Die Lage in Großbritannien ist eine trickreiche, auf allen Seiten von Kniffen geprägte.
Es war ein Tag der Verluste. Am 3. September 2019 verlor Boris Johnson nicht nur eine wichtige Abstimmung, die den Weg zu einem No-Deal-Verhinderungsgesetz ebnete, sondern auch seine parlamentarische Mehrheit durch einen Austritt und zahlreiche Ausschlüsse. Die französische Libération verbreitet bereits düstere Zukunftsaussichten: Der letzte Premierminister, der seine allererste Abstimmung verlor, habe sich nur ein Jahr in No. 10 halten können. Es war das Jahr 1894.
Johnson musste die Rebellen ausschließen, doch auch der Rest seiner Partei wird dadurch tief gespalten; zu lange hatte man mit den Neo-Rebellen zusammengearbeitet. Der Premier antwortet darauf mit einer Charme-Offensive der persönlichen Art. Doch auf längere Sicht, so scheint es, wird der starke Mann der britischen Konservativen dem sich ergebenden Engpass nur durch eine entschiedene Vorwärts-Aktion entkommen können. So beginnen denn auch die konservativeren Blätter der Insel bereits damit, Jeremy Corbyn mit glühenden Zangen zu foltern und ihm Feigheit vor dem Feind – ja, vor dem Volk und seinem Votum – zu unterstellen. Neuwahlen hatte der Arbeiter- und Oppositionsführer zuvor an die Annahme jenes No-Deal-Verhinderungsgesetzes durch beide Parlamentskammern wie auch die Königin geknüpft. Johnson nennt den Entwurf einen »surrender bill«, eine Kapitulation in Gesetzesform, die – wie jeder wissen kann – auch logisch eine Absurdität darstellt. Denn ein No-Deal-Brexit wäre lediglich die Folge jener Übereinkunft von Ereignissen, die einen Vertragsabschluss bis zum 31. Oktober verhindern, ja vielleicht unmöglich machen könnten und dabei weder allein in der Hand der britischen Regierung noch in denen der Europäischen Union liegen.
Die Lage in Großbritannien ist mithin eine trickreiche, auf allen Seiten von Kniffen geprägte. Der Beginn von Johnsons Amtsperiode gleicht dem Tanz auf einem Nagelbrett. Reißzwecken allerorten, »freundliche« wie »unfreundliche«. Alte Fahrensleute wie junge Heißsporne kündigen die Gefolgschaft auf. Nach der Rede des Remainers Kenneth Clarke – einst Finanzminister unter John Major, doch auch er im Zuge der jüngsten Abstimmung aus der konservativen Fraktion ausgeschlossen – nimmt der Leader of the House, Jacob Rees-Mogg, demonstrativ jene halbruhende Position auf der Regierungsbank ein, die einst schon auf der Hinterbank ein berühmtes mediales Bild erzeugt hatte. Ruhe, Britannia, ruhe wohl!
Von anderer Seite werden nun »gloom and doom«, die Johnson unlängst in den Gemütern der Remainer ausmachte, über dem Premierminister selbst ausgeschüttet. Da sind eben die Tory-Hinterbänkler, die teils direkt von der Ministerbank zur Rebellion gewechselt sind und nun einen No-Deal um jeden Preis verhindern wollen. In ihre Schlachtlinien reiht sich auch der Labour-Führer Corbyn ein, obwohl das innere Spaltpotential seiner Partei nicht zu unterschätzen ist. Für den Moment wird es wohl halten; zu groß ist die Versuchung, dem neu erwählten ›Brexit-Extremisten‹ eine beißende Niederlage im Unterhaus zu bereiten.
Insgesamt ist Johnsons Lage interessant, insofern er ähnlich wie Theresa May einen Kompromiss mit Brüssel anstrebt – jedoch auf gänzlich anderem Wege. Wo May die dauerhafte wirtschaftliche Fesselung Londons an den Kontinent und seine exklusive Freihandelszone schmackhaft schien, hat Johnson die definitive Loslösung im Sinn; wo die Vorgängerin sich in einen potentiell rettungslosen Backstop begab, ist der Amtsinhaber entschlossen, diesen aufzuheben. Er weiß dabei die Befürworter des No-Deals auf seiner Seite. Dies ist seine Wette, in der er zwei Flügel seiner Partei unter einem Vorgehen zu vereinen hofft. Mit der Drohung des harten Bruchs soll ein vertragliches Abkommen erreicht werden.
Beeindruckend ist die stiere Entschlossenheit des Finanzministers Sajid Javid, der sicher ebenso ein »safe pair of hands« darstellt, als welches einst der sture Philip Hammond – nun auch er ein Rebell – angepriesen wurde. Javid hat durch eine mutige Ausgabenpolitik die Versprechen der Brexiteers untermauert, dass das Verlassen der Union die Nation einen könne. Das 3%-Kriterium des Maastricht-Vertrags wird er dabei sogar noch erfüllen, solange er nur zu große Steuererleichterungen vermeidet. Doch auch eine weitergehende Ausgabenpolitik erscheint im Ausnahmefall eines No-Deal-Brexits gerechtfertigt.
Boris Johnson bleibt auch am Folgetag dabei: Er wolle keine Neuwahlen, Corbyn dagegen sehr wohl – nach Ausweis der Website seiner Partei und einer Petition, die dort von 57.000 Unterstützern unterzeichnet worden sei, darunter von »Carol, Nigel, Graham and Phoebe«. Doch vielleicht nicht von Jeremy? Tatsächlich ist es natürlich so herum: Boris Johnson will und braucht die Neuwahlen, möglichst noch im Oktober, um sein zentrales politisches Ziel zu erreichen. Corbyn muss sie fürchten, da mit seinem venezolanischen Programm in Britannien und Nordirland kein Blumentopf zu gewinnen ist; Johnson glaubt indes, auch für seine Brexit-Position im engeren Sinne eine Mehrheit der Briten und Nordiren gewinnen zu können. Die Haltungen, Positionen und Interessen scheinen sich zu kreuzen. Nicht die schlechteste Voraussetzung für eine Klärung der Standpunkte und die Beantwortung einer längst zu entscheidenden Schicksalsfrage für das Vereinigte Königreich.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
„…hatte der Arbeiter- und Oppositionsführer“
Corbyn – ein „Arbeiterführer“ ???
Es sollte verbote werden, Sozialisten als „Arbeiterführer“ zu bezeichnen –
Das einzige, wohin solche Gestalten / Sozialisten Arbeiter Führen, ist in Armut und Elend!
Spannend ist jetzt allein, ob es zu Neuwahlen vor oder nach dem EU-Council am 17.10.2019 kommen wird. Wird BoJo den Bussgang nach Canossa antreten müssen oder nicht? Wenn er es tut, dann hat er wohl fertig, weil die Brexit Party ihm das nicht verzeihen dürfte. Wenn die Wahl vor dem 17.10. stattfindet, müsste jedoch direkt im Anschluss bei einen Sieg BoJos der Speaker mitspielen und ein Gesetz zur Aufhebung der gerade im Beschluss befindlichen „surrender bill“ gestatten. Alles nicht ganz einfach ohne schriftlich festgelegte Regeln und viel Auslegungsspielraum auf beiden Seiten.
Der Streit zwischen GB und der EU macht sich fest an dem sog. Backstop, also der gegenüber May durchgesetzten Regelung, dass Nordirland im EU-Raum bleibt und dass GB keine eigenen Handelsverträge abschliessen darf ohne Billigung der EU. Damit wäre GB nicht souverän, sondern ad infinitum von der EU abhängig. Es wird unterstellt, dass bei einem No-Deal-Austritt GB an der Grenze zwischen Nordirland und Irland Kontrollen einführen wolle und damit menschliche und wirtschaftliche Barrieren aufbauen würde. Das ist eine Verdrehung der Situation. Im Gegenteil: Die EU will an ihrer Aussengrenze Güterströme kontrollieren, um Zoll zu erheben und Importrestriktionen durchsetzen zu können.… Mehr
Urheber des immer absurderen Theaters ist letztlich die EU Bürokratie, die den Brexit um jeden Preis verhindern wollte und auch nach dem erfolgreichen Brexit Referedum weiterhin verhindern will. Anerkennung demokratischer Entscheidungen, die nicht in ihrem Sinn sind, ist den EU Bürokraten fremd. So hatte man unter Theresa May den “ deal “ so gestaltet, daß er für die Brexit Befürworter unannehmbar war. Junker “ Wenn es ernst wird, muß man lügen „. Nachträglich bestätigt die EU Bürokratie so die Brexit Befürworter und vielleicht auch ehemalige Brexit Gegner. Darauf sollte Johnson die Briten hinweisen.
Allerdings muss man sagen ….nicht Großbritannien hat auf der Siegerseite gestanden, sondern der Adel (egal ob „Blut-“ oder jetzt „Finanzadel) in Großbritannien hat sich auf der Siegerseite gehalten. Alle, egal ob sie gebürtige Engländer, Amerikaner, Deutsche, Rußen oder egal wo her sie auch kommen…..den Globalismus mit all seinen Abarten verteidigen nur die Eliten, vornehmlich mit viel Geld ausgestattet und wenn man sich die Verknüpfungen so ansieht, wer mit wem gegen wen oder was ist und wie und wo der/die vorher war oder für wen der/die vorher gearbeitet haben, dann weiß man auch, woher der Wind weht. Dem ganzen stehen jetzt… Mehr
Mein alter (hervorragender) Professor an der Uni hat uns damals eingebläut, dass eine gute Analyse niemals nur aus einer zusammenhanglosen Aneinanderreihung von Fakten bestehen kann. Denn sonst findet der Autor (und seine Leser) lediglich heraus, dass die Welt kompliziert ist. Ein bischen mehr „guidance and conclusion“ hätten sie uns Lesern in diesem Sinne schon geben können, lieber Herr Nikolaidis.
die haben doch schon mal abgestimmt?
weiter so bis es „scho basst“?
immerhin besser als in D:
Wahlen können ausgehen
wie sie wollen: „weiter so“
und komisch das Parlament bei uns
führt keine Debatten bei Schicksalsfragen
von Nation und Volk (jawoll)
wie weiland bei den Ostverträgen.
Müdes abgeschlafftes Land.
Beine breit, komme, was wolle!
Labour scheint hin und hergerissen von zwei Dingen: Erstens der intellektuellen Unfähigkeit, Johnsons Schachzug, mit der er die EU in Zugzwang bringt, zu begreifen, und zweitens, von ihrer Gier, an die Macht zu kommen, in dem man den gehassten Konkurrenten Johnson demontiert. Johnson hat noch zwei Optionen: Erstens könnte das Oberhaus das im Unterhaus eingebrachte Gesetz zum Verbot des No-Deal-Brexit noch ablehnen. Das ist zwar nicht sehr wahrscheinlich aber möglich. Zweitens könnte Johnson gegen sich selbst einen Misstrauensantrag stellen (hier in Deutschland sagt man dazu Vertrauensfrage). Verliert er die Abstimmung darüber, und das müsste er eigentlich, wenn man seine vielen… Mehr
Nun gut, inzwischen wissen wir mehr. Am Sonntag Abend wird der „surrender-bill“ auch durchs Oberhaus gebracht sein. Die Tories kündeten bereits an, am Sonntag im Oberhaus keine „Steine“ – konkret 92 Änderungsanträge – mehr in den Weg legen zu wollen und die Verabschiedung des no-deal-brexit-Verhinderungsgesetzes rasch mitzubeschließen. Das hieße, Johnson könnte am Montag im Unterhaus darauf verweisen, dass das Junktim von Corby für Neuwahlen damit erfüllt sei. Nun dann wird sich herausstellen, ob Corbyns Wort überhaupt etwas wert ist und nicht nur hohles Geschwätz. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit könnte damit Neuwahlen nach 25 Tagen Wartezeit festlegen. Man darf gespannt sein, wie sich… Mehr
Ich blick da langsam nicht mehr durch.
Was und wie wollen die denn da jetzt noch abstimmen?
Es ist der Brexit doch beschlossen!?!
Oder nur ein bischen, oder wie oder was?