammen sein.“ Erdoğan sagte das nicht zum ersten Mal. Seine Aussage kann nur bedeuten, dass er dem türkischen Staat bis zu seinem Tod dienen will. Da es verfassungsgemäß die letzte Wahlperiode Erdoğans wäre, stellen sich Fragen: Kann man gar einen Hinweis auf ein gesundheitliches Leiden aus dem Satz entnehmen? Gerüchteweise war Erdoğan teils ziemlich krank in der letzten Zeit. Im Wahlkampf hatte er zeitweise pausieren müssen – angeblich wegen einer Magen-Darm-Entzündung, wie sein Gesundheitsminister (offenbar so eine Art Mini-Wesir des Mini-Sultans) der Öffentlichkeit mitteilte. Später versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Präsidentenpalast.

Der Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) gab in Ankara indirekt zu, verloren zu haben: „Ich bin zutiefst traurig angesichts der Schwierigkeiten, die das Land erwarten.“ Diese seien „weitaus größer“ als bis dato, hängte er prophetisch an. In einer Rede am späteren Abend zog er die Bilanz seiner Kandidatur: „Ich konnte nicht leise bleiben. Ich konnte nicht zulassen, dass Millionen von Flüchtlingen kommen und euch zu Bürgern zweiter Klasse machen. Ich konnte nicht zulassen, dass mein Volk ärmer wird, während alles jeden Tag teuer wurde.“

Teils ätzende Kritik aus dem Oppositionsbündnis

Erdoğan erwarten in der Tat einige Probleme: Die Inflation ist zwar zwischenzeitig zurückgegangen, liegt aber noch immer bei 43 Prozent. Der IWF hat seine Wachstumsprognose für dieses Jahr auf 2,7 Prozent gesenkt. Der Aufbau der betroffenen Regionen nach dem schweren Erdbeben wird weitere Ressourcen verzehren. Daneben müsste Erdoğan auf einen grünen Zweig mit dem syrischen Präsidenten Assad kommen, um mehr syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken.

Auf der anderen Seite gab er sich heikel, wo es um die Nato-Mitgliedschaft Schwedens geht. Geostrategisch ist er sonst gut im Dreieck Westen – Russland – China aufgestellt. Aber für die Wirtschaft des Landes funktionieren die „Erdonomics“ nur noch sehr bedingt. Für die EU-Bürger und die Deutschen ist sein flottes Händchen für Einreisen aus der islamischen Welt problematisch.

Die Vorsitzende der konservativen İyi-Partei Meral Akşener, die dem Oppositionsbündnis angehört, äußerte sich laut der Tageszeitung Cumhuriyet verhalten: „Möge Allah mit jedem unserer Bürger zufrieden sein. In unserem Land regiert seit langem ein Wahlprogramm, das die Gesellschaft sehr erschöpft hat. Niemand sollte sich wundern, dass wir die uns von unserer Nation übertragene Oppositionsaufgabe mit der gleichen Ernsthaftigkeit erfüllen werden.“

Ein Toter in Ordu?

Auch Selahattin Demirtaş, der ohne klaren Grund in Haft sitzende Ko-Vorsitzende der kurdenfreundlichen HDP, dankte allen Wählern, kritisierte die Umstände der Wahl dann aber scharf: „In Wirklichkeit war es keine Wahl, sondern eine große Operation. Der Wahlprozess war voll von Ungleichheiten, Unterdrückung, unglaublichen Lügen und Verleumdungen.“ Der gesamte Prozess sei manipuliert worden. „Wir sind nicht besiegt“, sagte er aus Sicht der gesamten Opposition.

Wie der Merkur berichtet, soll ein Wahlbeobachter und Mitglied der İyi-Partei in Ordu an der Schwarzmeerküste auf einer Feier von AKP-Anhängern erstochen worden sein. Das verbreitet neben anderen Twitter-Profilen der Vizechef der konservativ-säkularen Demokrat Parti, Cemal Enginyurt. Andere Medien haben noch nicht davon berichtet.

Der AKP-Vorsitzende Binali Yıldırım sprach den Wahlverlierer Kılıçdaroğlu direkt an und sagte in einem Video auf Twitter: „Herr Kemal, wir haben wieder einmal gewonnen PUNKT“. Internationale Beobachter hatten nach der ersten Runde bemängelt, dass die Regierung zu viel Einfluss auf die Medien des Landes besitze und die Abstimmung nicht transparent verlaufen sei.

Auch im Kosovo und in der Jerusalemer Al-Aqsa-Moschee wurde der Sieg Erdogans gefeiert – ebenso wie in der Hagia Sophia.

Putin lobt die „blockfreie Außenpolitik“ – Scholz spürt „frischen Elan“

Zu den ersten, die Erdoğan zum Wahlsieg gratulierten, gehörte der russische Präsident Wladimir Putin: „Der Sieg bei den Wahlen ist eine natürliche Folge Ihrer selbstlosen Arbeit als Präsident der Republik Türkei und ein klares Zeichen der Unterstützung des türkischen Volkes für Ihre Bemühungen, die staatliche Souveränität zu stärken und eine unabhängige, blockfreie Außenpolitik zu verfolgen.“

Der Vizepräsident des Föderationsrates, Konstantin Kossatschow, schrieb laut Cumhuriyet auf seinem Telegram-Kanal, die türkischen Wähler hätten sich für Kontinuität und gegen Unberechenbarkeit entschieden, und das „mit einer ziemlich selbstbewussten Mehrheit und, was noch wichtiger ist, einer hohen Wahlbeteiligung“. Das Wort des Tages sei Kontinuität.

Emmanuel Macron tweetete seine Botschaft an Erdoğan auf Französisch und Türkisch und erntete einigen Spott, weil die Qualität der Übersetzung offenbar zu wünschen ließ. Auffallend ist, dass Macron in seinem französischen Tweet von „unserer euro-atlantischen Allianz“ spricht, während der türkische Ausdruck eher „europäisch-mittelmeerische Allianz“ bedeutet – eventuell ist das aber aus Pariser Sicht irgendwie das Gleiche, und die Nato soll für Macron vielleicht einem Bündnis von Europäern und Mittelmeerländern Platz machen: „Frankreich und die Türkei haben gemeinsam große Herausforderungen zu bewältigen. Die Rückkehr des Friedens nach Europa, die Zukunft unseres euro-atlantischen [oder euro-mediterranen] Bündnisses, das Mittelmeer. Gemeinsam mit Präsident Erdoğan, dem ich zu seiner Wiederwahl gratuliere, werden wir weiter voranschreiten.“

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sprach von einem „unzweifelhaften Wahlsieg“ und wünschte dem neuen wie alten Präsidenten Glück.

Bundeskanzler Olaf Scholz sieht Deutschland und die Türkei durch die Nato und bilaterale Abkommen, aber auch „gesellschaftlich und wirtschaftlich stark miteinander verbunden“ und will nun die „gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben“. Da hat einer noch etwas vor. Sind etwa schon neue Deals und Abkommen in Vorbereitung?

Özdemir will über Erdogan-Wähler sprechen

In türkischen, aber auch deutschen Städten füllten am Sonntagabend erneut mit türkischen Fahnen geschmückte Autokorsos die Straßen, machten teils mit Hupsignalen auf sich aufmerksam. Am Berliner Kurfürstendamm kamen laut Polizei mehrere hundert Personen mit Autos zusammen und bildeten eine Spontanversammlung. Dabei war das Wahlergebnis im ersten Wahlgang in Berlin fast ausgeglichen gewesen: Erdoğan erhielt in der deutschen Hauptstadt laut ntv 49,2 Prozent, Kılıçdaroğlu 48,8 Prozent. In Essen führte Erdoğan am deutlichsten mit 77,6 Prozent, in vielen Städten lag er ebenfalls bei 60 und mehr Prozent. Die Deutschtürken machen 2,3 Prozent der Wahlberechtigten aus.

Häufig erregen die Versammlungen der AKP-Fans Unmut, etwa wenn zugleich Pyrotechnik zum Einsatz kommt. In Duisburg-Hamborn herrschte laut der Polizei „eine gewisse freudige Aufgeregtheit“ – die sich offenbar auch in Allahu-akbar-Rufen Bahn bricht.

In Wien fiel Beobachtern der verbotene „Wolfsgruß“ türkischer Rechtsextremisten auf.

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir erklärte in einem Tweet, dass „Anhänger von Erdogan“ in Deutschland feiern, „ohne für die Folgen ihrer Wahl einstehen zu müssen“. Ausbaden müssten das viele Menschen in der Türkei „durch Armut & Unfreiheit“, sie seien „zurecht wütend“: „Darüber wird zu reden sein!“ Es ist immer höchst seltsam, wenn sich Politiker dieser Regierung (mit Vorliebe solche von den Grünen) zu Bewertern von Dingen aufschwingen, die nun einmal so geregelt sind: Auslandstürken dürfen nun einmal über den türkischen Präsidenten abstimmen, zumal wenn man sie nicht zu einer Entscheidung zwischen dem deutschen und dem türkischen Pass zwingt. Wenn man es anders haben wollte, müsste man zumindest andere Anreize setzen. Aber dazu verstehen sich die Grünen nicht, denn das wäre das Ende des Moralisierens als Selbstzweck.

AKP-Umzüge und der Karneval der Kulturen

Auch in den sozialen Medien war viel Mokieren angesichts des Bildungsniveaus, das die Erdoğan-Anhänger ausstellen – allein schon dadurch, dass sie so übermäßig starken Anteil an einer politischen Entscheidung nehmen, die sie in ihrem alltäglichen Leben gar nicht betrifft. Das ließ viele ratlos zurück.

Während man auf dem Kreuzberger „Karneval der Kulturen“ eine „post-migrantische Tradition“ feiert, setzen die türkischen Immigranten und ihre Nachfahren die „migrantische Tradition“ offenbar fort.

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