Millionen protestieren gegen Erdogan

Wer gewinnt in der Türkei? Hat die Opposition eine Chance, sich auch bei Wahlen durchzusetzen, oder bleibt am Ende Erdogan der Meister in Ankara? Die großen Demonstrationen in mehreren Städten am Samstag lassen durchaus Neues erwarten – in der einen oder anderen Richtung.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Francisco Seco

Einen Wächterrat wie im Iran der Mullahs gibt es noch nicht in der Türkei von Recep Tayyip Erdogan. Aber das derzeit gewählte Verfahren steht sozusagen einen Schritt davor. Vier Tage nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu erfuhr die Öffentlichkeit von einer eröffneten Untersuchung wegen Bestechung gegen den Politiker. Seit dieser Nachricht sitzt Imamoglu auch offiziell in Untersuchungshaft. Neben ihm betreffen die Ermittlungen 100 weitere Personen. Dass die alle in Haft sitzen, darf bezweifelt werden.

Gegen Imamoglu wird derweil auch wegen „terrorbezogener“ Vorwürfe ermittelt. Gemeint sind damit vermeintliche Kontakte zur kurdischen PKK. Zugleich wurde dem CHP-Politiker – einen Tag vor der Festnahme – sein Universitätsabschluss aberkannt. Inzwischen wurde auch sein Anwalt, Mehmet Pehlivan, festgenommen, ebenfalls mit fabrizierten Vorwürfen, wie kritische Beobachter meinen. Das sind sämtlich Zeichen dafür, dass Erdogan bei kommenden Wahlen gerne einen Konkurrenten weniger hätte. Im Iran prüft der zwölfköpfige Wächterrat, welche Kandidaten bei Wahlen zulässig sein sollen. In der Türkei entscheidet eventuell sogar Erdogan allein.

Schon seit 2016 ist der kurdische Politiker Selahattin Demirtas inhaftiert. Beobachter sehen ein gezieltes Vorgehen zur Beeinflussung von Wahlen. Dass die Türkei kein Rechtsstaat ist, war schon vorher durch die anlasslose Inhaftierung von Journalisten klar geworden. Erdogan hatte ein Jahrzehnt Zeit, um die Justiz des Landes in seinem Sinne umzuformen. Das vermutete Endziel könnte eine islamische, autoritär regierte Türkei ohne störende Interventionen des Parlaments sein. Aber hat ihn die Festnahme Imamoglus diesem Ziel nun näher gebracht oder nicht?

Was Imamoglu angeht, muss man sagen, dass Erdogan sich früh an die Arbeit gemacht hat: Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden planmäßig erst im Mai 2028 statt. Bis dahin wird viel Zeit sein, damit Gras über die aktuellen Proteste wächst, die immerhin Hunderttausende nicht nur auf die Straßen Istanbuls bringen, sondern auch in kleineren Städten wie Konya im Zentrum des Landes und sogar in Erdogans heimatlichem Rize am Schwarzen Meer. Optimisten sprechen von bis zu zwei Millionen Demonstranten landesweit, die am Samstag auf die Straßen des Landes gingen. Der Literat Orhan Pamuk meint gar, die „begrenzte Form der Demokratie in der Türkei“ neige sich damit ihrem Ende zu.

Eine durchaus breitere Demokratie-Bewegung zeigt sich so. Aber bisher war nicht an eine Durchsetzung bei Wahlen zu denken, ob das nun an den Zahlen liegt – die Bevölkerung abseits der großen Städte dürfte dann doch zu Erdogan stehen – oder an den ‚Kontrollmechanismen‘, die Erdogan auch im Wahlablauf selbst zu etablieren weiß. Erdogan regiert die Türkei seit dem 28. August 2014 ungestört.

Könnten die Vorwürfe stimmen?

Zudem meint sogar eine überaus Erdogan-kritische Seite wie Nordic Monitor, dass einige der Korruptionsvorwürfe, die nun gegen Imamoglu und andere erhoben werden, wahr sein könnten. Die Korruption sei eben auch in der Türkei ein zu verbreitetes Phänomen, als dass sie nicht auch den einflussreichen Oberbürgermeister betreffen könnte. Trotzdem sei die Festnahme wegen solch einer Ermittlung verfrüht erfolgt – also mit Fleiß vorangetrieben worden. Imamoglu verkündete derweil aus seiner Zelle heraus: „Ich werde mich nie beugen, alles wird gut.“

Leider sei es auch höchst wahrscheinlich, dass Imamoglu verurteilt werde. Er wäre nicht die erste politische Figur, die vom Erdogan-Regime ausgeschaltet wurde. Laut Nordic Monitor ist es heute praktisch unmöglich geworden, eine funktionierende Opposition gegen die Regierungspartei AKP aufzubauen. Zu sehr hat sich die Macht Erdogans durch das System gefressen. So stünden insbesondere die großen Medien unter der Kuratel der Regierung. Abweichende Medien wurden geschlossen, während ihre Journalisten das Land verließen. Die Zerschlagung der Gülen-Bewegung nach dem möglichen Putschversuch von 2016 zerlegte auch diesen Teil der Opposition, der selbst nicht weniger islamisch orientiert ist als die AKP, weitgehend.

Nun ist gar von einer Sonderverwaltung für Istanbul die Rede, so wie sie seit langem für viele kurdische Ortschaften existiert. Aber vielleicht wird das nicht nötig sein. Wenn die Massen auf die Straßen strömen, dann hat auch Erdogan staatliche Sicherheitskräfte zur Verfügung, um solche Proteste zu unterdrücken und zu untergraben. Daneben gibt es da noch die inoffiziellen Kampftruppen des politischen Islams, die sich schon wegen beschädigter Moscheen und Friedhöfe ereiferten und zur Gegenwehr gegen die Anti-Erdogan-Proteste aufriefen.

Erdogan, frohgemut zwischen USA und Russland segelnd

Nun schlägt sich die sozialdemokratisch-kemalistische CHP derzeit nicht schlecht in Umfragen, liegt praktisch gleichauf mit der AKP bei um die 30 Prozent. Laut einer anderen Umfrage unterstützt eine Mehrheit der Türken die aktuellen Proteste gegen Erdogan. Aber wie weit sich das in einen Wahlsieg materialisieren kann, das bleibt unklar. Es bleibt trotz der vielen Bilder vom Protest bei einem Kontrast zwischen Stadt und Land, selbst wenn es dabei um eine 16-Millionen-Stadt wie die am Bosporus geht.

Ganz aus blieben die internationalen Reaktionen zu den Geschehnissen, und zwar sowohl aus den USA als auch aus der direkt benachbarten EU. Die EU verfolgt die Festnahme wie die Proteste weitgehend gelähmt und stumm. Man ist sich wohl klar, dass man eines gerade gar nicht braucht: Ärger mit Erdogan. Das ist eigentlich immer so, schon wegen der Migranten, nun auch noch wegen des Militärs. Daneben scheint unausgesprochen klar, dass die Türkei einer anderen Region angehört, in der sozusagen andere Gesetze gelten. Auf Deutsch gesagt: Man hat nichts anderes erwartet.

Aber eigentlich könnte (müsste) die EU auch etwas erwarten von einem Land, dem sie nicht nur Milliarden Euro für die Abwehr der illegalen Zuwanderung zuschiebt, sondern auch schon Milliarden Euro zahlte, um den einstweilen abgesagten EU-Beitritt der Türkei vorzubereiten. Aber von Kallas, Costa und von der Leyen ist in dieser Sache wohl am wenigsten zu erwarten. Zu verflochten ist man schon mit dem Potentaten vom Bosporus. Auch von außen kommen also nur stabilisierende Zeichen auf Erdogan zu. Doch die Frage bleibt, ob er den Bogen auch überspannen kann oder weitermachen kann wie ein karibischer Diktator, der frohgemut zwischen den Blöcken segelt, dabei mal mit dem einen (USA), mal mit dem anderen (Russland) anbandelt und Geschäfte treibt.

Pikachu wird zum Symbol des Protests

Pikachu trotzt Erdogans Ordnungsmacht: In der Türkei ist das knallgelbe Kult-Pokémon zur Protest-Ikone geworden. Ein Video, das viral ging, zeigt einen Demonstranten im aufblasbaren Pikachu-Kostüm, wie er mit tapsigen Minischritten der Polizei entkommt – aufgenommen wurde die Szene offenbar in Antalya.

Nutzer generierten daraufhin zahllose KI-Bilder:

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Kommentare ( 16 )

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Petra Horn
14 Tage her

Wenn die Haupt-, Leit-, Altmedien oder wie auch immer man sie nennt, eine (versuchte) Revolution bejubeln oder einen Machtwechsel wie in Syrien bejubeln, dann ist er von diversen einflußreichen Kreisen, zu denen insbesondere sog. NGOs und diverse Komplexe industrieller, medialer, militärischer oder sonstiger Art, geplant und gesteuert. Also sollte man sehr kritisch auf die Akteure schauen. Im anderen Fall, wie in Rumänien und Frankreich haben bestimmt wieder die teuflischbösen Russen ihre Hand im Spiel. Dabei fällt auf, daß die Chinesen nie als böse Strippenzieher genannt werden, egal welche weltpolitisch bedeutenden Geschäfte sie betreiben und auch wenn sie mit Rußland zusammenarbeiten… Mehr

Deutscher
15 Tage her

Die Resultate des „Arabischen Frühlings“ lassen mich skeptisch auf die Ereignisse blicken. Man hat damals, wie auch zuletzt in Syrien und Jahrzehnte zuvor im Iran, stets auf das falsche Pferd gesetzt.

Der Orient ist nicht Europa und ich warne davor, unseren Freiheitsbegriff und „1989“ auf dort zu projizieren. Wer da wirklich den Aufstand probt und warum, das merkt man erst, wenn die sich durchgesetzt haben. Dann kommt womöglich wieder mal die Zeit, wo es wie Schuppen von manchem Auge fällt.

Last edited 15 Tage her by Deutscher
elly
15 Tage her

wieviele und welche NGOs haben bei den Demonstrationen ihre Finger mit im Spiel?

Nibelung
15 Tage her

Zur Zeit bewegt er sich auf Glatteis, denn es sind nicht nur seine Widersacher allein, sondern die Bewegung wird auch von außen mit unterstützt und das bedeuted viel taktisches Geschick, denn Kohl sagte einmal, Hosianna und kreuziget ihn liegen dicht beieinander und das könnte geschehen, wenn eine unbedachte Handlung zu diesem Albtraum führen könnte.

Sonny
16 Tage her

Man hätte Erdogan niemals aus dem Knast herauslassen dürfen.
Der ist durch und durch ein Diktator.

Fatmah
16 Tage her

Die deutschen „Leitmedien“ bejubeln unreflektiert den Aufstand gegen Erdogan Aber wehe du gehst hierzulande gegen die Regierung auf die Straße, dann bist du ein Nazi

Mausi
16 Tage her

„Aber eigentlich könnte (müsste) die EU auch etwas erwarten von einem Land“: So sieht die höchstrichterliche Verteidigung im Namen des westlicher Werte eben aus: In Polen, Rumänien, Frankreich und der Türkei. Wieso die Türkei aber der EU näher steht, als dem Iran? Gehört der Islam offiziell auch zur EU oder bisher nur zu D?

Last edited 16 Tage her by Mausi
Apfelmann
16 Tage her

Erdogan will das Land zurück ins Mittelalter führen. Anders als in Deutschland lassen sich die Menschen das nicht gefallen und gehen auf die Straße! Richtig so!

pcn
16 Tage her

Die Türken haben verstanden.
Die Deutschen nicht.

Meine Hochachtung!

Raul Gutmann
16 Tage her

Millionen protestieren gegen Erdogan

Warum demonstrieren sie? Möglicherweise weil Erdoğan ein autoritäres System errichtete.
Vielleicht besteht der Unterschied zwischen der Türkei und ’schland auch darin, daß den Menschen hierzulande der Mut fehlt, auf die Straße gehen und die hiesige Repression medial flankiert wird.

hoho
16 Tage her
Antworten an  Raul Gutmann

Ich bin sicher Erdogan hat auch eigene Zensur und auch Propaganda. Die Leute in der Türkei sind jünger und wer weiß auch wer das alles anstiftet. Es gab ja so viele von draußen geholfene Revolutionen und Erdo ist nicht gerade im Westen beliebt.

Mausi
16 Tage her
Antworten an  Raul Gutmann

Wird Herr Erdogan von den türkischen Medien nicht flankiert?

Deutscher
15 Tage her
Antworten an  Raul Gutmann

Oha, woher wollen Sie denn wissen, ob diese Aufbegehrer nicht genau so repressiv werden, wenn sie an die Macht kommen? Noch nichts gelernt, aus dem „Arabischen Frühling“?