Addio, Cavaliere

Kein Nachruf auf Silvio Berlusconi: statt die alten Affären und Skandale auszugraben, wäre es Zeit, die unerzählten Geschichten aus seiner Regierungszeit zu prüfen. Sein vermeintlicher Absturz war eine Demontage von oben.

IMAGO / Independent Photo Agency Int.

Wenn Silvio Berlusconi sterben sollte, dann sollte man wenigstens drei Tage abwarten, ob er nicht doch noch einmal wiederkommt. Der italienische Witz veranschaulicht, dass es im Grunde nur zwei Positionen zum „Cavaliere“ geben kann. Zu seinen Regierungszeiten, insbesondere der Amtsphase von 2001 bis 2006, konnten die Italiener Berlusconi entweder nur lieben und hassen. Ein neutrales oder gar differenziertes Verhältnis brachte einen in Verdacht, der gegnerischen Seite anzugehören. In den Medien hat man dabei die Barrikaden niemals abgebaut.

Die NZZ spricht von einem „großen Verführer“ an dem „alles falsch“ war, von seinen Haaren bis zu seinen Versprechungen. In ein ähnliches Horn stößt die FAZ, die das Wort vom „großen Verführer“ ebenso wiederholt. Anspielungen auf Demagogie, Bunga-Bunga-Parties oder Pseudo-Faschismus lässt das Wortspiel offen. Unnachahmlich wie immer der Spiegel, wenn es um Italienpolitik geht: bereits der Vorspann zu „Er war Italiens gefährlichster Gassenhauer“ kündigt an, Berlusconi hätte das Land „verführt und vergiftet“.

Dabei ist es durchaus bemerkenswert, dass nicht nur die Anführer der Parteien rechts der Mitte, sondern auch Linksliberale wie Matteo Renzi den verstorbenen Cavaliere heute würdigen. Auch Romano Prodi, über viele Jahre sein linker Rivale, hob seine „Führungspersönlichkeit“ und sein „intensives öffentliches Engagement“ hervor. Elly Schlein, die aktuelle Vorsitzende des linken Partito Democratico, betonte zwar alles Trennende zu seiner „politischen Vision“, erklärte aber, es handele sich um einen Protagonisten der italienischen Geschichte, dem Respekt gebühre.

Wie geht das nun zusammen mit der Position vieler Medien, es dürfe im Grunde nur eine einzige Position zu diesem verstorbenen vierfachen Ministerpräsidenten, Großunternehmer und sportlichen Förderer geben?

Das vorweg: es geht nicht darum, Berlusconi zu rechtfertigen. In den letzten drei Jahrzehnten wurde genügend über politische Skandale, Mafia-Verwicklungen, Korruption und Affären geschrieben, als diese ausbreiten zu müssen. Die Richtigstellungen nehmen sich dagegen rar aus. Das Urteil, das gegen Berlusconi im Jahr 2013 gefällt wurde, wird mittlerweile nicht nur von Rechten als politisch motiviert eingestuft. Die „Ruby-Affäre“, die zum Auslöser der berühmten Bunga-Bunga-Parole wurde, endete trotz aller Medienempörung mit Freispruch (was bis heute kaum kommuniziert wird). Konzentrieren wir uns statt der Geschichten, die Sie heute überall lesen, auf die Geschichten, die Sie nirgendwo lesen.

Berlusconis Stilisierung zum Schurken ist genauso interessengeleitet wie die zum Heiligen. Wer Berlusconi Mafia-Connections anlastet, lenkt davon ab, dass nahezu jede italienische Partei mit der Mafia verwickelt ist. Wer ihm Korruption vorwirft, täuscht darüber hinweg, dass Korruption (nicht nur in Italien) systematisch ist. Und wenn Linke ihm Putinaffinität vorwerfen, machen sie die jahrzehntelangen Moskau-Verbindungen der eigenen Partei vergessen. Jeder Fingerzeig auf Berlusconi war und ist immer ein Fingerzeig auf einen selbst. Einige wollten ihn als Messias verkaufen, der das Land rettete; die Gegenseite betrieb die Propaganda, dass alle Probleme Italiens gelöst seien, sobald er nur endlich aus der Politik vertrieben sei.

Die spezielle Kunst der linksaffinen deutschen Presse bestand darin, ihn zu einem italienischen Phänomen zu erklären, obwohl zeitgleich in Deutschland mit Gerhard Schröder ein Bruder im Geiste regierte, nämlich jemand, der Genosse der Bosse war und zugleich mit populistischen Sprüchen punktete. Der Unterschied war, dass Berlusconi an der Seite der Amerikaner in den Irak-Krieg eintrat, während Schröder gegen denselben Krieg agitierte. Die Resultate waren verschieden, die Methoden dieselben. Beide waren keine Kinder von Traurigkeit, beide hatten ihre Frauengeschichten, aber die Parallelen wollte und konnte man nicht sehen.

Dass Berlusconi zugleich zu jenem Typus Entertainer gehörte, der zuvor als Baulöwe Karriere gemacht hatte, erinnert wiederum an das Phänomen Trump. Legendär sind auch Berlusconis Trumpismen, bevor es Trump überhaupt gab: mal war er der Jesus Christus der Politik, dann der beste Regierungschef der letzten 150 Jahre. In diesem Sinne war Berlusconi kein Unikum, sondern ist durchaus als eine Erscheinung in der internationalen Politik zu betrachten, die sich in anderen Ländern wiederholt hat – und nicht nur im rechten Spektrum, wie gerne behauptet wird. Man sollte deswegen auch trotz der häufig genannten Sympathie mit Russlands Staatschef Wladimir Putin nicht vergessen, dass Berlusconi, als Schröder die Allianz Paris-Berlin-Moskau vorantrieb, auf der Seite von George W. Bush stand und eine intensive Nordafrika-Politik betrieb, um die Energieimporte zu diversifizieren.

Die Schaukelpolitik zwischen Moskau und Washington war demnach bereits in den 2000ern einer EU-skeptischen Politik geschuldet, welche die Eigenposition Italiens gegenüber Brüssel stärken sollte. Statt über Europa mit den beiden Mächten zu korrespondieren, suchte Berlusconi den direkten Weg – Italy First. Dass nur die Freundschaft mit Putin übrigblieb, lag nicht zuletzt daran, dass er mit Barack Obama nicht dasselbe Verhältnis aufbauen konnte. Berlusconi konnte sich auf der Seite der Bush-Administration als treuer Verteidiger der US-Hegemonie betätigen und gleichzeitig Deals mit den Russen einfädeln, aber die linksideologische Wende der Obama-Ära blieb ihm fremd.

Dies ist nur eines der wenig beschriebenen Kapitel der Ära Berlusconi. Dazu gehört auch die ambivalente Kooperation mit Libyens Diktator Muammar Gaddafi. Der Westen hat sich darüber einerseits amüsiert, anderseits den moralischen Zeigefinger erhoben. Dabei war Berlusconis Stabilisierung des libyschen Regimes von realpolitischen, italienischen Erwägungen geleitet. Einerseits bekamen italienische Firmen profitable Aufträge verliehen; Rom konnte sich zugleich energetisch auf Jahre absichern. Andererseits übernahm Tripolis die Drecksarbeit in der Migrationsfrage. Auch deswegen hielt Berlusconi dem Diktator bis zuletzt die Stange, während die westlichen Verbündeten im Jahr 2011 die Militärintervention beschlossen. Zähneknirschend schlug sich der Cavaliere erst im letzten Moment auf die Seite der Alliierten, von der Befürchtung geleitet, am Ende komplett leer auszugehen.

Das Jahr 2011 begann mit einer Demontage italienischer Interessen von französischer Seite und setzte sich als solches fort. Das Narrativ der Gegenwart lautet – und wird derzeit neuerlich verbreitet – Italien habe sich 2011 am Scheitelpunkt einer wirtschaftlichen, politischen und moralischen Krise befunden, in der Berlusconi zuletzt zurücktreten musste. Ironischerweise war damals nicht nur die Staatsverschuldung Italiens geringer, sondern auch eine ganze Reihe weiterer wirtschaftlicher Indikatoren besser. Doch zuletzt wurde insbesondere ab Herbst das Bild aufgebaut, Italien befände sich kurz vor dem Abgrund. Hauptverantwortlicher: eben jener Mann, der es als einziger seit Jahrzehnten geschafft hatte, das notorisch instabile Land wenigstens für eine Legislatur stabil zu halten.

Wer etwa die Krise 2011 zu einem Scheitelpunkt erklärt, in der Berlusconis Demission unausweichlich war, macht sich keinerlei Vorstellungen darüber, unter welchen Umständen Berlusconi Anfang der 1990er zum ersten Mal an die Macht kam: damals löste sich das gesamte politische System aufgrund eines Korruptionsskandals auf, in dem die tonangebende sozialistische und christdemokratische Partei gefangen waren. Eine ähnliche Krise wollte man 2011 inszenieren. „Man“, das waren: die EU, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy mit Unterstützung der EZB.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: zwei ausländische Regierungschefs übten Druck auf einen demokratisch legitimierten und gewählten Ministerpräsidenten eines dritten Landes aus, dass dieser zurückzutreten solle. Begleitet von einem bösen EZB-Brief aus der Feder Mario Draghis, der Berlusconi Jahre später beerben sollte. Was im Herbst 2011 passierte, war nicht etwa eine um das Wohl Italiens bemühte Intervention der wohlwollenden Miteuropäer, sondern eine kalte Entmachtung und Installation eines neuen Statthalters. In den Augen weiter Teile der europäischen Gesellschaft mag Berlusconi ein lügender Lustmolch gewesen sein. Seine Demontage und was sie aus Sicht des Machtgefüges der EU bedeutet, ist hingegen ein Lehrstück.

— Xavier D'Arcy (@xadarcy) June 12, 2023

Die Mär, die Italiener liebten Berlusconi, weil er den Staat betrog, und sich viele mit dieser Position gemein machten, ist eine Mär; vielmehr glaubte eine nicht geringe Zahl von Berlusconi-Wählern bis zuletzt, dass der Erfolg des Unternehmers Berlusconi für sich selbst steht und ein Indiz für einen ehrlichen Geschäftsmann sein muss, den nur böse Mächte zu verleumden suchten. In Italien, wo das Parteienkartell deutlich etatistischer als in Deutschland ausgeprägt ist, gehörte Berlusconi zu den einzigen Politikern, die für Bürokratieabbau standen. Und trotz aller Unkenrufe gilt seine Regierungszeit als eine, in der es Italien wirtschaftlich gut ging.

Das „bessere Italien“ vor Berlusconi, das interessierte Kreise konstruieren, hat es nie gegeben. Es waren schlicht andere Politiker korrupt, machtversessen und in Sex-Skandale involviert. Weil Berlusconi nicht Ursache der Missstände ist, sondern Geschöpf der Missstände. In ihm sahen die Italiener in den 1990ern und 2000ern die Lösung, nicht die Fortsetzung der Probleme. Wer glaubt, Berlusconi sei der Gipfel der Miseren des Belpaese, hat sich noch niemals mit der Personalie Giulio Andreotti beschäftigt, der immerhin siebenmal Ministerpräsident war und dessen Verstrickungen im Film „Il Divo“ von Paolo Sorrentino eine Verewigung erfahren haben.

Das mag Berlusconi vielleicht nicht retten. Und es wird ihm auch sicher nicht der Ruf in den Geschichtsbüchern verleihen, ein fähiger Regierungschef gewesen zu sein. Man sollte jedoch gerechterweise darauf blicken, was die Alternative zu Berlusconi war. Nach seinem Sturz folgte eine linke Regierung auf die nächste. Jede davon orientierte sich mehr an Brüssel, denn an Rom – sieht man von dem kurzen Intermezzo aus M5S und Lega ab. Den Italienern geht es seitdem nicht besser. Im Gegenteil: nicht Berlusconi, sondern dessen Nachfolger Mario Monti gilt heute als eine der meistgehassten Gestalten im Land, obwohl die Presse immer wieder betont, dass der eine Fluch, der andere Segen gewesen sei.

Man mag gerne glauben, dass Berlusconi an jeder Krise in Italien seit dem Ende der Punischen Kriege verantwortlich ist, auch an denen der letzten zehn Jahre, in denen die Forza Italia von einer Volkspartei zur Kleinpartei abstieg. Angesichts der Situation Italiens der letzten Jahre erscheint die Regierungszeit Berlusconis jedoch wie eine verlorene „gute, alte Zeit“.

Das hängt nicht nur mit Nostalgie oder Desinformation zusammen. Schuld und Versagen auf eine einzelne Person abzuwälzen ist einfacher, als ein systemisches Versagen zu konstatieren. Er war vielleicht nicht der Ministerpräsident, den Italien verdiente, aber er war der Ministerpräsident, der dem Land noch Schlimmeres ersparte, solange er am Ruder stand. Das passt weder mit dem megalomanischen Anspruch des Cavaliere zusammen noch mit den Tiraden seiner Gegner. Es ist aber wohl jene Mitte, in der die Wahrheit zu suchen ist.

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